OGH 1Ob102/22i

OGH1Ob102/22i22.6.2022

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten Univ.‑Prof. Dr. Bydlinski als Vorsitzenden sowie die Hofräte und die Hofrätin Mag. Wurzer, Mag. Dr. Wurdinger, Mag. Wessely‑Kristöfel und Dr. Parzmayr als weitere Richter in der Pflegschaftssache des mj M*, geboren * 2014, *, über den Rekurs des Vaters Mag. M*, vertreten durch Dr. Eva Schön, Rechtsanwältin in Bruck an der Leitha, gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts Wien vom 11. April 2022, GZ 11 Nc 4/22f‑3, mit dem die mit Beschluss des Bezirksgerichts Mistelbach vom 20. Jänner 2022, GZ 17 Ps 144/19b‑247 (nunmehr GZ 17 Ps 21/22v), ausgesprochene Übertragung der Zuständigkeit an das Bezirksgericht Floridsdorf genehmigt wurde, den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2022:0010OB00102.22I.0622.000

 

Spruch:

Dem Rekurs wird nicht Folge gegeben.

 

Begründung:

[1] Die Obsorge für das inzwischen 7‑jährige Kind kommt beiden Eltern gemeinsam zu. Das Kind wird hauptsächlich im Haushalt der Mutter betreut.

[2] Beim Bezirksgericht Mistelbach ist seit Jänner 2017 (mit einer kurzen Ausnahme von November 2018 bis Oktober 2019, als das Verfahren dem Bezirksgericht Mödling übertragen war) ein Verfahren auf Regelung der Kontakte des Vaters zum Kind anhängig. Im September 2020 erhob die Mutter schwerwiegende Vorwürfe gegen den Vater. Seitdem besteht kein Kontakt zwischen dem Vater und dem Kind mehr. Zuletzt beantragte der Vater unter anderem, die Obsorge für den Minderjährigen dem Kinder‑ und Jugendhilfeträger zu übertragen und ein Gutachten zur Abklärung der Erziehungsfähigkeit der Mutter einzuholen. Am 17. 9. 2021 beantragte die Mutter die Übertragung der Zuständigkeit nach § 111 JN an das Bezirksgericht Floridsdorf.

[3] Mit Beschluss vom 20. 1. 2022 übertrug das Bezirksgericht Mistelbach die Zuständigkeit zur Besorgung der Pflegschaftssache gemäß § 111 JN an das Bezirksgericht Floridsdorf. Da inzwischen sämtliche Verfahrensbeteiligte in Wien lebten, sei eine Übertragung jedenfalls zweckmäßig.

[4] Das Bezirksgericht Floridsdorf lehnte die Übernahme der Zuständigkeit unter Hinweis auf die offenen Anträge ab.

[5] Die Parteien erhoben keinen Rekurs gegen den (ihnen am 16. 2. 2022 zugestellten) Übertragungsbeschluss des Bezirksgerichts Mistelbach. Dieses legte den Pflegschaftsakt dem Oberlandesgericht Wien zur Entscheidung vor.

[6] Mit dem angefochtenen Beschluss genehmigte das Oberlandesgericht Wien die Übertragung der Zuständigkeit. Im Hinblick darauf, dass das Kind seinen Lebensmittelpunkt in den Sprengel des Bezirksgerichts Floridsdorf verlegt habe, erscheine die weitere Führung des Verfahrens durch dieses Bezirksgericht im Interesse des Kindeswohls zweckmäßig. Offene Anträge stünden einer Zuständigkeitsübertragung im Allgemeinen nicht entgegen, weil es ausschließlich darauf ankomme, welches Gericht eher in der Lage sei, die Lebenssituation aller Beteiligten zu erforschen. Eine – die Übertragung ausnahmsweise hindernde – besondere Sachkenntnis komme dem übertragenden Gericht hier nicht zu.

[7] Der dagegen gerichtete Rekurs des Vaters zielt auf eine Änderung des Beschlusses dahin ab, dass dem Übertragungsbeschluss die Genehmigung versagt werde.

[8] Dem trat die Mutter in ihrer Rekursbeantwortung entgegen.

[9] Der Rekurs ist nicht berechtigt.

Rechtliche Beurteilung

[10] 1. Gemäß § 111 Abs 2 zweiter Satz JN bedarf die von einem Gericht beschlossene Übertragung der Zuständigkeit zur Besorgung der pflegschaftsgerichtlichen Geschäfte dann, wenn das andere Gericht die Übernahme verweigert, zu ihrer Wirksamkeit der Genehmigung des den beiden Gerichten zunächst übergeordneten gemeinsamen höheren Gerichts.

[11] Nach herrschender Rechtsprechung setzt eine Entscheidung nach § 111 Abs 2 JN die Rechtskraft des Übertragungsbeschlusses voraus (RIS‑Justiz RS0047067; RS0128772). In diesem Fall ist der Übertragungsbeschluss unbekämpft in Rechtskraft erwachsen.

[12] 2. Nach der Entscheidung 6 Ob 154/13k ist der Beschluss, mit dem die Übertragung vom übergeordneten Gericht genehmigt wird, zwar grundsätzlich von allen Parteien anfechtbar. Allerdings sind die Rechtsmittelgründe beschränkt, weil der Gesetzgeber der 1. Gerichtsentlastungsnovelle mit Einführung der Zuständigkeitsübertragung nach § 111 JN eine rasche Übertragung der Zuständigkeit aller oder einzelner Pflegschaftsgeschäfte an ein anderes Gericht ermöglichen wollte (6 Ob 154/13k unter Hinweis auf 537 der Beilagen zu den sten. Prot. des Abgeordnetenhauses, XXI. Session, S. 42 ff., ähnlich der Durchführungserlass vom 2. Juni 1914 JMVBl Nr 43). Dieser Zweck des Gesetzes würde unterlaufen, wenn sowohl der Übertragungsbeschluss als auch der Beschluss über die Annahme der Übertragung bzw die Genehmigung der Übertragung umfassend anfechtbar wären.

[13] Die Frage der Zweckmäßigkeit der Übertragung ist bereits im Rahmen des Übertragungsbeschlusses zu prüfen; die diesbezügliche Entscheidung des übertragenden Gerichts kann von den Parteien ohnedies bekämpft werden. Im Verfahren über die Genehmigung der Übertragung kann hingegen die Frage der Zweckmäßigkeit der Übertragung von den Parteien nicht neuerlich aufgerollt werden. In diesem Fall könnten die Parteien ihr Rechtsmittel nur auf andere Gründe als die fehlende Zweckmäßigkeit der Übertragung stützen (6 Ob 154/13k = RS0047005 [T2]; 9 Ob 65/14w).

[14] 3. Obgleich der Rekurswerber diese Rechtslage selbst erkennt, laufen seine Rechtsmittelausführungen ausschließlich darauf hinaus, dass die Zuständigkeitsübertragung nicht im Interesse des Kindeswohls liege und daher unzweckmäßig sei. Insbesondere meint er, durch die Übertragung käme es trotz dringend zu fällender Entscheidungen zu weiteren Verfahrensverzögerungen. Das Bezirksgericht Mistelbach sei hingegen bereits eingearbeitet und mit dem Pflegschaftsakt vertraut, sodass es am ehesten über die offenen Anträge entscheiden könne.

[15] Diesen Argumenten kann kein Erfolg beschieden sein, weil der Rekurswerber entsprechend der dargestellten Rechtsprechung die fehlende Zweckmäßigkeit der Übertragung in diesem Verfahrensstadium nicht mehr geltend machen darf.

[16] Dem unbegründeten Rekurs ist daher nicht Folge zu geben.

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