European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2022:008OBA00091.21X.0125.000
Spruch:
Dem Rekurs wird Folge gegeben.
Der angefochtene Beschluss wird aufgehoben.
Dem Berufungsgericht wird die neuerliche Entscheidung über die Berufung der klagenden Partei aufgetragen.
Die Kosten des Rekurses sind weitere Verfahrenskosten.
Begründung:
[1] Der Kläger betreibt als Inhaber eines ins Firmenbuch eingetragenen Einzelunternehmens insbesondere den Handel mit und die Überprüfung von Brandschutzprodukten. Der Beklagte war vom 1. 3. 1999 bis 30. 6. 2017 als Servicetechniker unselbständig beim Kläger beschäftigt. Als solcherbetreute ermehrere hundert ihm vom Kläger zugewiesenen Kunden, vor allem servicierte und wartete er Feuerlöscher.
[2] Am 6. 9. 2013 unterzeichneten die Parteien eine „Zusatzvereinbarung zum Dienstvertrag“, mit der sich der Beklagte dazu verpflichtete, auch nach Beendigung des Dienstverhältnisses Geschäfts- und/oder Betriebsgeheimnisse sowie betriebswirtschaftliche Angelegenheiten vertraulich und geheim zu halten und ausschließlich für Zwecke des Dienstgebers zu verwerten.
[3] Nach Beendigung des Dienstverhältnisses zum Kläger war der Beklagte eine Zeitlang als selbständiger Servicetechniker für Brandschutzanlagen tätig. Seit Dezember 2018 führt er als unselbständiger Servicetechniker für ein Drittunternehmen im Wesentlichen dieselbe Tätigkeit wie im Unternehmen des Klägers aus. Er betreut für seinen neuen Dienstgeber auch Kunden, die er zuvor schon für den Kläger betreut hat.
[4] Bereits am 8. 11. 2017 brachte der Kläger in einem Vorverfahren eine auf Unterlassung und Beseitigung gerichtete Klage gegen den Beklagten ein, weil dieser unter Verstoß gegen die vereinbarte Geheimhaltungspflicht ständig vom Kläger betreute Kunden abgeworben und mit diesen im Rahmen seiner selbständigen Tätigkeit eine Geschäftsbeziehung begründet habe. Mit Urteil des Oberlandesgerichts Wien vom 31. 5. 2021, AZ 8 Ra 26/21h, rechtskräftig seit 27. 7. 2021, wurde der Beklagte ua verpflichtet, „es im geschäftlichen Verkehr zu Zwecken des Wettbewerbs ab 19. 1. 2019 bei sonstiger Exekution zu unterlassen, sämtliche Kundendaten der klagenden Partei bestehend aus Namen, Telefonnummer, Email‑Adressen, Postadressen und sonstigen Kontaktdaten der Kunden der klagenden Partei, die der beklagten Partei während und durch ihre Tätigkeit bei der klagenden Partei zur Kenntnis gelangt sind, sowie ihre Kenntnis über bevorstehende Kundentermine und Preislisten der klagenden Partei auf welche Art auch immer zur Abwerbung von Kunden der klagenden Partei zu verwenden bzw zu verwerten“.
[5] Mit der am 30. 9. 2019 im Anlassverfahren eingebrachten Klage begehrte der Kläger, dem Beklagten zu verbieten, sämtliche Kundendaten des Klägers, bestehend aus Namen, Telefonnummer, Email‑Adressen, Postadressen und sonstigen Kontaktdaten der Kunden des Klägers, die dem Beklagten während und durch seine Tätigkeit beim Kläger zur Kenntnis gelangt sind, sowie seine während und durch seine Tätigkeit beim Kläger erlangte Kenntnis über bevorstehende Kundentermine, den Bedarf der Kunden des Klägers an Brandschutzdienstleistungen und die Preislisten des Klägers auf welche Art auch immer zur Abwerbung von Kunden des Klägers zugunsten seines neuen Arbeitgebers oder anderer Personen zu verwenden bzw zu verwerten. Dazu brachte er vor, er habe erstmals im April 2019 davon erfahren, dass der Beklagte unter Verstoß gegen die vertraglich vereinbarte Geheimhaltungsklausel (auch) Kunden des Klägers für seinen neuen Arbeitgeber abwerbe.
[6] Der Beklagte bestritt. Den im Hinblick auf das im Vorverfahren gestellte Unterlassungsbegehren erhobenen Einwand der Streitanhängigkeit bzw der entschiedenen Rechtssache zog er in der Tagsatzung vom 9. 1. 2020 zurück.
[7] Das Erstgericht wies die Klage ab. Ein Verstoß des Beklagten gegen die Geheimhaltungsvereinbarung habe nicht festgestellt werden können.
[8] Aus Anlass der Berufung des Klägers hob das Berufungsgericht das angefochtene Urteil und das der Urteilsfällung vorangegangene Verfahren als nichtig auf und wies die Klage zurück. Es liege eine abschließende, rechtskräftige Entscheidung im Vorverfahren über die – in beiden Verfahren nahezu wortgleiche – Unterlassungsverpflichtung des Beklagten hinsichtlich des Abwerbens von Kunden des Klägers vor. Auch das Vorbringen sei im Wesentlichen deckungsgleich. Die im Vorverfahren ausgesprochene Unterlassungsverpflichtung sei nicht auf das Abwerben von Kunden zugunsten der selbständigen Tätigkeit des Klägers beschränkt. Das nunmehr erhobene Unterlassungsbegehren sei daher bereits durch das mittlerweile rechtskräftige Urteil im Vorverfahren erledigt. Einer neuerlichen Entscheidung über dieselbe Unterlassungsverpflichtung des Beklagten stehe das Prozesshindernis der rechtskräftig entschiedenen Streitsache entgegen; vor Rechtskraft der Entscheidung des Oberlandesgerichts Wien im Vorverfahren sei Streitanhängigkeit vorgelegen. Da dieses Prozesshindernis übersehen worden sei, liege ein Nichtigkeitsgrund vor, der in jeder Lage des Verfahrens bis zur Rechtskraft der Entscheidung im zweiten Prozess zur amtswegigen Aufhebung des durchgeführten Verfahrens und der neuerlichen Entscheidung sowie zur Zurückweisung der Klage führen müsse.
Rechtliche Beurteilung
[9] Der gegen diese Entscheidung gerichtete Rekurs des Klägers ist zulässig und im Sinn des Aufhebungsantrags auch berechtigt.
[10] 1. Wenn das Berufungsgericht unter Nichtigerklärung des erstinstanzlichen Verfahrens und des Ersturteils die Klage (teilweise) zurückweist, ist sein Beschluss gemäß § 519 Abs 1 Z 1 ZPO stets, also unabhängig vom Streitwert und vom Vorliegen einer erheblichen Rechtsfrage, anfechtbar (RIS‑Justiz RS0043882 [T11]; 9 ObA 136/19v). Für die Anwendbarkeit der Anfechtungsbeschränkungen des § 528 Abs 2 ZPO muss das Erstgericht sich zumindest in den Entscheidungsgründen mit dem zur Klagezurückweisung führenden Nichtigkeitsgrund auseinandergesetzt haben. Die meritorische Erledigung des Klagebegehrens – wie hier – reicht nicht aus (vgl RS0116348 [T7]).
[11] 2.1 Die Zurückweisung einer Klage wegen Einmaligkeitswirkung der Rechtskraft setzt nach der Rechtsprechung die Identität der Parteien und der Ansprüche im Folgeprozess sowie im rechtskräftig entschiedenen Vorprozess voraus (vgl RS0041340; RS0108828). Ob idente Ansprüche vorliegen, ist nach den Streitgegenständen der beiden Verfahren zu beurteilen (RS0041340 [T1]). Die Einmaligkeitswirkung greift bei identem Begehren dann ein, wenn die rechtlich relevanten Tatsachenbehauptungen im Folgeprozess im Kern dem festgestellten rechtserzeugenden Sachverhalt des rechtskräftig entschiedenen Vorprozesses entsprechen (RS0039347 [T33]). Die Streitanhängigkeit ist dort ausgeschlossen, wo die Identität der rechtserzeugenden Tatsachen nur eine teilweise ist, also beim weiteren Anspruch zu dem im ersten Antrag vorgebrachten Tatsachen weitere rechtserzeugende Tatsachen behauptet werden (RS0039347 [T12]; RS0039196 [T7]). Weist das Begehren im Anlassverfahren gegenüber jenem im rechtskräftig entschiedenen Vorverfahren nur eine Einschränkung, sonst aber denselben Inhalt auf, und sind dementsprechend die entscheidungserheblichen Tatsachen ident, so greift die Einmaligkeitswirkung der materiellen Rechtskraft ein. Eine bloße Präzisierung der Tatsachenbehauptungen innerhalb des rechtserzeugenden Sachverhalts führt zu keiner Erweiterung bzw Ergänzung dieses Sachverhalts und zu keiner Änderung des Streitgegenstands (RS0128405).
[12] 2.2 Bei Unterlassungsansprüchen – wie hier – verneint der Oberste Gerichtshof in ständiger Rechtsprechung die Streitanhängigkeit, wenn der vom Kläger im Vorprozess erhobene Unterlassungsanspruch aus einem anderen Gesetzesverstoß abgeleitet wird als das später gestellte zweite Unterlassungsbegehren und es daher – ungeachtet des gleichlautenden Urteilsantrags – an der notwendigen Identität des rechtserzeugenden Sachverhalts mangelt (RS0039179; RS0039347 [T9]). Dem entspricht die Auffassung, dass selbst bei Vorliegen eines Exekutionstitels eine mit einem weiteren Gesetzesverstoß (gegen das Unterlassungsgebot) begründete Klage nicht wegen der Rechtskraft der Vorentscheidung zurückzuweisen, sondern mangels Rechtsschutzbedürfnisses abzuweisen ist (RS0037297; 6 Ob 210/03f). Zu fragen ist immer, ob das im ersten Verfahren bereits erwirkte Gebot einen tauglichen Exekutionstitel zur Abstellung auch des gesamten im zweiten Verfahren behaupteten Verhaltens bildet (RS0079417 [T5]; 4 Ob 5/20v [Punkt 2.2.]). Mangelndes Rechtsschutzbedürfnis ist hier allerdings nicht von Amts wegen zu beachten; die Einrede mangelnden Rechtsschutzbedürfnisses ist in erster Instanz zu erheben (RS0037297 [T6]).
[13] 3. Der Kläger berief sich schon im erstinstanzlichen Verfahren darauf, dass die Kunden, die der Beklagte im Rahmen seiner selbständigen Tätigkeit ab 1. 7. 2017 abgeworben habe, nicht ident mit jenen Kunden seien, die dieser – wovon der Kläger erst im April 2019 Kenntnis erlangt habe – für seinen (ab Dezember 2018) neuen Dienstgeber abgeworben habe.
[14] Damit liegen den dem Beklagten in den beiden Prozessen angelasteten Wettbewerbsverstöße zwei verschiedene Zeitspannen (während der selbständigen und während der unselbständigen Tätigkeit des Beklagten) und jeweils andere Kundenzugrunde.
[15] Obgleich derselbe Kläger gegen denselben Beklagten (im Wesentlichen) dasselbe Unterlassungsbegehren verfolgt (die geringfügigen Abweichungen wurden bei der Wiedergabe des Begehrens in Kursivschrift hervorgehoben), unterscheiden sich hier die für die Klagbarkeit des Anspruchs vorgetragenen Sachverhalte voneinander wesensmäßig, sodass die Gleichheit des Streitgegenstands zu verneinen ist (vgl RS0039346).
[16] Der angefochtene Beschluss war daher aufzuheben (vgl RS0109540). Das Berufungsgericht wirdüber die Berufung des Klägers zu entscheiden haben, ohne vom Prozesshindernis der rechtskräftig entschiedenen Streitsache auszugehen.
[17] Der Kostenvorbehalt beruht auf § 52 ZPO.
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