OGH 8ObA37/22g

OGH8ObA37/22g29.6.2022

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten Hon.‑Prof. Dr. Kuras als Vorsitzenden sowie die Hofrätin Dr. Tarmann-Prentner, den Hofrat Dr. Thunhart und die fachkundigen Laienrichter Mag. Wolfram Hitz (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Mag. Philipp Brokes (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Arbeitsrechtssache der klagenden Partei Dr. M*, vertreten durch die Freimüller/Obereder/Pilz Rechtsanwält_innen GmbH in Wien, gegen die beklagte Partei H* GmbH, *, vertreten durch die Celar Senoner Weber-Wilfert Rechtsanwälte GmbH in Wien, wegen 873,45 EUR brutto sA über die Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen vom 26. Jänner 2022, GZ 10 Ra 35/20w‑22, den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2022:008OBA00037.22G.0629.000

Rechtsgebiet: Zivilrecht

 

Spruch:

Die Revision wird zurückgewiesen.

Die klagende Partei ist schuldig, der beklagten Partei die mit 210,84 EUR (darin 35,14 EUR USt) bestimmten Kosten des Revisionsverfahrens binnen 14 Tagen zu ersetzen.

 

Begründung:

[1] Die Klägerin war von 1. 2. 2019 bis 26. 6. 2019 mit einem Bruttomonatslohn von 1.540 EUR bei der Beklagten beschäftigt, ohne dass sie Urlaub konsumiert hätte. Die Klägerin trat unberechtigt vorzeitig aus dem Dienstverhältnis aus.

[2] Die Klägerin begehrt eine Urlaubsersatzleistung für zehn Urlaubstage in der Höhe von 873,45 EUR brutto.

[3] Die Beklagte wendet ein, dass die Klägerin aufgrund ihres unberechtigten Austritts nach § 10 Abs 2 UrlG keine Urlaubsersatzleistung beanspruchen könne.

[4] Das Erstgericht gab der Klage statt. § 10 Abs 2 UrlG sei aufgrund der zwingenden Vorgaben der Arbeitszeit-Richtlinie nicht anzuwenden.

[5] Das Berufungsgericht änderte diese Entscheidung dahin ab, dass der Klägerin 653,33 EUR brutto zugesprochen und das Mehrbegehren abgewiesen wurde. Da die Arbeitszeit-Richtlinie nur einen Urlaubsanspruch von vier Wochen garantiere, könne die Klägerin lediglich eine Urlaubsersatzleistung für acht Tage beanspruchen. Für den darüber hinausgehenden Urlaubsanspruch gebühre nach § 10 Abs 2 UrlG keine Entschädigung. Die ordentliche Revision sei im Hinblick auf die Frage der Auswirkungen der Arbeitszeit-Richtlinie auf darüber hinausgehende Urlaubsansprüche nach nationalem Recht zulässig.

[6] Die von der Beklagten beantwortete Revision der Klägerin ist entgegen dem – nicht bindenden – Ausspruch des Berufungsgerichts mangels Vorliegens der Voraussetzungen des § 502 Abs 1 ZPO nicht zulässig.

Rechtliche Beurteilung

[7] 1. Das Vorliegen einer erheblichen Rechtsfrage ist nach dem Zeitpunkt der Entscheidung über das Rechtsmittel durch den Obersten Gerichtshof zu beurteilen. Eine im Zeitpunkt der Einbringung des Rechtsmittels tatsächlich aufgeworfene erhebliche Rechtsfrage fällt somit weg, wenn die bedeutsame Rechtsfrage zwischenzeitlich durch eine andere Entscheidung des Obersten Gerichtshofs geklärt wurde (RIS‑Justiz RS0112921; RS0112769).

[8] 2. Nach § 10 Abs 2 UrlG gebührt keine Urlaubsersatzleistung, wenn der Arbeitnehmer ohne wichtigen Grund vorzeitig austritt. Der EuGH hat zu C-233/20 die zur Vereinbarkeit des § 10 Abs 2 UrlG mit dem Unionsrecht gestellte Vorlagefrage dahin beantwortet, dass Art 7 der Richtlinie 2003/88/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 4. November 2003 über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung iVm Art 31 Abs 2 der Grundrechtecharta dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Vorschrift entgegensteht, wonach eine Urlaubsersatzleistung für das laufende letzte Arbeitsjahr nicht gebührt, wenn der Arbeitnehmer das Arbeitsverhältnis ohne wichtigen Grund vorzeitig einseitig beendet.

[9] 3. Art 7 Abs 2 der Richtlinie garantiert dem Arbeitnehmer nur einen Urlaubsanspruch von vier Wochen, während der Urlaubsanspruch im nationalen österreichischen Recht nach § 2 Abs 1 UrlG zumindest fünf Wochen beträgt. Die innerstaatliche Rechtslage geht damit über die unionsrechtlich erforderlichen Mindestansprüche hinaus und ist insoweit günstiger als das Unionsrecht. Der Oberste Gerichtshof hat deshalb mittlerweile zu 9 ObA 147/21i und 8 ObA 95/21k ausgesprochen, dass es nach dem Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts genügt, § 10 Abs 2 UrlG nur insoweit unangewendet zu lassen, als der Arbeitnehmer eine Urlaubsersatzleistung auf Grundlage des unionsrechtlich garantierten Mindesturlaubs von vier Wochen erhält. Eine finanzielle Abgeltung des über den vierwöchigen Mindesturlaub hinausgehenden Urlaubsteils ist demgegenüber unionsrechtlich nicht geboten.

[10] 4. Entgegen dem Vorbringen der Klägerin verstößt es auch nicht gegen den Gleichheitsgrundsatz und das Verbot der Inländerdiskriminierung, dass eine anteilige Urlaubsentschädigung nur für vier Wochen, nicht aber für die fünfte Woche beansprucht werden kann, zumal darin keine Ungleichbehandlung von Arbeitnehmern gelegen ist.

[11] 5. Die Revision der Klägerin war daher mangels Vorliegens einer erheblichen Rechtsfrage zurückzuweisen.

[12] 6. Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 41, 50 ZPO. Die Beklagte hat auf die Unzulässigkeit der Revision hingewiesen (RS0035979 [T16]).

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