OGH 9ObA62/22s

OGH9ObA62/22s28.9.2022

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch die Senatspräsidentin Dr. Fichtenau als Vorsitzende, sowie den Hofrat Mag. Ziegelbauer, die Hofrätin Hon.‑Prof. Dr. Dehn und die fachkundigen Laienrichter Mag. Martin Lotz (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Mag. Karin Koller (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Arbeitsrechtssache der klagenden Partei P*, geboren *, vertreten durch Dr. Richard Benda, Dr. Christoph Benda, Mag. Stefan Benda, Rechtsanwälte in Graz, gegen die beklagte Partei H* GmbH, FN *, vertreten durch Mag. Doris Braun, Rechtsanwältin in Graz, wegen 46.868,60 EUR brutto sA, über die außerordentlichen Revisionen der klagenden Partei (Revisionsinteresse: 28.181,12 EUR) und der beklagten Partei (Revisionsinteresse: 18.687,48 EUR) gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Graz als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 29. März 2022, GZ 6 Ra 79/21s‑35, den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2022:009OBA00062.22S.0928.000

Rechtsgebiet: Zivilrecht

 

Spruch:

Die außerordentlichen Revisionen der klagenden und der beklagten Partei werden gemäß § 508a Abs 2 ZPO mangels der Voraussetzungen des § 502 Abs 1 ZPO zurückgewiesen.

 

Begründung:

[1] Der Kläger war seit 1981 Arbeitnehmer der Beklagten bzw ihrer Rechtsvorgängerinnen und war seit 1997 bis zum Ende seines Arbeitsverhältnisses im Jahr 2018 in der Wechselschlosserei der Beklagten im Turnusdienst beschäftigt. Die Mitarbeiter der Wechselschlosserei arbeiteten nach einem einen – siebenwöchigen Schichtturnus umfassenden – Dienstplan. Im Rahmen des Schichtplans folgte zweimal auf eine 7‑Tage‑Woche mit 56 Stunden eine 3‑Tage‑Woche mit 24 Stunden. In den zwei „kurzen“ Wochen wurden zwei Tage als Ersatzruhetage gewertet. In den übrigen Wochen des Turnus waren 40 Stunden Arbeit vorgesehen. Rechnet man die Stunden im siebenwöchigen Turnus durch, ergibt sich eine durchschnittliche wöchentliche Arbeitszeit von 40 Stunden. Der Kläger erhielt kein Überstundenentgelt für die in den beiden „langen“ Wochen verrichteten Überstunden.

[2] Der Schichtplan wurde unter Mitwirkung des Betriebsrats entwickelt. Eine Betriebsvereinbarung zur Einführung und Ausgestaltung der Schichtarbeit wurde jedoch trotz dazu vorhandener kollektivvertraglicher Ermächtigung nicht abgeschlossen. Eine schriftliche oder (ausdrückliche) mündliche Vereinbarung über die Leistung von Schichtarbeit haben die Parteien nicht getroffen.

[3] Der Kläger begehrt die Zahlung von 46.868,60 EUR brutto sA an Entgeltdifferenzen. Inhaltlich macht er Entgelte und Zuschläge für die im Rahmen der Schichtarbeit im Zeitraum 2015 bis 2018 geleisteten Überstunden sowie eine sich aus der Nichtberücksichtigung solcher Überstunden ergebende Abfertigungsdifferenz geltend. Der Schichtplan berechtige die Beklagte mangels Vorliegens einer Betriebsvereinbarung bzw einer individuellen Vereinbarung nicht zur Durchrechnung der Arbeitszeiten des Klägers über den Zeitraum von sieben Wochen.

[4] Die Beklagte stellte die rechnerische Höhe des Klagebegehrens außer Streit. Sie wendet, soweit für das Revisionsverfahren noch von Bedeutung, im Wesentlichen ein, dass der Schichtplan mit dem Kläger konkludent vereinbart worden und jedenfalls gesetzeskonform sei. Abgesehen davon seien dem Kläger pro Monat 173 Stunden bezahlt worden, für die er nicht noch einmal einen Überstundengrundlohn fordern könne. Die Ansprüche des Klägers seien verfallen.

[5] Das Erstgericht gab der Klage statt.

[6] Das Berufungsgericht gab der Berufung der Beklagten teilweise Folge. Es bestätigte den Zuspruch von 18.687,48 EUR brutto sA und wies das Mehrbegehren von 28.181,12 EUR brutto sA mit der wesentlichen Begründung ab, dass in diesem Umfang die Ansprüche des Klägers verfallen seien.

[7] Gegen den bestätigenden Teil der Entscheidung des Berufungsgerichts richtet sich die außerordentliche Revision der Beklagten, mit der sie die gänzliche Abweisung des Klagebegehrens anstrebt.

[8] Gegen den abweisenden Teil der Entscheidung des Berufungsgerichts richtet sich die außerordentliche Revision des Klägers, mit der er die gänzliche Stattgebung des Klagebegehrens anstrebt.

Rechtliche Beurteilung

[9] Die Revisionen der Beklagten und des Klägers sind mangels Aufzeigens einer Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung im Sinn des § 502 Abs 1 ZPO nicht zulässig.

I. Zur außerordentlichen Revision der Beklagten:

[10] I.1 Die Beklagte macht geltend, vor dem Hintergrund der tatsächlichen Handhabung des Vertrags sei die Schichtarbeit mit dem Kläger in zulässiger Weise nach Treu und Glauben konkludent und als tatsächliche Übung vereinbart worden.

[11] I.2.1 Ob eine konkludente Willenserklärung vorliegt und welchen Inhalt sie gegebenenfalls hat, ist regelmäßig einzelfallbezogen und begründet daher im Allgemeinen keine Rechtsfrage erheblicher Bedeutung (RS0109021 [T6]). Dass der Kläger Schichtarbeit geleistet hat und ihm dieser Umstand auch bewusst war, führt noch nicht zur Annahme einer konkludenten Vereinbarung über eine flexible Arbeitszeitregelung mit Durchrechnung auf Grundlage des § 4a AZG. Die Annahme einer schlüssigen Erklärung setzt gewisse Kenntnisse des Erklärenden (Duldenden) über die im Zeitpunkt seines Verhaltens vorliegenden maßgeblichen Umstände voraus (RS0109021 [T2]).

I.2.2 Das Berufungsgericht hat darauf hingewiesen, dass dem Kläger bei Beginn seiner Tätigkeit in der Wechselschlosserei lediglich die Dienstzeiten laut Dienstplan erklärt wurden. Freie Tage wurden nicht thematisiert. In weiterer Folge verrichtete der Kläger die Dienste, zu denen er eingeteilt war. Er wurde auch nie über die rechtlichen Konsequenzen des Modells aufgeklärt, mag er auch nach einiger Zeit erkannt haben, dass nach einem Schichtplan gearbeitet wurde. Weiters – und von der Beklagten in der Revision auch nicht in Frage gestellt – weist das Berufungsgericht darauf hin, dass der Kläger in den beiden „langen“ Wochen des Schichtplans an sieben Tagen 56 Stunden gearbeitet hat, wofür ihm zwar in den auf diese jeweils folgenden „kurzen“ Wochen zwei Ersatzruhetage eingeräumt wurden, mit denen aber nur die Arbeit am Wochenende („Wochenendruhe“, Ersatzruhe im Sinn des § 6 ARG) berücksichtigt wurde. Die vom Kläger an den Wochenenden der beiden „langen“ Wochen gearbeiteten 16 Stunden wurden nicht am Zeitguthabenkonto gutgeschrieben, denn dort wurden nur „außertourliche“, also außerhalb des Schichtplans geleistete Überstunden des Klägers erfasst.

[12] I.2.3 Anhand der vom Erstgericht festgestellten unstrittigen tatsächlichen Arbeitszeiten des Klägers in den Jahren 2015 bis 2018 ist überdies ersichtlich, dass diese nicht durchgehend den im Schichtplan vorgesehenen Arbeitszeiten entsprechen, sondern ist abzuleiten, dass die Beklagte den Kläger je nach Bedarf auch zusätzlich, jedenfalls anders einsetzte; auch wurde der Rhytmus nicht eingehalten. Damit basierte die Schichtarbeit des Klägers nicht ausschließlich auf dem von der Beklagten herangezogenen Schichtplan; eine sich an der Wiederholung eines gleichbleibenden Turnus orientierende Arbeitszeiteinteilung ist daraus nicht zu entnehmen (vgl Klein in Gasteiger/Heilegger/Klein, Arbeitszeitgesetz7 §§ 3 bis 4c Rz 47). Eine Korrekturbedürftigkeit der Rechtsansicht des Berufungsgerichts, dass der Kläger weder die rechtlichen Konsequenzen des Modells überblicken, noch im Hinblick auf die gewährten „Ersatzruhezeiten“, die die ausgefallenen wöchentlichen Ruhezeiten (Wochenendruhe) ausgleichen sollten, für sich ableiten konnte, dass die in den zwei Wochen des siebenwöchigen Schichtturnus verrichteten Überstunden überhaupt (durch Zeitausgleich) ausgeglichen wurden, zeigt die Beklagte vor diesem konkreten Hintergrund des Einzelfalls nicht auf. Mangels wirksamer einzelvertraglicher Vereinbarung des Schichtplans bedarf es keiner weiteren Auseinandersetzung mit den Ausführungen der Beklagten zum behaupteten Irrtum des Klägers und zur behaupteten rechtsmissbräuchlichen Klageführung.

[13] I.3.1 Die Beklagte meint weiters, dem Kläger seien monatlich 173 Stunden bezahlt worden, sodass er die Grundentlohnung für die im Durchschnitt geleisteten 40 Stunden pro Woche erhalten habe. Der Zuspruch der dafür (noch einmal) begehrten Überstundengrundentlohnung sei daher nicht berechtigt.

[14] I.3.2 Die von der Beklagten begehrte „Durchrechnung“ hat aber schon mangels eines wirksam vereinbarten Schichtplans keine Grundlage. Darüber hinaus hat das Berufungsgericht diesem bereits im Berufungsverfahren eingenommenen Standpunkt der Beklagten entgegen gehalten, dass die Verringerung der Arbeitsleistung in den „kurzen“ Wochen des Modells auf einer Gewährung der (von der Beklagten selbst behaupteten) Ersatzruhe beruht habe. Für diese sei Entgeltfortzahlung geleistet worden, sodass eine Doppelzahlung des Überstundengrundlohns nicht vorliege. Auf diese rechtliche Beurteilung des Berufungsgerichts geht die außerordentliche Revision nicht ein. Setzt sich die Revision mit den Argumenten des Berufungsgerichts nicht auseinander, ist die Rechtsrüge in diesem Punkt nicht gesetzmäßig ausgeführt (RS0043605; RS0043603 [T9]), sodass darauf nicht weiter einzugehen ist.

II. Zur außerordentliche Revision des Klägers:

[15] II.1 Das Berufungsgericht sah die Ansprüche des Klägers auf Überstundenentgelte, die vor Dezember 2017 fällig wurden, als verfallen an, weil sie nicht gemäß § 44 Abs 4 des anzuwendenden Kollektivvertrags für Dienstnehmer der Beklagten innerhalb von drei Monaten nach Fälligkeit schriftlich geltend gemacht worden seien. Der Kläger wendet sich in seiner außerordentlichen Revision weder gegen die daraus resultierende Berechnung seiner Ansprüche durch das Berufungsgericht, noch gegen die Rechtswirksamkeit der Verfallsklausel an sich. Er macht ausschließlich geltend, dass der Einwand des Verfalls im konkreten Fall gegen Treu und Glauben verstoße und sittenwidrig sei.

[16] II.2 Ob ein Verhalten des Arbeitgebers als gegen Treu und Glauben verstoßend anzusehen ist, kann immer nur nach den Umständen des konkreten Einzelfalls beurteilt werden und stellt daher in der Regel keine erhebliche Rechtsfrage im Sinn des § 502 Abs 1 ZPO dar (RS0110900 [T10]). Eine vom Obersten Gerichtshof im vorliegenden Fall aus Gründen der Rechtssicherheit aufzugreifende Fehlbeurteilung vermag der Kläger nicht darzustellen:

[17] II.3.1 Die Berufung auf eine – für sich allein betrachtet – noch nicht sittenwidrige Verfallsklausel kann lediglich unter gewissen weiteren Umständen sittenwidrig sein: Dies ist etwa dann der Fall, wenn der Arbeitgeber dem Arbeitnehmer die rechtzeitige Geltendmachung eines Anspruchs in einer Art und Weise erschwert oder praktisch unmöglich macht, die die spätere Berufung auf die Verfallsklausel als rechtsmissbräuchlich erscheinen lässt (RS0016688; RS0051974 [T5]). Für den Einwand, dass der Arbeitgeber dem Arbeitnehmer die rechtzeitige Geltendmachung eines Anspruchs erschwert oder praktisch unmöglich macht, trifft aber den Arbeitnehmer die Behauptungs- und Beweislast (RS0034487 [T9]).

[18] II.3.2 Der Kläger macht geltend, dass sein Zeitguthaben von der Beklagten auf zwei Zeitkonten verbucht worden sei. Die richtige Verbuchung von Zeitguthaben habe nur durch den Vergleich zweier Zeitguthaben überprüft werden können, was einem einfachen Arbeiter ohne entsprechende Vorqualifikation nicht zumutbar sei. Dem hat jedoch bereits das Berufungsgericht entgegengehalten, dass nach den Feststellungen für den Kläger aus den Lohnzetteln ersichtlich war, wie viele Überstunden von der Beklagten abgerechnet wurden. Da der Kläger ausschließlich Überstunden geltend macht, die er im Rahmen des siebenwöchigen Schichtturnus geleistet hat und er in diesem Zeitraum in zwei jeweils „langen“ Wochen 56 Stunden anstelle der Normalarbeitszeit von 40 Stunden arbeitete, woraus sich 16 Überstunden errechnen, konnte er anhand der Lohnzettel überprüfen, ob diese Überstunden bezahlt wurden.

[19] II.3.3 Überstunden, die der Kläger außerhalb des Schichtplans leistete und die auf einem von der Beklagten geführten Zeitguthabenkonto gutgebucht wurden, sind nicht Gegenstand des Verfahrens. Darüber hinaus war es dem Kläger grundsätzlich möglich, Einsicht in die Arbeitszeitaufzeichnungen zu nehmen und auch Lohnzettel auszudrucken. Der Kläger war zwar nach den Feststellungen ohne Hilfestellung nicht selbst in der Lage, an den Computerterminals der Beklagten Einsicht zu nehmen. Er konnte sich aber zu diesem Zweck an seine Vorgesetzten wenden, die ihm – nach Nachschau in das entsprechende Konto – auch die erforderlichen Erklärungen gaben. Aus den Konten ergaben sich die offenen Zeitguthaben. Für die Kontrolle der Zeitguthaben kam es daher auf das Fehlen eigener EDV‑Kenntnisse des Klägers nicht an.

[20] II.3.4 Ein allgemeiner Rechtssatz, dass sich der Arbeitgeber immer dann nicht auf die Verfallsklausel aus einem Kollektivvertrag berufen könne, wenn er selbst gegen kollektivvertragliche Bestimmungen verstoßen habe, ist dem Gesetz nach ständiger Rechtsprechung fremd (8 ObA 35/18g mwH; RS0051974 [T1, T3]). Dass die Beklagte keine Betriebsvereinbarung zur Regelung des Schichtbetriebs abgeschlossen hat, erschwerte dem Kläger nach den Feststellungen im vorliegenden Fall nicht die Geltendmachung seiner Ansprüche. Darin unterscheidet sich der vorliegende Sachverhalt von dem vom Kläger für seinen Standpunkt ins Treffen geführten Entscheidung 9 ObA 93/19w.

[21] II.3.5 Ein Verstoß gegen Treu und Glauben liegt auch dann vor, wenn es der Arbeitgeber geradezu darauf anlegt, die (rechtzeitige) Anspruchsdurchsetzung durch den Arbeitnehmer zu verhindern (9 ObA 27/96; 9 ObA 86/01i). Dazu wäre aber Voraussetzung, dass dem Arbeitgeber ein bewusstes rechtsmissbräuchliches Verhalten vorzuwerfen wäre, das von der Absicht getragen ist, die Anspruchsdurchsetzung durch den Arbeitnehmer zu verhindern oder zumindest ernsthaft zu erschweren. Eine solche Behauptung stellte der Kläger nicht auf. Insbesondere behauptet er auch nicht, dass der von der Beklagten eingenommene Rechtsstandpunkt, der Durchrechnung liege eine einzelvertragliche Vereinbarung zugrunde, geradezu unvertretbar gewesen sei und den Vorwurf eines bewusst rechtsmissbräuchlichen Verhaltens begründen könnte (8 ObA 75/15k).

Lizenziert vom RIS (ris.bka.gv.at - CC BY 4.0 DEED)

Stichworte