OGH 10ObS151/21k

OGH10ObS151/21k16.11.2021

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen durch den Vizepräsidenten Univ.‑Prof. Dr. Neumayr als Vorsitzenden, die Hofrätin Dr. Fichtenau und den Hofrat Mag. Ziegelbauer sowie die fachkundigen Laienrichter Dr. Martin Gleitsmann (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Mag. Herbert Böhm (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei A*, vertreten durch Dr. Thomas Majoros, Rechtsanwalt in Wien, gegen die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt, 1021 Wien, Friedrich‑Hillegeist‑Straße 1, wegen Alterspension, über die Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen vom 26. Mai 2021, GZ 10 Rs 32/21 f‑16, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Arbeits‑ und Sozialgerichts Wien vom 29. September 2020, GZ 21 Cgs 222/19v‑13, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2021:010OBS00151.21K.1116.000

 

Spruch:

Die Revision wird zurückgewiesen.

Die klagende Partei hat die Kosten des Revisionsverfahrens selbst zu tragen.

 

Begründung:

[1] Der am * 6. 1957 geborene Kläger beantragte am 10. 4. 2019 bei der beklagten Pensionsversicherungsanstalt die Zuerkennung einer vorzeitigen Alterspension bei langer Versicherungsdauer ab dem 1. 7. 2019.

[2] Mit Bescheid vom 12. 9. 2019 erkannte die beklagte Partei dem Kläger ab dem 1. 7. 2019 eine vorzeitige Alterspension bei langer Versicherungsdauer in Höhe von monatlich 3.186,96 EUR brutto zu.

[3] Der Kläger begehrt mit seiner Klage die Zuerkennung einer höheren vorzeitigen Alterspension bei langer Versicherungsdauer ab 1. 7. 2019. Der angefochtene Bescheid möge im Zeitpunkt seiner Erlassung rechtskonform ergangen sein. Ab dem 1. 1. 2020 sei jedoch § 236 Abs 4b ASVG anzuwenden, sodass die Pension des Klägers abschlagsfrei zu gewähren sei. Maßgeblich sei infolge der mit 1. 1. 2020 wirksam gewordenen Gesetzesänderung die Rechtslage zum Zeitpunkt des Schlusses der mündlichen Verhandlung erster Instanz. Durch die Klage sei in sinngemäßer Anwendung des § 86 ASGG ein neuer Stichtag, nämlich der 1. 1. 2020 ausgelöst worden.

[4] Die Beklagte wandte dagegen ein, dass die Zuerkennung der Pension nach der maßgeblichen Rechtslage zu den durch den Antrag ausgelösten Stichtag zu beurteilen sei. Sei der Anspruch zum Stichtag entstanden, könne eine nachträgliche Rechtsänderung keinen neuen Stichtag bewirken.

[5] Mit Urteil vom 29. 9. 2020 (= auch Datum des Schlusses der Verhandlung in erster Instanz) wies das Erstgericht das Klagebegehren auf Gewährung einer höheren, als der bescheidmäßig zuerkannten Pension ab. Dem Kläger sei die Pension zum Stichtag 1. 7. 2019 mit einem Abschlag von 12,25 % zuerkannt worden. Die Berechnung der Pension sei vom Kläger nicht substantiiert bestritten worden. Stichtagsverschiebungen seien nur zu berücksichtigen, wenn dadurch zu einem Zeitpunk nach der ursprünglichen Antragstellung die Zuerkennung einer Leistung aufgrund einer Änderung der Sach‑ oder Rechtslage möglich sei. Die Höhe einer Pension sei jedoch zum Stichtag zu ermitteln, eine nachträgliche Änderung der Rechtslage führe nicht zu einer Stichtagsverschiebung.

[6] Das Berufungsgericht gab der Berufung des Klägers, mit der er ausdrücklich nur mehr die Zuerkennung einer abschlagfreien höheren vorzeitigen Alterspension bei langer Versicherungsdauer ab 1. 1. 2020 begehrt, nicht Folge. Maßgeblich für die Berechnung der Höhe der dem Kläger zuerkannten Pension sei die Rechtslage zum Stichtag, der hier vor dem 1. 1. 2020 liege, sodass § 236 Abs 4b ASVG nicht anwendbar sei. § 727 Abs 1 Z 1 ASVG enthalte keine rückwirkende Anordnung der Geltung des § 236 Abs 4b ASVG. Die unterschiedliche Behandlung der Pensionsberechnung zu verschiedenen Stichtagen bewirke keine Verletzung des Gleichheitssatzes. Die Revision sei zulässig.

[7] Gegen diese Entscheidung richtet sich die von der beklagten Pensionsversicherungsanstalt nicht beantwortete Revision des Klägers, mit der er die Stattgebung des Klagebegehrens anstrebt.

Rechtliche Beurteilung

[8] Die Revision ist entgegen dem den Obersten Gerichtshof nicht bindenden Zulassungsausspruch unzulässig.

[9] 1. Der Kläger macht auch in der Revision geltend, dass es zu einer Stichtagsverschiebung auf den 1. 1. 2020 infolge der mit dem PAG 2020 eingetretenen Gesetzesänderung und Schaffung des § 236 Abs 4b ASVG kommen müsse. Auf diese sei von Amts wegen Bedacht zu nehmen, sobald die neue Regelung anzuwenden sei. Maßgeblich sei, dass die Gesetzesänderung wie hier vor Schluss der mündlichen Verhandlung erster Instanz eingetreten sei. § 86 ASGG sei bei Stichtagsverschiebungen sinngemäß anzuwenden.

[10] 2. Das Vorliegen einer erheblichen Rechtsfrage ist nach dem Zeitpunkt der Entscheidung über das Rechtsmittel durch den Obersten Gerichtshof zu beurteilen (RS0112769 [T9]; RS0112921). Eine im Zeitpunkt der Einbringung des Rechtsmittels tatsächlich aufgeworfene Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung ist nicht mehr als solche zu qualifizieren, wenn diese Rechtsfrage durch eine andere Entscheidung des Obersten Gerichtshofs bereits vorher geklärt wurde.

[11] 3.1 Der Oberste Gerichtshof hat sich mit den auch in diesem Verfahren zu behandelnden Rechtsfragen bereits umfassend in den jüngst ergangenen Entscheidungen 10 ObS 101/21g und 10 ObS 138/21y, je vom 19. 10. 2021, umfassend auseinandergesetzt. Die Entscheidung des Berufungsgerichts entspricht den in diesen Entscheidungen dargelegten Grundsätzen.

[12] 3.2 Der Versicherungsfall des Alters gilt mit der Erreichung des Anfallsalters für eine Alterspension als eingetreten (RS0111060). Beim Versicherungsfall handelt es sich um eine primäre Leistungsvoraussetzung der Pensionsversicherung (RS0110083). Gemäß § 223 Abs 2 ASVG hat die Feststellung, ob der Versicherungsfall (in der Pensionsversicherung) eingetreten ist, ausschließlich zu dem durch die Antragstellung ausgelösten Stichtag zu erfolgen (RS0111054). Die Frage, ob überhaupt der Versicherungsfall eingetreten ist, kann somit nur zum Stichtag geprüft werden. Die Bedeutung des Stichtags liegt nicht nur darin, dass zu diesem Zeitpunkt die allgemeinen Anspruchsvoraussetzungen zu prüfen sind; es sind vielmehr zu diesem Zeitpunkt auch die besonderen Anspruchsvoraussetzungen zu prüfen und auch der Anfall der Leistungen tritt regelmäßig mit dem Stichtag ein (§ 86 Abs 3 Z 2 ASVG; RS0085980; RS0084524). Dazu gehört auch die Beurteilung, in welchem Ausmaß eine Leistung gebührt (10 ObS 322/89 SSV‑NF 3/134), also auch die Entscheidung über die Pensionshöhe.

[13] 3.3 Der Versicherungsfall des Alters kann nach allen Systemen nur einmal eintreten. Er wird durch die Entscheidung eines Sozialversicherungsträgers über die Gewährung der (vorzeitigen) Alterspension nicht nur für den Bereich dieses Sozialversicherungsgesetzes, sondern auch für den Bereich der anderen Sozialversicherungsgesetze konsumiert (RS0107674).

[14] 3.4 Pensionsleistungen werden für die Zukunft zuerkannt. Eine – wie hier in Bezug auf § 236 Abs 4b ASVG – erst nach rechtskräftiger Zuerkennung der (vorzeitigen) Alterspension erfolgte Rechtsänderung vermag die Rechtskraft der Entscheidung über die Zuerkennung einer Pension nicht zu berühren (RS0085980 für eine erst während des Rechtsmittelverfahrens erfolgte Rechtsänderung).

[15] 3.5 § 236 ASVG regelt die Erfüllung der Wartezeit, einer sekundären Voraussetzung für den Erwerb eines Pensionsanspruchs (RS0106536). Diese Bestimmung ergänzt die für die vorzeitige Alterspension bei langer Versicherungsdauer vorhandenen Wartezeitregelungen in § 607 Abs 10 und 12 ASVG. Sie stellt überdies eine Vorschrift für die Berechnung einer solchen Pension dar (vgl Marek in Poperl/Trauner/Weißenböck, ASVG [72. Lfg] § 236 Rz 29; Sonntag in Sonntag, ASVG12 § 236 ASVG Rz 7). Weder der Wortlaut des § 236 Abs 4b ASVG noch jener des § 727 Abs 1 Z 1 ASVG enthalten einen Hinweis darauf, dass § 236 Abs 4b ASVG für bereits zuerkannte Alterspensionen mit einem Stichtag vor dem Inkrafttreten dieser Bestimmung am 1. 1. 2020 gelten sollen. Ausgehend vom bereits dargestellten Stichtagsprinzip in der Pensionsversicherung, das die Leistung nicht nur an den Eintritt des Versicherungsfalls (hier: des Alters), sondern auch an eine entsprechende formelle Antragstellung bindet, aber auch aus der systematischen Einordnung dieser Bestimmung, die die (sekundäre) Voraussetzung der Erfüllung der Wartezeit regelt, ergibt sich, dass § 236 Abs 4b ASVG nur auf die Berechnung von (ua) Alterspensionen anwendbar ist, deren Stichtag nach dem Inkrafttreten dieser Bestimmung, also am 1. 1. 2020 oder danach liegt (so auch Marek, Ab Stichtag 1. 1. 2020 kein Abschlag bei Hacklerpensionen für Männer [aber nicht immer], ARD 6672/5/2019; Marek in Poperl/Trauner/Weißenböck, ASVG [72. Lfg] § 236 ASVG Rz 31, 32, 37; Sonntag, ASVG12 § 236 ASVG Rz 7; Shubshizky, Neuauflage der „Hacklerregelung“, ASoK 2019, 396; implizit auch Weißensteiner, Aus für Abschlagsfreiheit - Neuer Frühstarterbonus kommt, DRdA‑infas 2021, 61 [62]; aA Beck, Pensionsanpassung, Pensionsbonus, abschlagfreie „Frühpension“ sowie Beitragsentlastung versus Sachlichkeitsgebot und Generationengerechtigkeit [Teil III], SozSi 2020, 123 [126]).

[16] 4.1 Damit ist der Versicherungsfall des Alters im vorliegenden Fall aufgrund des Antrags des Klägers auf Zuerkennung einer vorzeitigen Alterspension bei langer Versicherungsdauer am 1. 7. 2019 eingetreten. Zu diesem Stichtag wurde über den Anspruch des Klägers dem Grund und der Höhe nach entschieden. Dies umfasst auch den Abschlag in der unstrittigen Höhe von 12,25 %. Die mit 1. 1. 2020 eingetretene Gesetzesänderung ist auf die Berechnung der zu einem Stichtag vor diesem Datum zuerkannten Pension des Klägers nicht anzuwenden.

[17] 4.2 Es liegt hier – worauf bereits das Erstgericht hingewiesen hat – gerade kein Fall einer Stichtagsverschiebung vor: Denn weder ist der Fall verwirklicht, dass ein Anspruch auf eine Pension erst während des aufgrund des Leistungsantrags eingeleiteten Verfahrens entstanden wäre (RS0084533), noch der Fall, dass die Voraussetzungen für den Anspruch erst nach dem Stichtag eingetreten wären (in welchem Fall § 86 ASGG sinngemäß anzuwenden ist, RS0085973).

[18] 5. Mangels Aufzeigens einer Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung im Sinn des § 502 Abs 1 ZPO ist die Revision daher zurückzuweisen.

[19] Die Kostenentscheidung beruht auf § 77 Abs 1 Z 2 lit b ASGG. Gründe für einen Kostenzuspruch nach Billigkeit ergeben sich nicht aus der Aktenlage.

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