OGH 10ObS97/22w

OGH10ObS97/22w22.11.2022

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen durch den Vizepräsidenten Univ‑Prof. Dr. Neumayr als Vorsitzenden, den Hofrat Mag. Ziegelbauer und die Hofrätin Dr. Faber sowie die fachkundigen Laienrichter Mag. Andreas Deimbacher (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Robert Hauser (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei C*, vertreten durch Schwarz Schönherr Rechtsanwälte KG in Wien, gegen die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt, 1021 Wien, Friedrich-Hillegeist‑Straße 1, wegen Alterspension, infolge der Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen vom 26. Mai 2020, GZ 9 Rs 112/19 k‑18, womit das Urteil des Arbeits‑ und Sozialgerichts Wien vom 26. März 2019, GZ 31 Cgs 38/18g‑15, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2022:010OBS00097.22W.1122.000

Rechtsgebiet: Zivilrecht

Fachgebiete: Sozialrecht, Unionsrecht

 

Spruch:

I. Das Verfahren vor dem Obersten Gerichtshof wird fortgesetzt.

II. Der Revision wird Folge gegeben.

Die Urteile der Vorinstanzen werden dahin abgeändert, dass die Entscheidung zu lauten hat:

„1. Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei ab dem 1. November 2017 eine Alterspension in Höhe von 1.184,83 EUR brutto monatlich mit den seither erfolgten Pensionsanpassungen abzüglich geleisteter Zahlungen zu zahlen.

2. Die beklagte Partei ist schuldig, der Klägerin die mit 1.119,50 EUR bestimmten Kosten des Verfahrens (darin enthalten 186,58 EUR USt) binnen 14 Tagen zu ersetzen.“

Die beklagte Partei ist schuldig, der Klägerin die mit 609,67 EUR bestimmten Kosten des Berufungsverfahrens (darin enthalten 101,61 EUR USt) und die mit 1.979,74 EUR bestimmten Kosten des Revisionsverfahrens einschließlich des Verfahrens vor dem Gerichtshof der Europäischen Union (darin enthalten 329,96 EUR USt) binnen 14 Tagen zu ersetzen.

 

Begründung:

[1] Die Klägerin wurde * 1957 geboren. Sie erwarb im Zeitraum von 1. 9. 1972 bis 31. 10. 2017 in der österreichischen Pensionsversicherung 366 Versicherungs-monate (200 Beitragsmonate der Pflichtversicherung aufgrund einer Erwerbstätigkeit nach dem ASVG; 137 Beitragsmonate der Pflichtversicherung aufgrund einer Erwerbstätigkeit nach dem GSVG; 29 Monate an Ersatzzeiten, darunter ein Monat einer Ersatzzeit aufgrund der Kindererziehung [Jänner 1993]).

[2] Die Klägerin war zunächst von 4. 10. 1976 bis 28. 8. 1977 als Lehrling in Österreich beschäftigt. Nach ihrem Studium erwarb sie von 1. 1. 1982 bis 30. 9. 1986 weitere 57 Beitragsmonate der Pflichtversicherung aufgrund einer selbständigen Erwerbstätigkeit in Österreich.

[3] Ab Oktober 1986 begab sich die Klägerin in das Vereinigte Königreich und absolvierte dort ein Studium. Anfang November 1987 übersiedelte sie nach Belgien. In Belgien gebar sie am 5. 12. 1987 und am 23. 2. 1990 zwei Söhne. Sie hielt sich mit den Kindern zunächst in Belgien, dann von 5. 12. 1991 bis 31. 12. 1991 in Ungarn und schließlich von 1. 1. 1993 bis 8. 2. 1993 im Vereinigten Königreich auf. Von 5. 12. 1987 bis 8. 2. 1993 betreute und erzog die Klägerin ihre Kinder. Sie ging keiner Erwerbstätigkeit nach und erwarb weder im Vereinigten Königreich noch in Belgien oder in Ungarn Versicherungszeiten in der Pensionsversicherung. Die Klägerin erhielt in diesem Zeitraum auch keine Leistung aufgrund Kindererziehung oder ‑betreuung.

[4] Am 8. 2. 1993 kehrte die Klägerin nach Österreich zurück, wo sie in weiterer Folge unselbständig und selbständig erwerbstätig war und bis Oktober 2017 Versicherungszeiten aufgrund einer Erwerbstätigkeit in der Pensionsversicherung erwarb.

[5] Mit Bescheid vom 29. 12. 2017 anerkannte die beklagte Pensionsversicherungsanstalt den Anspruch der Klägerin auf Alterspension ab 1. 11. 2017 und sprach aus, dass die Pension ab 1. 11. 2017 monatlich 1.079,15 EUR betrage.

[6] Mit ihrer gegen diesen Bescheid gerichteten Klage begehrt die Klägerin die Zuerkennung einer höheren Alterspension durch Anerkennung ihrer Kindererziehungs-zeiten für den Zeitraum von 5. 12. 1987 bis 31. 1. 1993 als Ersatzzeiten im Sinn des § 227a ASVG bzw § 116a GSVG. Für die Berechnung der Pension seien auch die in anderen Mitgliedstaaten zurückgelegten Kindererziehungszeiten heranzuziehen.

[7] Die Beklagte wandte ein, dass eine Anrechnung ausländischer Kindererziehungszeiten nach Art 44 DVO (EG) 987/2009 nicht in Frage komme, weil die Klägerin nicht unmittelbar vor Beginn der Kindererziehung eine Erwerbstätigkeit ausgeübt habe und die Kindererziehung in Mitgliedstaaten stattgefunden habe, die eine Anrechnung von Kindererziehungszeiten dem Grunde nach vorsehen.

[8] Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab, weil die Voraussetzungen des Art 44 DVO (EG) 987/2009 für die Anrechnung von in einem anderen Mitgliedstaat zurückgelegten Kindererziehungszeiten nicht vorlägen.

[9] Das Berufungsgericht gab der Berufung der Klägerin nicht Folge. Es vertrat die Rechtsansicht, dass es sich bei Art 44 DVO (EG) 987/2009 um eine gemäß Art 21 AEUV zulässige Beschränkung der Freizügigkeit der Unionsbürger handle.

[10] Gegen diese Entscheidung richtet sich die von der Beklagten nicht beantwortete Revision der Klägerin, mit der sie die Stattgebung der Klage anstrebt.

Rechtliche Beurteilung

[11] Die Revision ist zulässig und berechtigt.

[12] 1.1 Mit Beschluss vom 13. 10. 2020, 10 ObS 109/20g, legte der Oberste Gerichtshof aus Anlass der Revision dem Gerichtshof der Europäischen Union folgende Fragen zur Vorabentscheidung vor:

„1. Ist Art 44 Abs 2 der Verordnung (EG) Nr 987/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. September 2009 zur Festlegung der Modalitäten für die Durchführung der Verordnung (EG) Nr 883/2004 über die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit dahin auszulegen, dass er der Berücksichtigung von in anderen Mitgliedstaaten verbrachten Kindererziehungszeiten durch einen für die Gewährung einer Alterspension zuständigen Mitgliedstaat, nach dessen Rechtsvorschriften die Pensionswerberin mit Ausnahme dieser Kindererziehungszeiten ihr gesamtes Erwerbsleben hindurch eine Beschäftigung oder eine selbständige Erwerbstätigkeit ausgeübt hat, schon deshalb entgegensteht, weil diese Pensionswerberin zu dem Zeitpunkt, zu dem die Berücksichtigung der Kindererziehungszeit für das betreffende Kind nach den Rechtsvorschriften dieses Mitgliedstaats begann, weder eine Beschäftigung noch eine selbständige Erwerbstätigkeit ausgeübt hat?

Für den Fall der Verneinung der ersten Frage:

2. Ist Art 44 Abs 2 Satz 1 erster Halbsatz der Verordnung (EG) Nr 987/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. September 2009 zur Festlegung der Modalitäten für die Durchführung der Verordnung (EG) Nr 883/2004 über die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit dahin auszulegen, dass der gemäß Titel II der Verordnung (EG) Nr 883/2004 über die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit zuständige Mitgliedstaat Kindererziehungszeiten nach seinen Rechtsvorschriften generell nicht berücksichtigt, oder nur in einem konkreten Fall nicht berücksichtigt?“

[13] 1.2 Der Gerichtshof der Europäischen Union hat mit Urteil vom 7. 7. 2022, C‑576/20 , ECLI:EU:C:2022:525, Pensionsversicherungsanstalt (Périodes d'éducation d'enfants à l'étranger), wie folgt zu Recht erkannt (siehe ZESAR 2022, 515 [Schiebsdat]):

„Art. 44 Abs. 2 der Verordnung (EG) Nr. 987/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. September 2009 zur Festlegung der Modalitäten für die Durchführung der Verordnung (EG) Nr 883/2004 über die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit ist dahin auszulegen, dass, wenn die betreffende Person die in dieser Bestimmung aufgestellte Voraussetzung der Ausübung einer Beschäftigung oder selbständigen Erwerbstätigkeit für die Berücksichtigung von in anderen Mitgliedstaaten zurückgelegten Kindererziehungszeiten bei der Gewährung einer Altersrente durch den zur Zahlung dieser Rente verpflichteten Mitgliedstaat nicht erfüllt, dieser Mitgliedstaat nach Art. 21 AEUV verpflichtet ist, diese Zeiträume zu berücksichtigen, sofern diese Person ausschließlich in diesem Mitgliedstaat gearbeitet und Beiträge entrichtet hat, und zwar sowohl vor als auch nach der Verlegung ihres Wohnsitzes in einen anderen Mitgliedstaat, in dem sie diese Zeiten zurückgelegt hat.“

[14] 1.3 Begründend führte der EuGH aus, dass das Ziel, den Grundsatz der Freizügigkeit gemäß Art 21 AEUV zu wahren, auch im Rahmen der VO (EG) 883/2004 und der DVO (EG) 987/2009 gilt (Rn 51). Art 44 DVO (EG) 987/2009 regelt die Berücksichtigung von Kindererziehungszeiten, die ein und dieselbe Person in mehreren Mitgliedstaaten zurücklegt, nicht abschließend (Rn 55). Die Rechtsprechung, die auf das Urteil Reichel‑Albert zurückgeht (C‑522/10 , EU:C:2012:475), kann auf eine Situation wie im vorliegenden Verfahren übertragen werden (Rn 56 ff), der Sachverhalt ist vergleichbar (Rn 63). Die Klägerin hat ausschließlich im pensionszahlungspflichtigen Mitgliedstaat, nämlich Österreich, gearbeitet und Beiträge entrichtet, und zwar sowohl vor als auch nach ihrem Umzug nach Belgien und Ungarn, wo sie sich der Erziehung ihrer Kinder gewidmet hat. Sie hat zum maßgeblichen Zeitpunkt für die Berücksichtigung ihrer Kindererziehungszeiten zur Gewährung einer Alterspension in Österreich keine Beschäftigung oder selbständige Erwerbstätigkeit in diesem Mitgliedstaat ausgeübt. Zwischen den von der Klägerin im Ausland zurückgelegten Kindererziehungszeiten und den aufgrund der Ausübung einer Erwerbstätigkeit in Österreich erworbenen Versicherungszeiten besteht daher eine hinreichende Verbindung. Folglich ist davon auszugehen, dass die österreichischen Rechtsvorschriften für die Berücksichtigung und Anrechnung dieser Zeiten im Hinblick auf die Gewährung der Alterspension anzuwenden sind (Rn 63). Hätte die Klägerin Österreich nicht verlassen, wären die Kindererziehungszeiten bei der Berechnung ihrer österreichischen Alterspension berücksichtigt worden. Die Klägerin war daher nur deshalb benachteiligt, weil sie von ihrem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch gemacht hat, was gegen Art 21 AEUV verstößt (Rn 64).

[15] 2.1 Damit ist im fortzusetzenden Verfahren klargestellt, dass Österreich dazu verpflichtet ist, die im Ausland verbrachten Kindererziehungszeiten der Klägerin gemäß Art 21 AEUV für die Gewährung der Alterspension zu berücksichtigen (C‑576/20 , Rn 65).

[16] 2.2 Die Beklagte hat die Höhe des Pensionsanspruchs der Klägerin auf Grundlage von gesamt 426 Versicherungsmonaten (daher von 60 weiteren Monaten an Ersatzzeiten für Kindererziehung) mit 1.184,83 EUR brutto errechnet (Beil ./6). Die Klägerin hat dazu vorgebracht, dass die der Berechnung zugrunde gelegten Versicherungsmonate ihrem Vorbringen entsprechen und die Berechnung der Beklagten daher zugrunde gelegt werden könne. Dies führt zur Stattgebung der Klage.

[17] Die Entscheidung über die Kosten des Verfahrens einschließlich der Kosten des Vorabentscheidungsverfahrens beruht auf § 77 Abs 1 Z 2 lit a ASGG. Bemessungsgrundlage ist nach § 77 Abs 2 ASGG ein Betrag von 3.600 EUR.

[18] Bei einer Klage in einer Sozialrechtssache nach § 65 Abs 1 Z 1 ASGG handelt es sich nicht um einen Fall des § 23 Abs 6 RATG, sodass nur der einfache Einheitssatz zuzusprechen ist (RIS‑Justiz RS0072316). Die aufgrund der Verhinderung des Klagevertreters eingebrachte Vertagungsbitte vom 30. 5. 2018 war zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung nicht notwendig (RS0121621).

[19] Für die Berufung der Klägerin gebührt ein ERV‑Zuschlag gemäß § 23a RATG lediglich in Höhe von 2,10 EUR (RS0126594 [T1]). Pauschalgebühren sind gemäß § 80 ASGG in Sozialrechtssachen nicht zu entrichten.

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