OGH 10ObS48/22i

OGH10ObS48/22i20.4.2022

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Vizepräsidenten Univ.‑Prof. Dr. Neumayr als Vorsitzenden sowie die Hofräte Mag. Ziegelbauer und Dr. Annerl als weitere Richter (Senat nach § 11a Abs 3 Z 2 ASGG) in der Sozialrechtssache der klagenden Partei J*, vertreten durch Hauer-Puchleitner-Majer Rechtsanwälte OG in Gleisdorf, gegen die beklagte Partei Versicherungsanstalt öffentlich Bediensteter, Eisenbahnen und Bergbau, Josefstädter Straße 80, 1081 Wien, wegen Kostenerstattung und Feststellung, über den Rekurs der klagenden Partei gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts Graz als Rekursgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 1. Februar 2022, GZ 6 Rs 5/22 k‑23, womit der (als Berufung bezeichnete) Rekurs des Klägers gegen den (als Urteil bezeichneten) Beschluss des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Graz als Arbeits- und Sozialgericht vom 25. Oktober 2021, GZ 36 Cgs 86/21x‑19, zurückgewiesen wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2022:010OBS00048.22I.0420.000

Rechtsgebiet: Zivilrecht

 

Spruch:

Dem Rekurs wird Folge gegeben.

Der angefochtene Beschluss wird aufgehoben. Die Sozialrechtssache wird an das Rekursgericht zur neuerlichen Entscheidung über den Rekurs der klagenden Partei unter Abstandnahme vom gebrauchten Zurückweisungsgrund zurückverwiesen.

Die Rekurskosten sind weitere Verfahrenskosten.

 

Begründung:

[1] Mit Bescheid vom 8. April 2021 lehnte die Beklagte den Antrag des Klägers vom 7. Jänner 2021 auf Kostenerstattung für (näher bezeichnete) Rezeptgebühren im Rahmen der Unfallheilbehandlung ab.

[2] Mit seiner dagegen erhobenen Klage begehrte der Kläger (nach mehrmaliger, zuletzt in ON 17 erfolgter Einschränkung) eine Kostenerstattung von 239,40 EUR samt 4 % Zinsen daraus ab 16. April 2021 sowie die Feststellung seiner Erkrankung als Berufskrankheit.

[3] Die Beklagte beantragte die Abweisung der Klage. Als Berufskrankheiten würden ausschließlich die in der Anlage 1 des ASVG bezeichneten Krankheiten unter den dort angeführten Voraussetzungen gelten. Es liege auch kein Fall der Generalklausel des § 92 Abs 2 B-KUVG vor.

[4] Das Erstgericht verpflichtete die Beklagte zur Kostenerstattung von 239,40 EUR. Das Zinsenbegehren sowie das Kostenmehrbegehren wies es ab und das Feststellungsbegehren zurück. Die Abweisung des Zinsenbegehrens stützte es auf die Rechtsprechung, wonach Verzugszinsen für Leistungen nach den Sozialversicherungsgesetzen nicht gebührten. Die Zurückweisung des Feststellungsbegehrens begründete es damit, dass die Beklagte mit dem bekämpften Bescheid über das Vorliegen einer Berufskrankheit nicht entschieden habe und eine Säumnis der Beklagten nicht behauptet worden sei.

[5] Mit dem angefochtenen Beschluss wies das Rekursgericht den ausschließlich gegen die Zurückweisung des Feststellungsbegehrens gerichteten und als „Berufung“ bezeichneten Rekurs des Klägers als verspätet zurück. Das Erstgericht habe die Klage trotz Unzulässigkeit des Rechtswegs unrichtigerweise in Urteilsform zurückgewiesen. Dagegen stehe nur das Rechtsmittel des Rekurses zu, sodass die erhobene Berufung als solcher zu behandeln sei. Er sei aber nicht innerhalb der Rekursfrist eingebracht worden. Dem Kläger komme die Rechtsprechung, wonach sämtliche in einem einheitlichen Erkenntnis zusammengefassten Entscheidungen, für die bei gesonderter Ausfertigung unterschiedliche Rechtsmittelfristen gelten würden, innerhalb der längsten jeweils zur Verfügung stehenden Rechtsmittelfrist angefochten werden könnten, nicht zugute, weil der Kläger hinsichtlich des Leistungsbegehrens mit Ausnahme des Zinsenbegehrens zur Gänze obsiegt habe, womit nur die Anfechtung der Zurückweisung des Klagebegehrens in Bezug auf die begehrte Feststellung in Betracht gekommen sei, die der Kläger auch ausschließlich mit seinem als Berufung bezeichneten Rechtsmittel bekämpft habe. Dem Kläger sei daher nur die 14‑tägige Rekursfrist für die Erhebung des Rechtsmittels zur Verfügung gestanden.

[6] Dagegen richtet sich der Rekurs des Klägers, mit dem er die Abänderung der Entscheidung des Rekursgerichts im Sinne einer vollinhaltlichen Stattgebung der Klage anstrebt; hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.

[7] Die Beklagte hat keine Rekursbeantwortung erstattet.

Rechtliche Beurteilung

[8] Der Rekurs ist zulässig und im Sinne des hilfsweise gestellten Aufhebungsantrags berechtigt.

[9] 1. Richtet sich ein Rechtsmittel gegen einen Zurückweisungsbeschluss, der im anhängigen Verfahren auf die abschließende Verweigerung des Rechtsschutzes nach einer Klage hinausläuft, ist nach ständiger Rechtsprechung für die Beurteilung von dessen Zulässigkeit § 519 Abs 1 Z 1 ZPO analog anzuwenden (RS0043802 [T4]). Dies wurde auch für den hier vorliegenden Fall bejaht, dass eine Berufung vom Gericht zweiter Instanz in einen Rekurs umgedeutet und wegen Verspätung zurückgewiesen worden war (10 ObS 77/19z; 8 Ob 169/18p). Das Rechtsmittel ist daher ungeachtet des Vorliegens einer Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung als „Vollrekurs“ zulässig (5 Ob 225/21f; 10 ObS 77/19z; 4 Ob 233/16t).

[10] 2.1. Soweit der Kläger im Rekurs die Ansicht vertritt, dass die Zurückweisung des Feststellungsbegehrens zu Recht in Urteilsform erfolgt (und ihm daher das Rechtsmittel der Berufung zugestanden) sei, weil die Entscheidung tatsächlich als „Abweisung gedacht“ gewesen sei, ist ihm nicht zu folgen.

[11] 2.2. Die Anfechtbarkeit einer Entscheidung bestimmt sich nicht nach dem tatsächlichen oder vermeintlichen Entscheidungswillen des Gerichts, sondern nach der gesetzlich vorgesehenen Entscheidungsform (RS0036324 [T12]), sofern das Gericht entsprechend dem Gesetz vorgehen wollte (vgl RS0110742). Das Erstgericht brachte in seinen Entscheidungsgründen unzweifelhaft zum Ausdruck, dass das Feststellungsbegehren (anders als das Leistungsbegehren, über das es meritorisch entschied) zurückzuweisen sei, weil darüber im bekämpften Bescheid nicht abgesprochen worden sei. Wird eine Klage nach § 67 Abs 1 Z 1 ASGG erhoben, obwohl kein Bescheid vorliegt, liegt ein Fall der Rechtswegunzulässigkeit vor (RS0085867 [T14, T17]), sodass die Klage in jeder Lage des Verfahrens zurückzuweisen ist (§ 73 ASGG). Die dafür vorgesehene Entscheidungsform ist – wie das Rekursgericht zutreffend erkannte – der Beschluss, wogegen nur der Rekurs offen steht (RS0040285; RS0041859 [T8]). Die Umdeutung des Rechtsmittels des Klägers durch das Rekursgericht erfolgte daher zu Recht (RS0041859 [T5]; RS0036324 [T15]).

[12] 2.3. Soweit der Kläger darauf verweist, dass eine Zurückweisung wegen Unzulässigkeit des Rechtswegs bereits vor „Einlassung“ in die Hauptsache bzw „von Anfang an“ erfolgen hätte müssen, kommt es darauf nicht an. Maßgeblich für die Anfechtbarkeit ist der Inhalt der Entscheidung, nicht aber, welche Entscheidung bei rechtsrichtiger Beurteilung hypothetisch zu treffen gewesen wäre (RS0036324 [T18]). Nur der Vollständigkeit halber wird darauf verwiesen, dass die Unzulässigkeit des Rechtswegs in jeder Lage des Verfahrens – auch noch in dritter Instanz – von Amts wegen zu prüfen und eine Sanierung der fehlenden Prozessvoraussetzung durch rügeloses Einlassen nicht vorgesehen ist (10 ObS 58/06m; vgl RS0070782 [T2]).

[13] 3. Zutreffend zeigt der Kläger jedoch auf, dass für sein Rechtsmittel eine vierwöchige Frist offen stand und sein – innerhalb dieser vierwöchigen Frist eingebrachtes – Rechtsmittel nicht verspätet war.

[14] 3.1. Wenn in eine Ausfertigung mehrere Entscheidungen mit unterschiedlichen Rechtsmittelfristen aufgenommen wurden, gilt für deren Anfechtung einheitlich die längste der in Frage kommenden Rechtsmittelfristen (RS0002105; RS0041696). Dieser Grundsatz setzt voraus, dass der betreffenden Partei die Anfechtung jener Entscheidung offen steht, für die die längere Rechtsmittelfrist gelten würde (RS0041696 [T6]; RS0002105 [T13]). Ist dies der Fall, darf sie diese Frist in Anspruch nehmen, auch wenn sie sich letztlich dazu entscheidet, nur jene Entscheidung zu bekämpfen, die an sich der kürzeren Rechtsmittelfrist unterliegt (RS0041696 [T3]; RS0002105 [T10]).

[15] 3.2. Im vorliegenden Fall gab das Erstgericht einem Teil des Leistungsbegehrens statt und wies das Zinsenbegehren ab. Die Abweisung des Zinsenbegehrens stützte das Erstgericht auf die Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs, wonach für Leistungen nach den Sozialversicherungsgesetzen Verzugszinsen nicht gebühren (s RS0031997; RS0031982). Dagegen kam – entgegen der Rechtsansicht des Rekursgerichts – ein (zulässiges) Rechtsmittel in Betracht. Ob das Rechtsmittel bei einer meritorischen Behandlung für den Kläger erfolgversprechend war, ist dabei nicht entscheidend.

[16] 3.3. Da das Erstgericht über den Anspruch auf Verzugszinsen meritorisch entschied, erfolgte die Abweisung zutreffend in Urteilsform. Dagegen stand dem Kläger das Rechtsmittel der Berufung zu, für die eine vierwöchige Frist gilt. Die Rekursfrist gegen die – in dieselbe Ausfertigung aufgenommene – Zurückweisung des Feststellungsbegehrens endete somit ebenfalls erst nach vier Wochen, und zwar unabhängig davon, dass sich der Kläger letztlich dazu entschied, keine Berufung zu erheben.

[17] 3.4. Da der Kläger sein Rechtsmittel innerhalb der vierwöchigen Frist erhob, erweist sich die Zurückweisung durch das Rekursgericht als korrekturbedürftig.

[18] 4. Soweit der Rekursantrag des Klägers eine Entscheidung in der Sache selbst (über den vom Rekursgericht zurückgewiesenen Rekurs) anstrebt, kommt dies nicht in Betracht (RS0007037; vgl auch RS0005849). Dem Rekursgericht ist daher die neuerliche Entscheidung über den Rekurs des Klägers unter Abstandnahme vom gebrauchten Zurückweisungsgrund aufzutragen.

[19] 5. Der Kostenvorbehalt beruht auf § 52 ZPO. Das Rekursgericht wies den Rekurs von Amts wegen infolge Verspätung zurück und die Beklagte trat dem dagegen erhobenen Rekurs des Klägers nicht entgegen, sodass kein echter Zwischenstreit vorliegt (Obermaier, Kostenhandbuch3 Rz 1.334).

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