European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2020:010OBS00109.20G.1013.000
Spruch:
A. Dem Gerichtshof der Europäischen Union wird folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt:
1. Ist Art 44 Abs 2 der Verordnung (EG) Nr 987/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. September 2009 zur Festlegung der Modalitäten für die Durchführung der Verordnung (EG) Nr 883/2004 über die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit dahin auszulegen, dass er der Berücksichtigung von in anderen Mitgliedstaaten verbrachten Kindererziehungszeiten durch einen für die Gewährung einer Alterspension zuständigen Mitgliedstaat, nach dessen Rechtsvorschriften die Pensionswerberin mit Ausnahme dieser Kindererziehungszeiten ihr gesamtes Erwerbsleben hindurch eine Beschäftigung oder eine selbständige Erwerbstätigkeit ausgeübt hat, schon deshalb entgegensteht, weil diese Pensionswerberin zu dem Zeitpunkt, zu dem die Berücksichtigung der Kindererziehungszeit für das betreffende Kind nach den Rechtsvorschriften dieses Mitgliedstaats begann, weder eine Beschäftigung noch eine selbständige Erwerbstätigkeit ausgeübt hat?
Für den Fall der Verneinung der ersten Frage:
2. Ist Art 44 Abs 2 Satz 1 erster Halbsatz der Verordnung (EG) Nr 987/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. September 2009 zur Festlegung der Modalitäten für die Durchführung der Verordnung (EG) Nr 883/2004 über die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit dahin auszulegen, dass der gemäß Titel II der Verordnung (EG) Nr 883/2004 über die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit zuständige Mitgliedstaat Kindererziehungszeiten nach seinen Rechtsvorschriften generell nicht berücksichtigt, oder nur in einem konkreten Fall nicht berücksichtigt?
B. Das Verfahren vor dem Obersten Gerichtshof wird bis zum Einlangen der Vorabentscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union gemäß § 90a GOG ausgesetzt.
Begründung:
[1] I. Verfahrensgegenstand und Sachverhalt:
[2] Frau CC wurde im Jahr 1957 geboren. Sie erwarb von 4. 10. 1976 bis 28. 8. 1977 11 Beitragsmonate der Pflichtversicherung als Lehrling in Österreich. Nach ihrem Studium erwarb sie von 1. 1. 1982 bis 30. 9. 1986 weitere 57 Beitragsmonate der Pflichtversicherung aufgrund einer selbständigen Erwerbstätigkeit in Österreich.
[3] Ab Oktober 1986 begab sich Frau CC in das Vereinigte Königreich und absolvierte dort ein Studium. Anfang November 1987 übersiedelte sie nach Belgien. In Belgien gebar sie am 5. 12. 1987 einen Sohn und am 23. 2. 1990 einen weiteren Sohn. Sie hielt sich in weiterer Folge mit den Kindern zunächst in Belgien, dann von 5. 12. 1991 bis 31. 12. 1991 in Ungarn und schließlich von 1. 1. 1993 bis 8. 2. 1993 im Vereinigten Königreich auf. Von 5. 12. 1987 bis 8. 2. 1993 betreute und erzog Frau CC ihre Kinder. Sie ging keiner Erwerbstätigkeit nach und erwarb weder im Vereinigten Königreich noch in Belgien noch in Ungarn Versicherungszeiten in der Pensionsversicherung. Frau CC erhielt in diesem Zeitraum auch keine Leistung aufgrund Kindererziehung oder ‑betreuung.
[4] Am 8. 2. 1993 kehrte Frau CC nach Österreich zurück, wo sie in weiterer Folge unselbständig und selbständig erwerbstätig war und bis Oktober 2017 Versicherungszeiten aufgrund einer Erwerbstätigkeit in der Pensionsversicherung erwarb.
[5] II. Unionsrechtliche Grundlagen:
[6] Verordnung (EG) Nr 987/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. September 2009 zur Festlegung der Modalitäten für die Durchführung der Verordnung (EG) Nr 883/2004 über die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (in der Folge: DVO 987/2009 ):
„ Artikel 44
Berücksichtigung von Kindererziehungszeiten
(1) Im Sinne dieses Artikels bezeichnet der Ausdruck „Kindererziehungszeit“ jeden Zeitraum, der im Rahmen des Rentenrechts eines Mitgliedstaats ausdrücklich aus dem Grund angerechnet wird oder Anrecht auf eine Zulage zu einer Rente gibt, dass eine Person ein Kind aufgezogen hat, unabhängig davon, nach welcher Methode diese Zeiträume berechnet werden und unabhängig davon, ob sie während der Erziehungszeit anfallen oder rückwirkend anerkannt werden.
(2) Wird nach den Rechtsvorschriften des gemäß Titel II der Grundverordnung zuständigen Mitgliedstaats keine Kindererziehungszeit berücksichtigt, so bleibt der Träger des Mitgliedstaats, dessen Rechtsvorschriften nach Titel II der Grundverordnung auf die betreffende Person anwendbar waren, weil diese Person zu dem Zeitpunkt, zu dem die Berücksichtigung der Kindererziehungszeit für das betreffende Kind nach diesen Rechtsvorschriften begann, eine Beschäftigung oder eine selbständige Erwerbstätigkeit ausgeübt hat, zuständig für die Berücksichtigung dieser Zeit als Kindererziehungszeit nach seinen eigenen Rechtsvorschriften, so als hätte diese Kindererziehung in seinem eigenen Hoheitsgebiet stattgefunden.
(3) Absatz 2 findet keine Anwendung, wenn für die betreffende Person die Rechtsvorschriften eines anderen Mitgliedstaats aufgrund der Ausübung einer Beschäftigung oder einer selbständigen Erwerbstätigkeit anwendbar sind oder anwendbar werden.“
[7] III. Nationales Recht:
[8] A) Allgemeines Pensionsgesetz, BGBl I 2004/142 (APG):
„ Alterspension, Anspruch
§ 4. (1) Anspruch auf Alterspension hat die versicherte Person nach Vollendung des 65. Lebensjahres (Regelpensionsalter), wenn bis zum Stichtag (§ 223 Abs. 2 ASVG) mindestens 180 Versicherungsmonate nach diesem oder einem anderen Bundesgesetz vorliegen, von denen mindestens 84 auf Grund einer Erwerbstätigkeit erworben wurden (Mindestversicherungszeit). …
Alterspension, Ausmaß
§ 5. (1) Das Ausmaß der monatlichen Bruttoleistung ergibt sich – unbeschadet eines besonderen Steigerungsbetrages nach den §§ 248 Abs. 1 ASVG, 141 Abs. 1 GSVG und 132 Abs. 1 BSVG – aus der bis zum Stichtag (§ 223 Abs. 2 ASVG) ermittelten Gesamtgutschrift (§ 11 Z 5) geteilt durch 14. …
…
§ 16. … (3a) Für die Erfüllung der Mindestversicherungszeit nach § 4 Abs. 1 gelten als Versicherungsmonate auch Ersatzzeiten der Kindererziehung nach den §§ 227a ASVG, 116a GSVG und 107a BSVG, die vor dem 1. Jänner 2005 erworben wurden.
(6) Abweichend von § 4 Abs. 1 bestimmt sich das Anfallsalter für weibliche Versicherte, die das 60. Lebensjahr vor dem 1. Jänner 2024 vollenden, nach § 253 Abs. 1 ASVG (§ 130 Abs. 1 GSVG, § 121 Abs. 1 BSVG); …“
[9] B) Allgemeines Sozialversicherungsgesetz, BGBl 1955/189 (ASVG):
„ Versicherungszeiten
§ 224. Unter Versicherungszeiten sind die in den §§ 225 und 226 angeführten Beitragszeiten und die in den §§ 227, 227a, 228, 228a und 229 angeführten Ersatzzeiten zu verstehen.
…
Ersatzzeiten für Zeiten der Kindererziehung aus der Zeit nach dem 31. Dezember 1955 und vor dem 1. Jänner 2005
§ 227a. (1) Als Ersatzzeiten aus der Zeit nach dem 31. Dezember 1955 und vor dem 1. Jänner 2005 gelten überdies in dem Zweig der Pensionsversicherung, in dem die letzte vorangegangene Beitragszeit bzw beim Fehlen einer solchen, in dem die erste nachfolgende Beitragszeit vorliegt, bei einer (einem) Versicherten, die (der) ihr (sein) Kind (Abs. 2) tatsächlich und überwiegend erzogen hat, die Zeit dieser Erziehung im Inland im Ausmaß von höchstens 48 Kalendermonaten, gezählt ab der Geburt des Kindes. Im Fall einer Mehrlingsgeburt verlängert sich diese Frist auf 60 Kalendermonate.
(2) Als Kind im Sinne des Abs. 1 gelten:
1. die Kinder der versicherten Person;
…
(3) Liegt die Geburt (Annahme an Kindes Statt, Übernahme der unentgeltlichen Pflege des Kindes) eines weiteren Kindes vor dem Ablauf der 48‑Kalendermonate‑Frist (60‑Kalendermonate‑Frist), so erstreckt sich diese nur bis zu dieser neuerlichen Geburt (Annahme an Kindes Statt, Übernahme der unentgeltlichen Pflege des Kindes); …
(4) Anspruch für ein und dasselbe Kind besteht in den jeweiligen Zeiträumen nur für die Person, die das Kind tatsächlich und überwiegend erzogen hat. …
…
(8) Für jeden Ersatzmonat auf Grund der Erziehung eines Wahl‑ oder Pflegekindes (Abs. 2 Z 5 und 6) ist aus Mitteln des Ausgleichsfonds für Familienbeihilfen ein Beitrag in der Höhe von 22,8 % der Beitragsgrundlage zu entrichten. Beitragsgrundlage für den Kalendertag ist der Betrag nach § 76b Abs. 4 in der am 31. Dezember 2014 geltenden Fassung.“
[10] § 116a GSVG ist im Wesentlichen eine Parallelbestimmung zu § 227a ASVG.
[11] IV. Vorbringen und Anträge der Parteien:
[12] Frau CC beantragte am 11. 10. 2017 bei der beklagten Pensionsversicherungsanstalt (in der Folge: PVA) die Zuerkennung einer Alterspension.
[13] Die PVA erkannte Frau CC mit Bescheid vom 29. 12. 2017 eine Alterspension in Höhe von monatlich 1.079,15 EUR ab 1. 11. 2017 zu. Die PVA legte der Berechnung der Pension 366 in Österreich erworbene Versicherungsmonate zugrunde, darunter 14 Monate an Ersatzzeiten für Kindererziehung von Jänner 1993 bis Februar 1994.
[14] Mit ihrer gegen diesen Bescheid gerichteten Klage begehrt Frau CC die Zuerkennung einer höheren Alterspension. Für die Berechnung dieser Pension seien auch die Zeiten der Kindererziehung in den Mitgliedstaaten Vereinigtes Königreich, Belgien und Ungarn von 5. 12. 1987 bis 31. 1. 1993 (62 Monate) als Ersatzzeiten zugrunde zu legen.
[15] Die PVA hielt dem entgegen, dass eine Anrechnung ausländischer Kindererziehungszeiten nach Art 44 DVO 987/2009 nicht in Frage komme, weil Frau CC nicht unmittelbar vor Beginn der Kindererziehung eine Erwerbstätigkeit ausgeübt habe und die Kindererziehung in Mitgliedstaaten stattgefunden habe, die eine Anrechnung von Kindererziehungszeiten dem Grunde nach vorsehen.
[16] V. Bisheriges Verfahren:
[17] Das Gericht erster Instanz (Arbeits‑ und Sozialgericht Wien) wies das Klagebegehren ab, weil die Voraussetzungen des Art 44 DVO 987/2009 für die Anrechnung von in einem anderen Mitgliedstaat zurückgelegten Kindererziehungszeiten nicht vorlägen.
[18] Das Gericht zweiter Instanz (Oberlandesgericht Wien) bestätigte dieses Urteil. Es vertrat die Rechtsansicht, dass es sich bei Art 44 DVO 987/2009 um eine gemäß Art 21 AEUV zulässige Beschränkung der Freizügigkeit der Unionsbürger handle.
[19] Gegen diese Entscheidung erhob Frau CC Revision an den Obersten Gerichtshof. Sie beantragt, ihrer Klage stattzugeben. Die PVA beteiligte sich nicht am Revisionsverfahren.
Rechtliche Beurteilung
[20] VI. Begründung der Vorlagefrage:
[21] Zur ersten Frage:
[22] Aus Art 97 DVO 987/2009 und Art 91 Verordnung (EG) Nr 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (in der Folge: VO 883/2004 ) ergibt sich, dass diese Verordnungen sowohl im Zeitpunkt der Antragstellung auf Zuerkennung einer Alterspension (11. 10. 2017) als auch im Zeitpunkt der Erlassung des angefochtenen Becheids der PVA (29. 12. 2017) bereits in Kraft waren. Sie sind daher im vorliegenden Fall nach Ansicht des Obersten Gerichtshofs in zeitlicher Hinsicht anwendbar (EuGH C‑522/10, Reichel‑Albert , ECLI:EU:C:2012:475, Rn 26 ff). Aus Art 2 Abs 1 und Art 3 Abs 1 lit d VO 883/2004 ergibt sich, dass der persönliche und sachliche Anwendungsbereich dieser Verordnung für Frau CC eröffnet ist.
[23] Das Arbeits‑ und Sozialgericht Wien hielt zutreffend fest, dass der Jänner 1993 – als sich Frau CC mit den Söhnen im Vereinigten Königreich aufhielt, ehe sie nach Österreich zurückging, wo sie ab Februar 1993 erwerbstätig war – von der PVA als Ersatzzeit für Kindererziehung nach dem ASVG anerkannt wurde. Von Bedeutung für das Verfahren sind daher im Wesentlichen die von Frau CC in Belgien (und ein Monat in Ungarn) zurückgelegten Kindererziehungszeiten von Dezember 1987 bis Dezember 1992. In diesem Zeitraum war noch nicht die VO 883/2004 , sondern ihre Vorgängerin, die Verordnung (EWG) Nr 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und deren Familien, die innerhalb der Gemeinschaft zu‑ und abwandern (in der Folge: VO 1408/71 ), anwendbar. Nach Ansicht des Obersten Gerichtshofs sind diese Zeiten für die Feststellung des Leistungsanspruchs von Frau CC jedoch gemäß Art 87 Abs 2 und Abs 3 VO 883/2004 zu berücksichtigen (ebenso zu Art 94 Abs 2 und 3 VO 1408/71 EuGH C‑28/00, Kauer , ECLI:EU:C:2002:82, Rn 22–24).
[24] Damit sich im vorliegenden Fall eine Zuständigkeit Österreichs für die Anrechnung der von Frau CC in Belgien und Ungarn zurückgelegten Kindererziehungszeiten für ihren Anspruch auf Alterspension überhaupt ergeben könnte, müssten die Voraussetzungen des Art 44 DVO 987/2009 erfüllt sein (siehe dazu die Schlussanträge des Generalanwalts Jääskinen in der Rs C‑522/10, Reichel‑Albert , ECLI:EU:C:2012:114, Rn 62 ff). Die Voraussetzung des Art 44 Abs 3 DVO 987/2009 ist nicht erfüllt, weil Frau CC weder in Belgien noch in Ungarn eine Beschäftigung oder selbständige Erwerbstätigkeit ausübte. Selbst unter der Annahme, dass im vorliegenden Fall weder Belgien noch Ungarn (als jeweils zuständige Wohnmitgliedstaaten gemäß Art 11 Abs 3 lit e VO 883/2004 ) Kindererziehungszeiten berücksichtigen (Art 44 Abs 2 Satz 1 DVO 987/2009 ), käme eine nachrangige Zuständigkeit Österreichs nach Art 44 Abs 2 Satz 2 DVO 987/2009 nicht in Frage, weil Frau CC im Dezember 1987 (das ist der Zeitpunkt, zu dem die Berücksichtigung der Kindererziehungszeit für ihren ersten Sohn begann) weder eine Beschäftigung noch eine selbständige Erwerbstätigkeit in Österreich ausübte.
[25] Daher stellt sich für den Obersten Gerichtshof die Frage nach der Auslegung des Art 44 DVO 987/2009 , die dem Gerichtshof der Europäischen Union zur Vorabentscheidung vorzulegen ist.
[26] Möglicher Verstoß gegen das Primärrecht:
[27] Art 21 AEUV verbrieft den Unionsbürgern das Recht, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten vorbehaltlich der in den Verträgen und in den Durchführungsvorschriften vorgesehenen Beschränkungen und Bedingungen frei zu bewegen.
[28] Art 44 DVO 987/2009 wurde vom Unionsgesetzgeber als Reaktion auf die Rechtsprechung des Gerichtshofs in den Rechtssachen Elsen (EuGH C‑135/99, ECLI:EU:C:2000:647) und Kauer geschaffen, deren Anwendungsbereich eingegrenzt werden sollte (14. Erwägungsgrund zur DVO 987/2009 , Schlussanträge des GA Jääskinen , ECLI:EU:C:2012:114, Rn 3). Diese Bestimmung kann durchaus als eine das Freizügigkeitsrecht des Art 21 AEUV in zulässiger Weise einschränkende Durchführungsvorschrift angesehen werden. Dies ergibt sich schon daraus, dass die VO 883/2004 und die DVO 987/2009 keine Harmonisierung oder auch nur eine Annäherung, sondern lediglich eine Koordinierung der von den Mitgliedstaaten geschaffenen Systeme der sozialen Sicherheit bezwecken; die Versicherten können nicht verlangen, dass ihr Umzug in einen anderen Mitgliedstaat keine Auswirkungen auf die Art oder das Niveau der Leistung hat, die sie in ihrem Herkunftsstaat beanspruchen konnten (EuGH C‑134/18, Vester , ECLI:EU:C:2019:212, Rn 32 ua). Auch richtet sich gemäß Art 1 lit t VO 883/2004 die Frage, welche Zeiten als Versicherungszeiten anzuerkennen sind und welche Qualität ihnen zukommt, immer nach dem Recht des Staates, in dem diese Zeiten zurückgelegt werden (EuGH C‑548/11, Mulders , ECLI:EU:C:2013:249, Rn 37).
[29] Dagegen spricht jedoch, dass Frau CC – wie insbesondere auch Frau Kauer – ausschließlich in Österreich gearbeitet und Versicherungszeiten erworben hat, sodass argumentiert werden könnte, dass dieser Umstand eine hinreichende Verbindung zum österreichischen Sozialversicherungssystem aus primärrechtlichen Gründen schaffen kann (ECLI:EU:C:2002:82, Rn 32; ECLI:EU:C:2012:114, Rn 35). Zwar unterscheidet sich der vorliegende Sachverhalt von der Rechtssache Kauer : Denn anders als Frau Kauer war Frau CC nicht mehr in Österreich, als ihre Kinder geboren wurden. Hingegen ist der vorliegende Sachverhalt jenem der Rechtssache Reichel‑Albert vergleichbar. Diese entschied der Gerichtshof zwar noch auf Grundlage der VO 1408/71 , die keine dem Art 44 DVO 987/2009 vergleichbare Regelung enthielt. Er betonte jedoch das primärrechtliche Fundament seiner Entscheidung insbesondere durch den Hinweis, dass an der zu bejahenden hinreichenden Verbindung von Frau Reichel‑Albert zum deutschen Sozialversicherungssystem die erst 1991 geschaffene und daher noch nicht anwendbare Zuständigkeitsnorm des Art 13 Abs 2 lit f VO 1408/71 (vgl nunmehr: Art 11 Abs 3 lit e VO 883/2004 ) nichts ändern könnte, wonach während der Zeiten der Kindererziehung die Zuständigkeit Belgiens als Wohnsitzstaat gegeben gewesen wäre.
[30] Möglicher Verstoß gegen den unionsrechtlichen Grundsatz des Vertrauensschutzes:
[31] Da die VO 1408/71 keine dem Art 44 DVO 987/2009 vergleichbare Regelung enthielt und Frau CC die Kindererziehungszeiten im zeitlichen Anwendungsbereich dieser Verordnung zurücklegte, sprechen – ausgehend von der bereits dargestellten Rechtsprechung des Gerichtshofs – bei einer ersten Prüfung auch im vorliegenden Fall beachtliche Gründe dafür, belgische und ungarische Kindererziehungszeiten als nach österreichischem Recht zu prüfende Kindererziehungszeiten zu qualifizieren, weil im Anwendungsbereich der VO 1408/71 von einer hinreichenden Verbindung von Frau CC zum österreichischen Sozialversicherungssystem auszugehen wäre. Insofern hätte sich die Situation von Frau CC nach Inkrafttreten des Art 44 DVO 987/2009 mit 1. 5. 2010, daher lange nach Absolvierung der Kindererziehungszeiten, verschlechtert.
[32] Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs ist der Grundsatz des Vertrauensschutzes Teil der Unionsrechtsordnung und muss von den Mitgliedstaaten bei der Durchführung von Regelungen der Union beachtet werden (EuGH C‑62/00, Marks & Spencer, ECLI:EU:C:2002:435, Rn 44). Mit diesem Grundsatz steht es zwar prinzipiell im Einklang, dass eine neue Regelung auf die künftigen Folgen eines Sachverhalts, der unter der Geltung der früheren Regelung entstanden ist, angewandt wird. Dieser Grundsatz lässt es aber nicht zu, dass einem Berechtigten durch eine Änderung der anwendbaren Regelung rückwirkend ein auf der Grundlage der früheren Regelung erworbenes Recht genommen wird (EuGH C‑107/10, Enel Maritsa Iztok 3, ECLI:EU:C:2011:298, Rn 39). Dementsprechend sind die Vorschriften des materiellen Unionsrechts so auszulegen, dass sie für vor ihrem Inkrafttreten abgeschlossene Sachverhalte nur gelten, soweit aus ihrem Wortlaut, ihrer Zielsetzung oder ihrem Aufbau eindeutig hervorgeht, dass ihnen eine solche Wirkung beizumessen ist (EuGH C‑334/07 P, Kommission/Freistaat Sachsen, ECLI:EU:C:2008:709, Rn 44).
[33] Der Oberste Gerichtshof verkennt nicht, dass Art 44 DVO 987/2009 durchaus im Einklang mit dem Grundsatz des Vertrauensschutzes stehen kann, weil diese Bestimmung (nur) künftige Folgen – Erwerb und Höhe einer Alterspension – der vor ihrem Inkrafttreten erworbenen Kindererziehungszeiten regelt. Frau CC hat jedoch immer nur in das österreichische Sozialversicherungssystem Beiträge eingezahlt und war nur in Österreich erwerbstätig. Schon zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des Art 44 DVO 987/2009 bestand eine hinreichende Verbindung zum österreichischen Sozialversicherungssystem. Frau CC kann daher nach Ansicht des Obersten Gerichtshofs eine Vertrauensposition erworben haben, in die durch Art 44 DVO 987/2009 in einer den Grundsatz des Vertrauensschutzes verletzenden Weise eingegriffen wird.
[34] Zur zweiten Frage:
[35] Die PVA machte geltend, dass Frau CC die Kindererziehungszeiten in Staaten zurückgelegt habe, die eine Anrechnung von Kindererziehungszeiten dem Grunde nach vorsehen. Dazu fehlen bisher Verfahrensergebnisse. Damit stellt sich im Fall der Verneinung der ersten Frage die weitere Frage, was es bedeutet, wenn Art 44 Abs 2 erster Halbsatz DVO anordnet, dass der nach den Vorschriften des Titels II der VO 883/2004 zuständige Mitgliedstaat eine Kindererziehungszeit „berücksichtigt“. Darunter kann man einerseits verstehen, dass dieser Mitgliedstaat im konkreten Einzelfall keine Kindererziehungszeit anrechnet, oder dass dieser Staat ganz generell Kindererziehungszeiten im Katalog seiner Pensionsversicherungszeiten nicht kennt (Schlussanträge des GA Jääskinen , ECLI:EU:C:2012:114, Rn 67).
[36] VII. Aussetzung des Verfahrens:
[37] Der Ausspruch über die Aussetzung des Verfahrens beruht auf § 90a Abs 1 GOG.
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