European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2022:0070OB00115.22W.1109.000
Rechtsgebiet: Zivilrecht
Spruch:
Der Revision wird Folge gegeben.
Die Urteile der Vorinstanzen werden dahin abgeändert, dass die Entscheidung einschließlich des in Rechtskraft erwachsenen klagsstattgebenden und klagszurückweisenden Teils insgesamt zu lauten hat:
„1. Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei binnen 14 Tagen 142.000 EUR samt 9,2 % Zinsen über dem Basiszins seit 17. Juni 2020 zu bezahlen.
2. Das Klagebegehren des Inhalts, die beklagte Partei sei schuldig, der klagenden Partei binnen 14 Tagen weitere 8.322,77 EUR samt 9,2 % Zinsen über dem Basiszins seit 29. Oktober 2020 zu bezahlen, wird zurückgewiesen.
3. Die Kostenentscheidung wird vorbehalten.“
Entscheidungsgründe:
Rechtliche Beurteilung
[1] Die Klägerin ist der Warentransportversicherer der E* GmbH (in der Folge Versicherungsnehmerin oder Auftraggeberin). Die Versicherungsnehmerin beauftragte die Beklagte mit dem Transport einer Maschine von R* (Österreich) nach P* M* (Spanien), wobei vereinbart war, dass die Beklagte berechtigt ist, den Transport an andere Frachtführer zu vermitteln und dass die Auswahl der beauftragten Frachtführer durch die Beklagte mit der Sorgfalt eines ordentlichen Kaufmanns erfolgt.
[2] Daraufhin beauftragte die Beklagte die Erstnebenintervenientin mit der Durchführung des Transports. Letztere verfügt nicht über Transportfahrzeuge und bedient sich stets Dritter zur Ausführung der von ihr übernommenen Transportverträge. Die Beklagte vereinbarte mit der Erstnebenintervenientin in Allgemeinen Geschäftsbedingungen unter dem Punkt „Weitergabeverbot“, dass der Auftrag nur mit ihrer vorab eingeholten Zustimmung an Dritte weitergegeben werden dürfe und die Erstnebenintervenientinzu überprüfen habe, ob der eingesetzte Unternehmer sämtliche Punkte der Auftragsbedingungen der Beklagten erfüllen könne. Der Klägerin waren diese Allgemeinen Geschäftsbedingungen der Beklagten bekannt.
[3] Entgegen dieser Vereinbarung gab die Erstnebenintervenientin den Transportauftrag ohne Zustimmung der Beklagten an die Zweitnebenintervenientin weiter. Diese beauftragte daraufhin die spanische Unternehmerin V* S.L, welche die polnische Unternehmerin G* Sp.z.o.o und diese wiederum die deutsche Unternehmerin A* e.K beauftragte. Schließlich wäre die slowakische A* s.r.o. mit der Ausführung des Transports betraut gewesen. Allerdings gelangten aufgrundder Einschaltung einer Transportbörse durch einen der Sub-Frachtführer die Daten des Transportguts samt Abholort und -zeit zu Kriminellen. Diese holten das Ladegut in R* mit den seitens der Beklagten an die Versicherungsnehmerin bekanntgegebenen und von dieser kontrollierten Kfz‑Kennzeichen ab und eigneten sich das Ladegut an, sodass dieses nie beim Empfänger ankam.
[4] Die Beklagte verfügt über langjährige Erfahrungen in der Transportbranche und kennt die Gefahren von „Veruntreuungen“ bei der Einschaltung von Frachtbörsen. Dennoch überprüfte und hinterfragte sie die weitere Auftragsausführung durch die Erstnebenintervenientin nicht, sondern nahm in Kauf, dass der Transportauftrag in einer von ihr nicht kontrollierten Auftragskette – unter anderem auch mittels Einsatz internationaler, die Firmenüberprüfungsvorgänge erschwerender Transportbörsen – weitergegeben wurde. Ebenso hinterfragte sie nicht per Kontrollanruf die zur Abholung des Transportguts bekanntgegebenen Daten, wie etwa dass ihr die in Deutschland ansässige Erstnebenintervenientin zweimal hintereinander slowakische Kennzeichen des LKW und des Anhängers bekanntgegeben hatte. Auch die Erstnebenintervenientin unterließ jegliche Kontrollmaßnahme in Bezug auf die von ihr beauftragte Zweitnebenintervenientin, insbesondere führte sie die mit der Beklagten vereinbarte Vertragspartnerüberprüfung nicht durch.
[5] Die Klägerin begehrt Zahlung von 142.000 EUR für die von ihr an die Versicherungsnehmerin erbrachte Ersatzleistung sowie 8.322,77 EUR für ein von ihr eingeholtes Gutachten. Sie brachte – soweit für das Revisionsverfahren relevant – vor, die unzureichende Organisation des Betriebs der Beklagten bzw der ihr zuzurechnenden Subunternehmer bei der Durchführung des Transports und der Beauftragung von Subfrächtern stelle ein (grobes) Verschulden dar. Bei Anwendung der gehörigen Sorgfalt hätte sich der Schaden nicht ereignet. In der Vertragskette würden mehrere Sorgfaltsverstöße vorliegen, weshalb jedenfalls von einem groben Verschulden der Beklagten auszugehen sei, sodass die Haftungsbeschränkungen des Art 23 Abs 2 CMR gemäß Art 29 CMR nicht zur Anwendung kämen und über Art 27 CMR hinausgehende, höhere Zinsen gemäß § 456 UGB gebührten.
[6] Die Beklagte und die Erstnebenintervenientin beantragten Klagsabweisung. Sie brachten – soweit für das Revisionsverfahren relevant – vor, der Frächter dürfe sich eines Subfrächters bedienen, sodass in der Weitergabe des Transportauftrags keine Sorgfaltswidrigkeit liegen könne. Die Beklagte und die von ihr in der Auftragskette beauftragten seriösen Frachtunternehmer seien Opfer eines raffiniert angelegten Trickdiebstahls geworden. Es habe sich um ein unabwendbares Ereignis iSd Art 17 Abs 2 CMR gehandelt. Überdies seien Wert und Art des Transportguts von der Versicherungsnehmerin nicht bekannt gegeben worden. Die Haftungssumme sei aufgrund des Bruttogewichts von 9.300 kg mit rund 93.000 EUR beschränkt (Art 23 Abs 3 CMR).
[7] Das Erstgericht verpflichtete die Beklagte zur Zahlung von 94.512,18 EUR sA, wies ein Mehrbegehren von 47.487,82 EUR sA ab und das auf Zahlung der Gutachterkosten gerichtete Begehren wegen Unzulässigkeit des Rechtswegs zurück. Die Beklagte habe die sie treffende Sorgfalt eines ordentlichen Transporteurs grob vernachlässigt. Der Datenverlust an Kriminelle sei auf die Verwendung einer Transportbörse zurückzuführen, sodass auch kein unabwendbares Ereignis iSd Art 17 Abs 2 CMR vorliege. Jedoch sei dem Einwand der Beklagten zu folgen, dass die Haftung gemäß Art 23 Abs 2 CMR beschränkt sei, weshalb der Klägerin nur 94.512,18 EUR zustünden. Aufgrund des qualifizierten Verschuldens der Beklagten richte sich der Zinsanspruch nach § 456 UGB, sodass 9,2 % Zinsen über dem Basiszinssatz zuzusprechen seien.
[8] Das Berufungsgericht gab den dagegen erhobenen Berufungen der Klägerin, der Beklagten sowie der ersten Nebenintervenientin keine Folge und bestätigte die Entscheidung des Erstgerichts. Die Beklagte sei zur Weitergabe des Auftrags an einen Unterfrachtführer berechtigt gewesen. Sie habe aber in ihrer Auftragsbestätigung zugesichert, dass die Auswahl der beauftragten Frachtführer mit der Sorgfalt eines ordentlichen Kaufmanns erfolge. Nach den Feststellungen habe die Beklagte über langjährige Erfahrungen in der Transportbranche verfügt und die Gefahren von Transportgutveruntreuungen bei der Einschaltung von Frachtenbörsen gekannt. Die Beklagte habe von der von ihr beauftragten Erstnebenintervenientin verlangt, die Zustimmung zur Weitergabe des Auftrags bei ihr einzuholen, was aber nicht erfolgt sei. Dies habe der Beklagten spätestens in dem Zeitpunkt bewusst sein müssen, als sie im Rückinformationsweg von der ersten Nebenintervenientin die Verständigung über die Abholung des Transportguts erhalten habe. Zu diesem Zeitpunkt sei die Beklagte in Wahrnehmung ihrer Sorgfaltspflicht gerade im Hinblick auf das der Erstnebenintervenientin erteilte bedingte Weitergabeverbot verpflichtet gewesen, Kontakt mit der ausführenden Transportunternehmerin aufzunehmen. Durch eine solche Kontaktaufnahme wären die betrügerischen Machenschaften offengelegt und so der kriminelle Erfolg vereitelt worden. Schon allein diese sorgfaltswidrige Unterlassung begründe die Haftung der Beklagten. Eine grobe Fahrlässigkeit der Beklagten oder einer ihrer Leute, also der Unterfrachtführer, sei aber zu verneinen: Dass kriminelle Personen den E-Mail-Account eines Frächters „hacken“ und unter Vorspiegelung der Identität einer tatsächlich existierenden Gesellschaft mit einem Transportfahrzeug mit gefälschten Kennzeichen und einer solchen Stampiglie das Ladegut abholen, sei für die Beklagte und ihre Subfrachtführer nicht einfach vorhersehbar, sie würden diese Möglichkeit nicht für geradezu wahrscheinlich halten müssen. Es greife daher die Haftungsbeschränkung des Art 23 Abs 2 CMR.
[9] Gegen diese Entscheidung richtet sich die Revision der Klägerin mit dem Antrag, die Entscheidungen der Vorinstanzen dahin abzuändern, dass ihr weitere 47.487,82 EUR sA zugesprochen werden. Hilfsweise stellt sie einen Aufhebungsantrag.
[10] In den vom Obersten Gerichtshof freigestellten Revisionsbeantwortungen beantragen die Beklagte und die Nebenintervenienten, die Revision zurückzuweisen, hilfsweise ihr nicht Folge zu geben.
[11] Die Revision ist zur Wahrung der Rechtssicherheit zulässig; sie ist auch berechtigt.
[12] 1. Die Anwendung des Übereinkommens über den Beförderungsvertrag im internationalen Straßengüterverkehr (CMR; BGBl 1961/38) ist im vorliegenden Fall nicht strittig.
[13] 2. Das Erstgericht hat die Obhutshaftung bejaht. Im Berufungsverfahren wurde der Verlust innerhalb des Obhutszeitsraums nicht releviert. Dieser selbständig zu beurteilende Einwand ist daher vom Obersten Gerichtshof nicht mehr zu prüfen (vgl RS0043338). Im Revisionsverfahren ist ausschließlich die Frage zu klären, ob der Beklagten grobes Verschulden iSd Art 29 CMR anzulasten ist und der Klägerin der gesamte Klagsbetrag zusteht. Dies ist entgegen der Ansicht des Berufungsgerichts zu bejahen:
[14] 3.1. Gemäß Art 29 Abs 1 CMR kann sich der Frachtführer auf die Bestimmungen dieses Kapitels, die seine Haftung ausschließen oder begrenzen oder die Beweislast umkehren, nicht berufen, wenn er, bzw die ihm gemäß Art 3 CMR zurechenbaren Subfrachtführer und deren Personal (vgl RS0073705), den Schaden vorsätzlich oder durch ein ihm zur Last fallendes Verschulden verursacht hat bzw haben, das nach dem Recht des angerufenen Gerichts dem „Vorsatz gleichsteht“. Dem Vorsatz gleichstehende Fahrlässigkeit bedeutet in Österreich grobe Fahrlässigkeit; die Beweislast für Vorsatz oder grobe Fahrlässigkeit des Frachtführers trifft den Geschädigten (RS0073961; RS0062591). Wenn die Voraussetzungen des Art 29 CMR vorliegen, entfällt nach einhelliger Meinung jedenfalls das Recht des Frachtführers auf Haftungsbegrenzung nach Art 17 Abs 2 und 4 CMR, nach Art 18 CMR, aber auch nach Art 23 und 25 CMR (7 Ob 230/12t mwN; 7 Ob 28/18w).
[15] 3.2. Grob fahrlässiges Organisationsverschulden erfordert einen objektiv und auch subjektiv schweren Verstoß gegen die Anforderungen der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt. Diese Sorgfalt muss also in einem ungewöhnlich hohen Maß verletzt werden. Dasjenige muss unbeachtet geblieben sein, was im gegebenen Fall eigentlich jedem hätte einleuchten müssen. Voraussetzung dafür ist in der Regel das Bewusstsein der Gefährlichkeit des eigenen Verhaltens (RS0110748). Der Frachtführer hat demnach unbeschränkt für den Schaden am Transportgut oder dessen Verlust einzustehen, wenn ihm eine ungewöhnliche, auffallende Vernachlässigung bei durchaus vorhersehbarem Schaden vorzuwerfen ist, wobei eine Vielzahl von Nachlässigkeiten und Unvorsichtigkeiten, von denen jede für sich die Gefahr eines Schadens erhöht, zur Haftung wegen grober Fahrlässigkeit führen kann (7 Ob 46/14m mwN; 7 Ob 81/20t). Mit einem Diebstahl des Gutes durch Dritte kann sich der Frachtführer im Allgemeinen nicht von seiner Haftung befreien, es sei denn, der Diebstahl hätte unter so ungewöhnlichen Umständen stattgefunden, dass ihn der Frachtführer auch unter Anwendung der äußersten Sorgfalt nicht hätte vermeiden können (RS0073769). An die Sorgfalt des Frachtführers ist ein strenger Maßstab anzulegen und die äußerste zumutbare Sorgfalt zu verlangen (RS0073798), weshalb ein Verstoß gegen Weisungen oder ausdrückliche Vereinbarungen in der Regel ein grobes Verschulden begründet (Zehetbauer in Zib/Dellinger, UGB Art 29 CMR Rz 30; Csoklich in Artmann, UGB I³ Art 29 CMR Rz 5; vgl auch 1 Ob 204/00g; 8 Ob 125/05y; 7 Ob 156/08d). Bei Beurteilung all dieser Fragen kommt es wesentlich auf die Umstände des Einzelfalls an (7 Ob 184/01m; 7 Ob 46/14m; 7 Ob 150/21s).
[16] 3.3. Die Beklagte war hier berechtigt, den Transport an andere Frachtführer zu vermitteln, was sie im vorliegenden Fall auch tat. Dabei vereinbarte sie mit der Subfrachtführerin (Erstnebenintervenientin), dass eine Weitergabe des Transportauftrags an Dritte nur mit ihrer vorab eingeholten Zustimmung erfolgen darf und sich die Erstnebenintervenientin verpflichtet, zu überprüfen, ob der von ihr eingesetzte Unternehmer sämtliche Punkte der Auftragsbedingungen der Beklagten erfüllen kann. Die Erstnebenintervenientin missachtete diese beiden ihr ausdrücklich auferlegten Vertragspflichten. Der Beklagten waren auch Umstände bekannt, die eine Verletzung des mit der ersten Nebenintervenientin vereinbarten „Weitergabeverbots“ nahelegten, wurde ihr doch von ihrem deutschen Vertragspartner bekanntgegeben, dass ein LKW mit slowakische Kennzeichen das Transportgut abholen wird. Dennoch blieb sie untätig und stellte keine Rückfragen, obwohl sie sich gegenüber der Versicherungsnehmerin der Klägerin verpflichtet hatte, die Auswahl des von ihr beauftragten Frachtführers mit der Sorgfalt eines ordentlichen Kaufmanns vorzunehmen. Die Beklagte nahm durch ihr Verhalten in Kauf, dass der Transportauftrag – ohne ihre Zustimmung – in einer von ihr nicht kontrollierten Auftragskette weitergegeben werde. Allein diese mehrfachen und gravierenden Sorgfaltsverstöße der Beklagten und der ihr zurechenbaren ersten Nebenintervenientin begründen die Annahme eines groben Verschuldens, führten sie doch dazu, dass die Transportware durch Kriminelle entwendet werden konnte.
[17] Die Beklagte kann sich daher nicht auf die Haftungsbegrenzung des Art 23 CMR berufen.
[18] 4. Die Revision ist daher berechtigt. Die Urteile der Vorinstanzen waren dahin abzuändern, dass der Klägerin 142.000 EUR sA zuzusprechen waren. Auf die weitere in der Revision aufgeworfene Frage muss nicht mehr eingegangen werden.
[19] 5. Hat ein Gericht – wie hier das Erstgericht – die Kostenentscheidung vorbehalten, so ist im weiteren Rechtsgang keine Kostenentscheidung zu treffen (§ 52 Abs 3 ZPO).
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