OGH 1Ob169/22t

OGH1Ob169/22t22.11.2022

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten Dr. Musger als Vorsitzenden sowie die Hofräte und die Hofrätin Mag. Wurzer, Mag. Dr. Wurdinger, Mag. Wessely‑Kristöfel und Dr. Parzmayr als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei R*, vertreten durch Dr. Gerhard Wagner, Rechtsanwalt in Linz, gegen die beklagte Partei L*, vertreten durch Wildmoser/Koch & Partner Rechtsanwälte GmbH in Linz, wegen 28.000 EUR sA, über die Revision der klagenden Partei (Revisionsinteresse 23.000 EUR) gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Linz als Berufungsgericht vom 31. Mai 2022, GZ 4 R 76/22g‑16, mit dem das Urteil des Landesgerichts Linz vom 15. März 2022, GZ 31 Cg 5/21p‑12, bestätigt wurde, den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2022:0010OB00169.22T.1122.000

Rechtsgebiet: Zivilrecht

 

Spruch:

Die Revision wird zurückgewiesen.

Die beklagte Partei hat die Kosten ihrer Revisionsbeantwortung selbst zu tragen.

 

Begründung:

[1] Der Kläger ist seit 1994 in einem öffentlich‑rechtlichen Dienstverhältnis bei der Beklagten als Feuerwehrmann im Branddienst beschäftigt.

[2] Im Jahr 2012 stimmte er ausdrücklich einer Dienstplangestaltung zu, die zu einer durchschnittlichen wöchentlichen Höchstarbeitszeit von mehr als 48 Stunden pro Woche führte, insbesondere erklärte er sich bereit, aufgrund der Bereitschaftsdienste innerhalb eines Bezugszeitraums von einem Kalenderjahr im Durchschnitt 60 Stunden pro Woche zu arbeiten.

[3] Mit Eingabe vom Juli 2015 beantragte er bei der Dienstbehörde erster Instanz die Änderung seiner Arbeitszeit von 60 auf 48 Wochenstunden ab 1. 10. 2015. Dennoch blieb er bis 30. 11. 2016 im 60‑stündigen Schichtdienst eingeteilt.

[4] Der Kläger begehrte, soweit noch Gegenstand des Revisionsverfahrens, eine über die korrekte Bezahlung der geleisteten Arbeit hinausgehende Abgeltung in Höhe von 28.000 EUR dafür, dass er vom 1. 10. 2015 bis 30. 11. 2016 60 Stunden innerhalb eines Siebentagezeitraums habe arbeiten müssen.

[5] Das Erstgericht sprach dem Kläger, soweit hier von Relevanz, 5.000 EUR als immateriellen Schadenersatz zu und wies das Mehrbegehren ab. Der Zuspruch blieb unbekämpft.

[6] Das Berufungsgericht gab der gegen die Höhe des Betrags gerichteten Berufung des Klägers nicht Folge. Mit 5.000 EUR seien die mit dem erlittenen Freizeitverlust im Ausmaß von 732 Stunden verbundenen Beeinträchtigungen tatsächlich und wirksam ausgeglichen. Diese Entschädigung für die unzulässigerweise geforderten Arbeitsleistungen sei angemessen.

[7] Die ordentliche Revision sei zulässig, weil zu den Kriterien der Bemessung des immateriellen Schadenersatzes bei Verstoß gegen Art 6 lit b RL 2003/88/EG des Europäischen Rates vom 4. November 2013 über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung („Arbeitszeitrichtlinie“) keine höchstgerichtliche Rechtsprechung habe aufgefunden werden können.

Rechtliche Beurteilung

[8] Die Revision des Klägers ist entgegen diesem nicht bindenden Ausspruch des Berufungsgerichts nicht zulässig.

[9] 1. Nach Art 6 lit b RL 2003/88/EG treffen die Mitgliedstaaten die erforderlichen Maßnahmen, damit nach Maßgabe der Erfordernisse der Sicherheit und des Gesundheitsschutzes der Arbeitnehmer die durchschnittliche Arbeitszeit pro Siebentageszeitraum 48 Stunden einschließlich der Überstunden nicht überschreitet.

[10] 1.1. In der Entscheidung C‑429/09 , ECLI:EU:C:2010:717, Fuß/Halle, hat der EuGH festgehalten, dass ein Arbeitnehmer, der als Feuerwehrmann in einem zum öffentlichen Sektor gehörenden Einsatzdienst beschäftigt ist und als solcher eine durchschnittliche wöchentliche Arbeitszeit abgeleistet hat, die die in dieser Bestimmung vorgesehene wöchentliche Höchstarbeitszeit überschreitet, sich auf das Unionsrecht berufen kann, um die Haftung der Behörden des betreffenden Mitgliedstaats auszulösen und Ersatz des Schadens zu erlangen, der ihm durch den Verstoß gegen diese Bestimmung entstanden ist (Rn 63). Ein Verschulden des Arbeitgebers, das über eine hinreichend qualifizierte Verletzung des Unionsrechts hinausgeht, darf hierfür nicht verlangt werden. Ebenso wenig darf der Ersatzanspruch von einem Antrag auf Einhaltung der entsprechenden Bestimmung des Unionsrechts abhängig gemacht werden (Rn 70 und Rn 90). Des Weiteren hat der EuGH klargestellt, dass zwar Form und Umfang der Entschädigung dem erlittenen Schaden angemessen sein muss, vom Unionsrecht aber nicht geregelt wird (Rn 98). Es sei „Sache der nationalen Rechtsordnung jedes Mitgliedstaats, die Kriterien festzulegen, anhand deren der Umfang der Entschädigung bestimmt werden kann, sofern der Äquivalenz- und der Effektivitätsgrundsatz dabei beachtet werden“ (Rn 93).

[11] 1.2. Das Erstgericht hat aus dieser Entscheidung geschlossen, dass dem Kläger unmittelbar aus Art 6 lit b RL 2003/88/EG „neben dem ohnehin tatsächlich korrekt erhaltenen Lohn“ immaterieller Schadenersatz für überlanges Arbeiten zustehe. Das Berufungsgericht musste die Richtigkeit dieser Rechtsansicht nicht überprüfen, weil die Beklagte kein Rechtsmittel gegen das Urteil des Erstgerichts erhoben hatte und das Berufungsgericht jedenfalls einen weitergehenden Anspruch verneinte.

[12] 2. Eine Rechtsfrage von der Qualität des § 502 Abs 1 ZPO im Zusammenhang mit der Höhe des zugesprochenen Schadenersatzbetrags zeigt der Kläger nicht auf. Dabei kann offen bleiben, ob der Anspruch dem Grunde nach besteht und auch immateriellen Schadenersatz umfasst.

[13] 2.1. Bei einer eindeutigen Rechtsprechung des EuGH erübrigt sich schon im Sinne der „acte clair“-Theorie dessen Anrufung (RS0082949 [T3]).

[14] 2.1.1. Nach den Ausführungen des EuGH zu C‑429/09 besteht kein Zweifel, dass die einem Arbeitnehmer durch einen Verstoß der Behörden eines Mitgliedstaats gegen Art 6 lit b RL 2003/88/EG entstandenen Schäden im Rahmen des nationalen Haftungsrechts zu beheben sind (Rn 62). Sowohl die Form der Entschädigung als auch die Art und Weise der Berechnung der Anspruchshöhe sind unter Beachtung des Äquivalenz- und Effektivitätsgrundsatzes nach dem nationalen Recht des jeweiligen Mitgliedstaats zu beurteilen (Rn 93 ff).

[15] 2.1.2. Für ein Vorabentscheidungsersuchens zur Frage, in welcher Höhe die Entschädigung zu gewähren ist, um dem Äquivalenz- und Effektivitätsgrundsatz im konkreten Fall zum Durchbruch zu verhelfen, besteht daher keine Veranlassung, zumal die Anwendung der unionsrechtlichen Vorgaben im konkreten Fall regelmäßig den nationalen Gerichten obliegt.

[16] 2.2. Eine an den besonderen Umständen des Einzelfalls orientierte, letztlich dem billigen Ermessen des Gerichts anheimgestellte Entscheidung ist im Allgemeinen, wenn sich keine eklatante Fehlbeurteilung erkennen lässt, nicht revisibel (RS0044088 [T10]). Dieser Grundsatz gilt, sollte der Anspruch dem Grunde nach bestehen und auch immateriellen Schadenersatz umfassen, auch für den (nach nationalem Schadenersatzrecht auszumittelnden) Umfang einer unmittelbar aus Art 6 lit b RL 2003/88/EG resultierenden Entschädigung.

[17] 2.2.1. Das Berufungsgericht hat sich hier bei der Bemessung des immateriellen Schadenersatzes an den Bestimmungen des GlBG und des StEG orientiert und auch auf den Ersatz entgangener Urlaubsfreude wegen Reisemängeln Bezug genommen. Dabei ist es davon ausgegangen, dass die mit dem Entzug der persönlichen Freiheit verbundenen Beeinträchtigungen wesentlich massiver seien als die mit unzulässig zu leistenden Arbeitsstunden verbundenen Beeinträchtigungen. Einen Rückgriff auf die in der Judikatur entwickelten Schmerzengeldsätze hat es hingegen mangels Vorliegens einer Körperverletzung oder eines schwerwiegenden Eingriffs in die psychische Sphäre des Klägers verneint. Weiters hat es ausdrücklich die präventive Funktion der Entschädigung berücksichtigt.

[18] 2.2.2. Diese Beurteilung wäre auch dann nicht zu beanstanden, wenn der Anspruch des Klägers dem Grunde nach bestünde und auch immateriellen Schadenersatz umfasste. Mit seiner Behauptung, die Zuvielarbeit sei wegen vermehrter Erschöpfung bzw erhöhtem Regenerationsbedarf einer psychischen Beeinträchtigung gleichzusetzen, die wiederum leichten Schmerzen entsprechen würden, zeigt der Revisionswerber keine Überschreitung des dem Berufungsgericht in diesem Fall zukommenden Beurteilungsspielraums auf. Mit der vom Berufungsgericht zitierten Judikatur, wonach eine psychische Beeinträchtigung, die bloß in Unbehagen und Unlustgefühlen besteht, für sich nicht ausreicht, um als Verletzung am Körper angesehen oder einer Verletzung gleichgestellt zu werden (RS0030792 [T3]), setzt er sich gar nicht erst auseinander. Seine Unterstellung, der Betrag wäre für die Beklagte wirtschaftlich völlig bedeutungslos und widerspräche daher dem Effektivitätsgrundsatz, übergeht, dass er für seine Mehrarbeit nach seiner eigenen Darstellung bereits ein korrektes Entgelt erhalten hat. Aus seinem Hinweis auf die Rechtsprechung des deutschen Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG, 2 C 70/11), wonach sich als Anknüpfungspunkt für den zu gewährenden Geldausgleich allein die im jeweiligen Zeitpunkt der Zuvielarbeit geltenden Sätze der Mehrarbeitsvergütung anbieten, ergibt sich gerade kein Schadenersatzanspruch, der über die Entlohnung für die Mehrarbeit hinausgeht.

[19] 2.3. Die Revision ist daher zurückzuweisen, ohne dass es darauf ankommt, ob der Anspruch dem Grunde nach überhaupt besteht und auch immateriellen Schadenersatz umfasst. Diese im konkreten Fall bloß theoretische Frage kann die Zulässigkeit der Revision nicht begründen (RS0111271).

[20] 3. Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 40, 50 ZPO. In der bloßen Erwähnung im Schlussantrag der Revisionsbeantwortung, die Revision „zurückweisen“, hilfsweise ihr keine Folge zu geben, ist mangels jeder inhaltlichen Begründung kein Hinweis auf den wahren Zurückweisungsgrund zu erblicken (RS0035979 [T12]).

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