OGH 7Ob167/21s

OGH7Ob167/21s18.10.2021

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch die Senatspräsidentin Dr. Kalivoda als Vorsitzende und die Hofrätin und Hofräte Mag. Dr. Wurdinger, Mag. Malesich, Mag. Painsi und Dr. Weber als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei H* R*, vertreten durch Dr. Christof Joham und Mag. Andreas Voggenberger, Rechtsanwälte in Eugendorf, gegen die beklagte Partei D* AG *, vertreten durch Mag. Otmar Moser, Rechtsanwalt in Salzburg, wegen 25.375 EUR sA über die Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Linz als Berufungsgericht vom 28. Mai 2021, GZ 1 R 30/21v‑34, womit das Urteil des Landesgerichts Salzburg vom 4. Jänner 2021, GZ 10 Cg 15/20v‑29, bestätigt wurde, den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2021:E133241

Rechtsgebiet: Zivilrecht

 

Spruch:

Die Revision wird zurückgewiesen.

Die klagende Partei ist schuldig, der beklagten Partei die mit 1.647 EUR (darin enthalten 274,53 EUR an USt) bestimmten Kosten des Revisionsverfahrens binnen 14 Tagen zu ersetzen.

 

Begründung:

[1] Dem von den Parteien abgeschlossenen Unfallversicherungsvertrag liegen unter anderem die Allgemeinen Bedingungen für die Unfallversicherung 2007 idF 2012 (AUVB) zugrunde. Diese lauten auszugsweise:

Artikel 7 Was gilt bei vereinbarter Leistung dauernde Invalidität?

[...]

7. Steht der Grad der dauernden Invalidität nicht eindeutig fest, sind sowohl die versicherte Person als auch wir berechtigt, den Invaliditätsgrad jährlich bis vier Jahre ab dem Unfalltag ärztlich neu bemessen zu lassen, und zwar ab zwei Jahren nach dem Unfalltag auch durch die Ärztekommission.“

[2] Weder das Berufungsgericht noch der Kläger zeigen die Voraussetzungen des § 502 Abs 1 ZPO auf. Die Revision ist daher entgegen dem – den Obersten Gerichtshof nicht bindenden (§ 508a Abs 1 ZPO) – Ausspruch des Berufungsgerichts nicht zulässig. Die Zurückweisung eines ordentlichen Rechtsmittels wegen Fehlens einer erheblichen Rechtsfrage kann sich auf die Ausführung der Zurückweisungsgründe beschränken (§ 510 Abs 3 ZPO).

Rechtliche Beurteilung

[3] 1. Art 7.7 AUVB beinhaltet eine Ausschlussfrist. Wird die Antragstellung auf Neubemessung innerhalb von vier Jahren ab Unfalltag versäumt, bleibt es bei der bisherigen Bemessung des Invaliditätsgrades (RS0122119; RS0082292 [T11]; RS0116097 [T3]). Eine (weitere) Neubemessung für einen Zeitpunkt nach Fristablauf ist ausgeschlossen (RS0122119 [T6]; RS0082292 [T17] = RS0116097 [T8]). Wird eine Ausschlussfrist versäumt, so erlischt der Entschädigungsanspruch (RS0082292 [T5]; RS0033651). Der Rechtsverlust tritt auch dann ein, wenn die Geltendmachung des Rechts während ihrer Laufzeit unverschuldet unterblieben ist (RS0034591). Die durch Setzung einer Ausschlussfrist vorgenommene Risikobegrenzung soll damit im Versicherungsrecht (in aller Regel) eine Ab‑ und Ausgrenzung schwer aufklärbarer und unübersehbarer (Spät‑)Schäden bezwecken (vgl RS0082216).

[4] 2. Gegenstand des Revisionsverfahrens ist nur mehr die Frage, ob die Berufung der Beklagten auf die Ausschlussfrist des Art 7.7 AUVB gegen Treu und Glauben verstößt.

[5] 2.1 Der Fachsenat hat bereits mehrfach entschieden, dass die Berufung des Versicherers auf den Ablauf einer Ausschlussfrist gegen Treu und Glauben verstoßen kann (vgl RS0082222). Dies kommt insbesondere in Fällen in Betracht, in denen der Versicherer ein Verhalten gesetzt hat, durch welches der Versicherungsnehmer veranlasst wurde, seine Forderungen nicht fristgerecht geltend zu machen (vgl RS0016824; RS0082179).

[6] 2.2 Die fristgerechte Geltendmachung des Anspruchs soll hier nach den Behauptungen des Klägers zwar nicht am Verhalten des Versicherers, sondern in seiner mangelnden Geschäftsfähigkeit (nunmehr: Handlungs‑ und Entscheidungsfähigkeit) gelegen sein, die ihn daran gehindert haben soll, seine (allfälligen) Ansprüche verfolgen zu können.

[7] Zu dieser Frage hat der Oberste Gerichtshof bereits zu 7 Ob 47/19s (= RS0009084 [T5, T6]; RS0082179 [T8]) dahin Stellung genommen, dass solche Personen den besonderen Schutz der Gesetze (§ 21 Abs 1 ABGB) genießen. § 21 Abs 1 ABGB enthält nicht bloß eine programmatische Erklärung, die erst ihrer Konkretisierung durch andere gesetzliche Bestimmungen bedürfte. Vielmehr wird damit ganz generell der hohe Rang des Schutzinteresses nicht voll handlungsfähiger Personen festgelegt und eine umfassende Fürsorgepflicht des Gerichts für schutzberechtigte Personen angeordnet, die vor allem vor Übervorteilung im Geschäftsverkehr bewahrt werden sollen (RS0009084). Gerade gegenüber solchen schutzberechtigten Personen widerspricht die Berufung auf eine Ausschlussfrist ganz evident dem Grundsatz von Treu und Glauben. Entscheidungswesentlich ist dabei, ob die Geltendmachung eines Anspruchs auf Leistung für dauernde Invalidität – dort: innerhalb von 15 Monaten vom Unfalltag an – sowohl für den Versicherten als auch den Versicherungsnehmer tatsächlich an einer nach dem Unfall vorgelegenen geistigen Beeinträchtigung des Versicherten scheiterte.

[8] 2.2 Die nach Treu und Glauben zu entscheidende Frage, ob der Kläger aufgrund einer geistigen Beeinträchtigung seinen Anspruch auf Neubemessung innerhalb von vier Jahren vom Unfalltag an geltend machen konnte, hängt typischerweise von den Umständen des Einzelfalls ab.

[9] 2.2 Im vorliegenden Fall bestand innerhalb der vier Jahre keine durchgehende depressive Phase beim Kläger, während der seine Fähigkeiten herabgesetzt waren. Vielmehr konnten durch Medikation und Therapien wiederholt – wenn auch zum Teil kurze – Phasen von Tagen, Wochen und Monaten erreicht werden, in denen sich die Stimmung und der Antrieb des Klägers zum Teil vollkommen normalisierten bzw in denen er keine Symptome aufwies, in denen er keinen Einschränkungen unterlag und in denen er insbesondere auch mit der Beklagten eine umfangreiche versicherungsbezogene Korrespondenz führte. Wenn die Vorinstanzen daher im konkreten Einzelfall davon ausgingen, dass der Antrag auf Neubemessung binnen vier Jahren ab Unfalltag nicht an einer nach dem Unfall vorgelegenen geistigen Beeinträchtigung des Klägers gescheitert sei und daher die Berufung der Beklagten auf die Ausschlussfrist des Art 7.7 AUVB nicht Treu und Glauben widerspreche, stellt dies keine korrekturbedürftige Fehlbeurteilung dar.

[10] 3. Dieser Beschluss bedarf keiner weiteren Begründung (§ 510 Abs 3 ZPO).

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