OGH 6Ob154/13k

OGH6Ob154/13k9.9.2013

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Hon.‑Prof. Dr. Pimmer als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofs Dr. Schramm, Dr. Gitschthaler, Univ.‑Prof. Dr. Kodek und Dr. Nowotny als weitere Richter in der Pflegschaftssache des mj D***** N*****, geboren am 19. April 1997, derzeit aufhältig beim Kindesvater M***** N*****, über den Rekurs der Kindesmutter M***** N*****, vertreten durch Dr. Georg Zimmer, Rechtsanwalt in Salzburg, gegen den Beschluss des Landesgerichts Wiener Neustadt vom 16. Mai 2013, GZ 16 Nc 2/13m‑4, mit dem die mit Beschluss des Bezirksgerichts Wiener Neustadt vom 26. Februar 2013, GZ 9 PS 181/10v‑15, verfügte Übertragung der Zuständigkeit zur Führung der Pflegschaftssache an das Bezirksgericht Neunkirchen gemäß § 111 Abs 1 JN genehmigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

 

Spruch:

Dem Rekurs wird nicht Folge gegeben.

Begründung

Die Ehe der Kindeseltern wurde im Jahr 2009 geschieden. Der Minderjährige ist derzeit 16 Jahre alt. Mit pflegschaftsgerichtlich genehmigtem Scheidungs-folgenvergleich vereinbarten die Eltern, dass die Obsorge für den mj D***** und seinen nunmehr 14‑jährigen Bruder M***** der Kindesmutter allein zukomme.

Am 26. 2. 2013 beantragte der Vater die Übertragung der Obsorge, wobei der mj D***** diesem Antrag ausdrücklich beitrat. Im Hinblick darauf, dass der Wohnsitz des Vaters und der Aufenthalt des mj D***** in S***** gelegen sei, beantragte der Vater die Übertragung der Zuständigkeit zur Weiterführung des Pflegschaftsverfahrens hinsichtlich des mj D***** an das Bezirksgericht Neunkirchen. Weiters regte er an, die Zuständigkeit betreffend M***** dem Bezirksgericht Salzburg zu übertragen, weil dieser im Haushalt seiner Mutter in S***** lebe.

Mit Beschluss vom 26. 2. 2013 verfügte das Bezirksgericht Wiener Neustadt die entsprechenden Zuständigkeitsübertragungen.

Das Bezirksgericht Neunkirchen lehnte die Übernahme der Zuständigkeit ab. Der mj D***** befindet sich erst seit zwei Tagen beim Vater, dies offenbar gegen den Willen der allein obsorgeberechtigten Mutter, der das Aufenthaltsbestimmungsrecht über den Minderjährigen zukomme. Eine Zuständigkeit des Bezirksgerichts Neunkirchen wäre daher nicht gegeben. Vielmehr wäre die Zuständigkeit für beide Minderjährigen an das Bezirksgericht Salzburg zu übertragen.

Mit Beschluss vom 2. 5. 2013 ermächtigte das Erstgericht den Kindesvater, den mj D***** in der Handelsschule, allenfalls auch Handelsakademie N***** anzumelden und erkannte diesem Ausspruch gemäß § 44 AußStrG vorläufige Verbindlichkeit zu. Den weiteren Antrag des Vaters, ihm die Vertretung in medizinischen Belangen zu übertragen, wies es ab. Unter einem legte es dem Pflegschaftsakt dem Landesgericht Wiener Neustadt zur Genehmigung der Zuständigkeitsübertragung an das Bezirksgericht Neunkirchen gemäß § 111 Abs 2 JN vor. Die Mutter sei mit beiden Kindern schon vor längerer Zeit nach S***** übersiedelt, ohne dies dem Pflegschaftsgericht bekannt zu geben. Dieser Umstand sei erst durch eine Vorsprache des Vaters mit D***** bekannt geworden; dabei habe sich herausgestellt, dass D***** nunmehr wiederum im Haushalt des Vaters in S***** lebe und auch dauerhaft hier bleiben und die Handelsschule in N***** besuchen möchte. Daher sei die Übertragung der Zuständigkeit an das Bezirksgericht Neunkirchen zweckmäßig.

Mit dem angefochtenen Beschluss genehmigte das Landesgericht Wiener Neustadt als übergeordnetes Gericht iSd § 111 Abs 2 JN die Übertragung der Zuständigkeit. Auch wenn über den Obsorgeübertragungsantrag des Vaters noch nicht entschieden sei, würden zu dessen Erledigung Anordnungen nötig sein, die einen speziellen Bezug zum neuen Aufenthaltsort von D***** hätten. Das Bezirksgericht Neunkirchen erscheine eindeutig besser in der Lage, die pflegschaftsbehördlichen Agenden zu besorgen, als das Bezirksgericht Wiener Neustadt.

Rechtliche Beurteilung

Gegen diesen Beschluss richtet sich der rechtzeitige Rekurs der Kindesmutter, dem keine Berechtigung zukommt.

1. Vorweg ist festzuhalten, dass der Oberste Gerichtshof im vorliegenden Fall ‑ anders als etwa in den Entscheidungen RIS‑Justiz RS0047067 ‑ nicht als „den beiden Gerichten zunächst übergeordnetes gemeinsames höheres Gericht“ eine Genehmigungsentscheidung nach § 111 Abs 2 JN zu fällen hat. Im vorliegenden Fall hat vielmehr das Landesgericht Wiener Neustadt als gemeinsames übergeordnetes Gericht nach § 111 Abs 2 JN die Übertragung der Zuständigkeit genehmigt; der Oberste Gerichtshof wurde lediglich als Rechtsmittelgericht angerufen. Der Umstand, dass die Kindesmutter ihr diesbezügliches Rechtsmittel als „Revisionsrekurs“ bezeichnet hat, schadet nicht; dabei handelt es sich um eine unschädliche bloße Fehlbezeichnung (vgl § 84 Abs 2 Satz 2 ZPO).

2.1. Der Oberste Gerichtshof hat bereits ausgesprochen, dass die funktionelle Eigenschaft des Gerichtshofs erster Instanz bei der Genehmigung der Übertragung der Zuständigkeit nach § 111 Abs 2 JN nicht anders zu beurteilen ist als jene zur amtswegigen Delegierung nach § 30 JN. Diesbezügliche Entscheidungen werden vom Gerichtshof erster Instanz in seiner Funktion als Rechtsmittelgericht getroffen, sodass der Rechtszug an den Obersten Gerichtshof geht (6 Ob 580/84 NZ 1985, 228; ebenso Fucik in Fasching 2 § 111 JN Rz 10). Dies entspricht auch der älteren Rechtsprechung, wonach der Oberste Gerichtshof bei der Delegierung nach § 30 JN zur Entscheidung über den Rekurs gegen den Delegierungsausspruch eines Landes‑ oder Kreisgerichts zuständig war (RIS‑Justiz RS0046049 = 5 Ob 542/81 = RZ 1982/35; ebenso Fasching , Kommentar 1 I 234).

2.2. Im Hinblick auf die gebotene Parallele zur Anfechtung von Delegierungsentscheidungen kann der gegenteiligen Ansicht von Mayr (in Rechberger , ZPO 3 § 111 JN Rz 6 sowie in NZ 1985, 229 [Entscheidungsanmerkung]; Ballon in Fasching 2 § 30 JN Rz 8) nicht gefolgt werden. Dem steht auch nicht entgegen, dass der Oberste Gerichtshof in der Entscheidung 1 Ob 151/69 (SZ 42/86) ausgesprochen hat, dass die Entscheidung der zuletzt genannten Gerichtshöfe keine Rechtsmittel-entscheidung ist, da sie in jedem Fall, also auch ohne Antrag einer Partei einzuholen ist, wenn das Gericht, dem die Pflegeschaft übertragen werden soll, die Übernahme ablehnt.

3.1. Nach Teilen der Lehre kann eine Entscheidung nach § 111 Abs 2 JN von den Parteien nur angefochten werden, wenn die Zuständigkeitsübertragung nicht genehmigt wird ( Mayr in Rechberger , ZPO 3 § 111 JN Rz 6). Auch die in RIS‑Justiz RS0047005 dokumentierten Entscheidungen befassen sich nur mit der Zulässigkeit des Rekurses gegen die Entscheidung des Oberlandesgerichts, mit der die Übertragung der Zuständigkeit zur Führung einer Pflegschaftssache an ein anderes Gericht nicht genehmigt wird. Alle dort dokumentierten Entscheidungen (5 Ob 151/69; 6 Ob 580/84; 6 Ob 630/86; 4 Ob 37/09h; 8 Ob 115/12p) betreffen Fälle, in denen die Übertragung nicht genehmigt und diese Entscheidung angefochten wurde.

3.2. Die Entscheidung, die dem Rechtssatz zugrundeliegt (5 Ob 151/69 SZ 42/86) behandelt jedoch offenbar genehmigende und die Genehmigung versagende Beschlüsse gleich und bejaht in beiden Fällen die Anfechtbarkeit.

3.3. Auch in der Lehre wird teilweise davon ausgegangen, dass sowohl erteilende als auch versagende Beschlüsse im Verfahren nach § 111 Abs 2 JN anfechtbar sind ( Fucik in Fasching 2 § 111 JN Rz 10).

3.4. Zu berücksichtigen ist allerdings, dass der Gesetzgeber der 1. Gerichtsentlastungsnovelle mit Einführung der Zuständigkeitsübertragung nach § 111 JN eine rasche Übertragung der Zuständigkeit aller oder einzelner Pflegschaftsgeschäfte an ein anderes Gericht ermöglichen wollte (537 der Beilagen zu den sten. Prot. des Abgeordnetenhauses, XXI. Session, S. 42 ff., ähnlich der Durchführungserlass vom 2. Juni 1914 JMVBl Nr. 43).

3.5. Dieser Zweck des Gesetzes würde unterlaufen, wenn sowohl der Übertragungsbeschluss als auch der Beschluss über die Annahme der Übertragung bzw die Genehmigung der Übertragung (falls das Gericht, an das das Verfahren übertragen werden soll, die Übernahme abnimmt) umfassend anfechtbar wären (vgl auch SZ 42/86).

3.6. Nun kann in Hinblick auf die generelle Anordnung des § 45 AußStrG keinem Zweifel unterliegen, dass der Beschluss, mit dem die Übertragung angenommen oder ‑ wie im vorliegenden Fall ‑ vom übergeordneten Gericht genehmigt wird, grundsätzlich anfechtbar ist. Insoweit gelten die Ausführungen der Entscheidung SZ 42/86 auch für die neue Rechtslage nach dem AußStrG 2003.

3.7. Damit ist aber über den Umfang der Überprüfung nichts ausgesagt: Die Frage der Zweckmäßigkeit der Übertragung ist bereits im Rahmen des Übertragungsbeschlusses zu prüfen; die diesbezügliche Entscheidung des übertragenden Gerichts kann von den Parteien ohnedies bekämpft werden. Im Beschluss über die Genehmigung der Übertragung kann hingegen die Frage der Zweckmäßigkeit der Übertragung von den Parteien nicht neuerlich aufgerollt werden. In der Entscheidung SZ 42/86 hatte der Oberste Gerichtshof keine Veranlassung, auf diese Frage einzugehen, weil das übergeordnete Gericht ohnedies die Genehmigung der Übertragung verweigert hatte und der Rekurswerber zudem keine inhaltlichen Argumente für die Übertragung geltend machte.

3.8. Daraus ergibt sich, dass die Parteien zwar die Versagung der Genehmigung der Übertragung unbeschränkt bekämpfen und damit der Umsetzung der rechtskräftigen Übertragungsentscheidung des übertragenden Gerichts zum Durchbruch verhelfen können. Anders verhält es sich hingegen bei der Genehmigung der Übertragung durch das übergeordnete Gericht. In diesem Fall hatten die Parteien bereits die Möglichkeit, die Zweckmäßigkeit der Übertragung gegebenenfalls im Instanzenzug überprüfen zu lassen. In diesem Fall könnten die Parteien ihr Rechtsmittel nur auf andere Gründe als die fehlende Zweckmäßigkeit der Übertragung stützen. Solche Gründe werden im vorliegenden Fall von der Rekurswerberin aber nicht geltend gemacht.

4.1. Im Übrigen wäre dem Rekurs auch kein Erfolg beschieden, wenn eine umfassende nochmalige Nachprüfung der Zweckmäßigkeit der Übertragung der Zuständigkeit zu erfolgen hätte: Die Übertragung der Zuständigkeit gemäß § 111 Abs 1 JN setzt voraus, dass das übertragende Gericht auch bisher nach dem Gesetz zuständig war. Andernfalls hat es in jeder Lage des Verfahrens seine Unzuständigkeit auszusprechen und die Sache an das zuständige Gericht zu überweisen (vgl RIS‑Justiz RS0107254, RS0109369).

4.2. § 29 JN gilt auch für das Außerstreitverfahren. Die einmal begründete Zuständigkeit des Pflegschaftsgerichts bleibt daher auch bei nachträglichen Sachverhaltsänderungen bestehen. Auch bei ehelichen Kindern ist das Einschreiten des Pflegschaftsgerichts nicht mit dem Abschluss einzelner Maßnahmen iSv § 29 JN beendet. Die Übertragung der Zuständigkeit an ein anderes Gericht ist nur auf dem in § 111 JN vorgezeichneten Weg möglich (4 Nc 15/06p, RIS‑Justiz RS0046068, RS0046156).

4.3. Damit war im vorliegenden Fall das übertragende Bezirksgericht Wiener Neustadt zuständig, auch wenn der Minderjährige seit 2010 seinen Wohnsitz nicht mehr in dessen Sprengel hatte (vgl § 109 JN).

4.4. Ausschlaggebendes Kriterium der Übertragung der Zuständigkeit zur Führung der Pflegschaftssache für Minderjährige ist stets das Kindeswohl. Ersparte Zeit und Mühe des gesetzlichen Vertreters komme letztlich auch dem Kind zugute (RIS‑Justiz RS0047074). Die Übertragung der Zuständigkeit an ein anderes Gericht nach § 111 JN setzt voraus, dass dies im Interesse des Pflegebefohlenen gelegen erscheint. Dies trifft dann zu, wenn dadurch die wirksame Handhabung des dem Pflegebefohlenen zugedachten Schutzes voraussichtlich gefördert wird (RIS‑Justiz RS0046929). Allein unter dem Gesichtspunkt des Wohles des Kindes ist auch der Fall zu beurteilen, dass der Pflegebefohlene seinen ständigen Aufenthalt und somit den Mittelpunkt seiner gesamten Lebensführung und wirtschaftlichen Existenz in einen anderen Gerichtssprengel verlegt (RIS‑Justiz RS0046908).

4.5. Erscheint die gesetzliche Zuweisung iSd § 109 JN nach den Umständen des Einzelfalls unzweckmäßig, sieht § 111 JN eine Anpassung an die besondere Fallgestaltung vor (RIS‑Justiz RS0046990). In der Regel wird es den Interessen des pflegebefohlenen Kindes entsprechen, wenn als Pflegschaftsgericht jenes Gericht tätig wird, in dessen Sprengel sein gewöhnlicher Aufenthalt und der Mittelpunkt seiner Lebensführung liegt. § 111 JN nimmt darauf Bedacht, dass ein örtliches Naheverhältnis zwischen dem Pflegschaftsgericht und dem Pflegebefohlenen in der Regel zweckmäßig und von wesentlicher Bedeutung ist (RIS‑Justiz RS0047300 [T1, T19], RS0049144).

4.6. Offene Anträge sprechen im Allgemeinen nicht gegen eine Zuständigkeitsübertragung, es sei denn, dem übertragenden Gericht käme zur Entscheidung eine besondere Sachkenntnis zu (RIS‑Justiz RS0047032, RS0046972). Ist über den Antrag eines Elternteils, ihm allein die Obsorge über das Kind zuzuweisen, noch nicht entschieden, dann ist die Übertragung der Zuständigkeit an ein anderes Gericht in aller Regel unzweckmäßig. Grund dafür ist vor allem, dass vor Entscheidung über den Obsorgeantrag noch nicht feststeht, ob das Kind im Sprengel des Gerichts bleiben wird, an das die Zuständigkeit übertragen werden soll. Die Prüfung der Zweckmäßigkeit der Zuständigkeitsübertragung während eines aufrechten Obsorgestreits hat sich ausschließlich daran zu orientieren, welches Gericht die für die Entscheidung maßgeblichen Umstände sachgerechter und umfassender beurteilen kann. Bei der Gesamtbeurteilung der für die Übertragung der Elternrechte maßgebenden Kriterien ist stets von der aktuellen Lage auszugehen; Zukunftsprognosen sind mit einzubeziehen (RIS‑Justiz RS0047027 [T2, T5]).

4.7. Im vorliegenden Fall besteht bereits seit 2010 überhaupt kein Anknüpfungspunkt mehr zum Sprengel des übertragenden Gerichts. Der Minderjährige hat seinen Aufenthalt seit mehreren Monaten im Sprengel desjenigen Gerichts, an das das Verfahren übertragen wurde. Daran wird sich voraussichtlich auch nichts ändern, zumal die Kindesmutter ausdrücklich ihr Einverständnis erklärt hat, dass der Minderjährige die Handelsschule in N***** besucht. Bei dieser Sachlage erscheint aber die Übertragung der Zuständigkeit an das Bezirksgericht Neunkirchen jedenfalls zweckmäßig, sodass dem unbegründeten Rekurs ein Erfolg zu versagen war.

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