OGH 7Ob147/21z

OGH7Ob147/21z15.9.2021

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch die Senatspräsidentin Dr. Kalivoda als Vorsitzende und die Hofrätin und Hofräte Mag. Dr. Wurdinger, Mag. Malesich, Dr. Stefula und Dr. Weber als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei E* N*, vertreten durch Dr. Ralph Mayer, Rechtsanwalt in Wien, gegen die beklagte Partei G* AG, *, vertreten durch Kueß & Beetz Rechtsanwälte Partnerschaft in Wien, wegen 7.948,27 EUR sA, über die Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Handelsgerichts Wien als Berufungsgericht vom 15. Februar 2021, GZ 1 R 289/20a‑31, womit das Urteil des Bezirksgerichts für Handelssachen Wien vom 14. September 2020, GZ 14 C 303/19i‑27, bestätigt wurde, den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2021:E132984

 

Spruch:

Der Revision wird Folge gegeben.

Die Entscheidungen der Vorinstanzen werden aufgehoben und die Rechtssache wird zur neuerlichen Entscheidung nach Verfahrensergänzung an das Erstgericht zurückverwiesen.

Die Kosten des Rechtsmittelverfahrens sind weitere Verfahrenskosten.

 

Begründung:

[1] Zwischen dem Kläger und der Beklagten besteht ein Kranken‑ und Unfallversicherungsvertrag, in dem der Sohn des Klägers mitversichert ist.

[2] Die Mitversicherung des Sohnes im Rahmen der Krankenversicherung beinhaltet die Gesundheitsvorsorge „MedCare: Sonderklasse nach Unfall und Krankenhaus‑Tagegeld“, die die Erbringung von Leistungen für die Behandlung von Unfallfolgen innerhalb von 2 Jahren nach dem Unfall vorsieht und „MedCare: Option auf Sonderklasse“.

[3] Der Gesundheitsvorsorge liegen die Allgemeinen Versicherungsbedingungen für die Krankheitskosten‑ und Krankenhaustagegeldversicherung (AVBKV 2012), die Ergänzenden Versicherungsbedingungen für MedCare: Sonderklasse nach Unfall und MedCare: Sonderklasse nach Unfall und Krankenhaus‑Tagegeld – Tarife SHU und STHU (EB_SHU_STHU), das Krankenhausverzeichnis (KHVerEinzel) und die Ergänzenden Versicherungsbedingungen für die Option auf MedCare: Sonderklasse – Tarif SHO (EB_SHU) zugrunde.

[4] Der Unfallversicherung liegen die Allgemeinen Bedingungen für den Premium‑Unfallschutz (AUVB 2012) in der Fassung 7/2015 (in Hinkunft AUVB) zugrunde. Diese lauten auszugsweise:

Abschnitt A: Versicherungsschutz

Artikel 1

Was ist versichert?

Wir bieten Versicherungsschutz, wenn der versicherten Person ein Unfall zustößt.

Art und Umfang des Versicherungsschutzes ergeben sich aus der Polizze, den Allgemeinen Versicherungsbedingungen, vereinbarten Besonderen Bedingungen und den gesetzlichen Bestimmungen.

Art 2

Was gilt als Versicherungsfall?

Versicherungsfall ist der Eintritt eines Unfalls (Art 6 Was ist ein Unfall?)

[..]

Artikel 6

Was ist ein Unfall?

1. Ein Unfall liegt vor, wenn die versicherte Person durch ein plötzlich von außen auf ihren Körper wirkendes Ereignis (Unfallereignis) unfreiwillig eine Gesundheitsschädigung erleidet.

[...]

Abschnitt C Begrenzungen des Versicherungsschutzes

[...]

Artikel 20

Wofür wird keine Leistung erbracht?

Wann wird die Leistung gekürzt?

1. Eine Versicherungsleistung wird nur für die durch den eingetretenen Unfall hervorgerufenen Folgen (körperliche Schädigung oder Tod) erbracht.

2. Haben Krankheiten oder Gebrechen bei der durch ein Unfallereignis hervorgerufenen Gesundheitsschädigung oder deren Folgen mitgewirkt, ist im Fall einer Invalidität der Prozentsatz des Invaliditätsgrades, ansonsten die Leistung entsprechend dem Anteil der Krankheit oder des Gebrechens zu vermindern.

Dies gilt insbesondere auch wenn die Gesundheitsschädigung durch eine n abnützungsbedingten Einfluss mit Krankheitswert, wie beispielsweise Arthrose, mitversichert worden ist.

[...]“

[5] Am 22. 7. 2014 zog sich der Sohn des Klägers bei einem Unfall einen Riss des vorderen Kreuzbandes des rechten Kniegelenks, einen Riss des Außenmeniskus, eine Zerrung des inneren Seitenbandes sowie eine Knochen‑Knorpel-Impression am äußeren Femurcondylus mit Knochenmarködem zu.

[6] Bei einem Unfall während eines Fußballspiels am 30. 5. 2018 erlitt der Sohn des Klägers eine Zerrung des rechten Kniegelenks. Der bereits zuvor abgestorbene, nur mehr lose haftende Knorpelbezirk löste sich in der Belastungszone des äußeren Femurcondylus. Das Absterben des Knorpelbezirks hat seine Ursache in der Schädigung durch den Unfall im Juli 2014.

[7] Der Kläger begehrt aus dem Kranken‑ und Unfallversicherungsvertrag den Ersatz von für einen Aufenthalt in einer Privatklinik aufgewendeten Kosten (5.340 EUR), von Arztkosten (579,43 EUR) und von Kosten für Physiobehandlungen (2.221,64 EUR) abzüglich einer erhaltenden Refundierung von der W‑GKK in Höhe von 192,80 EUR, sohin insgesamt 7.948,27 EUR. Sein Sohn habe sich beim Unfall vom 30. 5. 2018 einen Knorpeldefekt am lateralen Femurcondylus zugezogen, der einen freien Gelenkskörper entwickelt habe; weiters sei eine Meniskusläsion am rechten Kniegelenk eingetreten. Die Operation nach dem Unfall vom 30. 5. 2018 sei nur deshalb notwendig gewesen, weil der freie Gelenkskörper entfernt habe werden müssen. Die vom Sohn des Klägers in Anspruch genommenen Leistungen und Behandlungen seien kausal und adäquat durch den Unfall vom 30. 5. 2018 verursacht worden. Art 20.2 AUVB sei zwar vereinbart, auf ihren Einwand durch die Beklagte allerdings mit Schreiben vom 16. 6. 2018 verzichtet worden. Es sei sohin kein Mitwirkungsgrad allfälliger Vorschäden in Abzug zu bringen.

[8] Die Beklagte beantragt die Abweisung des Klagebegehrens. Die Verletzung des rechten Knies mit Knorpelschaden und freiem Gelenkskörper aufgrund der der Sohn des Klägers am 12. 6. 2018 operiert worden sei, sei auf den Vorschaden im rechten Knie zurückzuführen, den er sich bereits beim Unfall im Jahr 2014 zugezogen habe. Das Unfallereignis aus 2018 sei am Eintritt der Folgen so unbedeutend gewesen, dass es nicht ins Gewicht falle. Es stelle höchstens eine „Gelegenheitsursache“ dar, sodass bereits vorbestehende Schäden dadurch lediglich aktiviert, aber nicht verursacht worden seien. Die Beklagte habe die Übernahme der begehrten Kosten zu Recht abgelehnt. Zudem betrage der gemäß Art 20.2 AUVB in Abzug zu bringende Mitwirkungsgrad der Vorschäden 100 %, sodass auch deshalb keine Leistungen von der Beklagten zu erbringen seien.

[9] Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab. Der Unfall des Sohnes des Klägers vom 30. 5. 2018 habe nicht die körperliche Schädigung ausgelöst, welche mit den klagsgegenständlichen Therapien bzw der Operation behandelt worden seien und die einen Krankenhausaufenthalt erforderlich gemacht hätte. Die Gesundheitsschädigung des Sohnes sei gerade nicht dem Unfall vom 30. 5. 2018, sondern jenem vom 22. 7. 2014 zuzurechnen. Weder aus der Unfallversicherung noch aus der Krankenversicherung des mitversicherten Sohnes des Klägers seien die geforderten Leistungen durch die Beklagte zu ersetzen.

[10] Das Berufungsgericht bestätigte dieses Urteil. Die Operation des Sohnes des Klägers am 12. 6. 2018, der Krankenhausaufenthalt sowie die Physiotherapien seien keine Folgen des Unfalls vom 30. 5. 2018. Sie seiendurch den Unfall vom Juli 2014 verursacht,der im Zeitpunkt des Anfalls der Kosten mehr als zwei Jahre zurückgelegen sei.Es bestehe eine vollständige Mitwirkung der Vorverletzungen. Mit dem in der Berufung erstatteten Vorbringen, die Beklagte habe auf den Einwand nach Art 20.2 AUVB verzichtet, verstoße der Kläger gegen das Neuerungsverbot.

[11] Das Berufungsgericht ließ nachträglich die ordentliche Revision mit der Begründung zu, der Kläger habe in seinem Antrag Gründe vorgebracht, die eine Vorlage an den Obersten Gerichtshof anzeigen würden, damit dieser prüfen könne, ob die Einschätzung des Berufungsgerichts, der Kläger habe gegen das Neuerungsverbot verstoßen, vertretbar sei.

[12] Gegen dieses Urteil wendet sich die Revision des Klägers mit einem Abänderungsantrag; hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.

[13] Der Beklagte begehrt, die Revision zurückzuweisen; hilfsweise ihr nicht Folge zu geben.

[14] Die Revision ist aus Gründen der Rechtssicherheit zulässig, sie ist auch berechtigt.

Rechtliche Beurteilung

[15] 1. Vorauszuschicken ist, dass die Rechtslage und Judikatur zu § 175 ASVG schon deshalb nicht auf den vorliegenden Fall übertragen werden kann, weil es sich hier um eine private, vertraglich vereinbarte Unfallversicherung handelt. Grundlage der Beurteilung ist der Versicherungsvertrag einschließlich AUVB 2012 idF 7/2015 (vgl 7 Ob 103/15w mwN). Die für den Bereich der Sozialgerichtsbarkeit entwickelten Grundsätze, dass als den Versicherungsfall auslösende Ursachen nur solche in Betracht kommen, die für den Erfolg eine wesentliche Bedingung waren und nicht bloß als „Gelegenheitsursache“ anzusehen sind (vgl RS0084318), ist nicht maßgeblich.

[16] 2.1.1 Nach der ständigen Rechtsprechung des erkennenden Fachsenats muss  in der privaten Unfallversicherung zwischen dem Unfallereignis, der Gesundheitsschädigung (Unfallereignisfolge) und der für den Leistungsanspruch relevanten Gesundheitsschäden (Unfallfolgen) ein adäquater Kausalzusammenhang bestehen (7 Ob 186/04k; 7 Ob 200/18i je mwN).

[17] 2.1.2 Ein Umstand ist für einen Erfolg ursächlich, wenn er ihn herbeigeführt, ihn bewirkt hat. Nach der Formel von der conditio sine qua non ist zu fragen, ob der Erfolg auch ohne den zu prüfenden Umstand eingetreten wäre. Dieser ist ursächlich für einen Erfolg, wenn er nicht weggedacht werden kann, ohne dass dann der Erfolg entfiele (RS0128162). Nach der Theorie von der adäquaten Kausalität ist ein ursächlicher Zusammenhang zwischen dem schädigenden Umstand und dem eingetretenen Schaden nicht nur dann anzunehmen, wenn der Umstand den eingetretenen Schaden unmittelbar verursacht hat; ein adäquater Kausalzusammenhang liegt vielmehr auch dann vor, wenn eine weitere Ursache für den entstandenen Schaden hinzugetreten ist und dieses Hinzutreten nicht außerhalb der allgemeinen menschlichen Erfahrung steht. Es kommt nur darauf an, ob nach den allgemeinen Kenntnissen und Erfahrungen das Hinzutreten des weiteren Umstands, wenn auch nicht normal, so doch wenigstens nicht ganz außergewöhnlich ist (RS0022546).

[18] 2.1.3 Den zum Erlangen einer Versicherungsleistung aus einer privaten Unfallversicherung erforderlichen adäquaten Kausalzusammenhang zwischen dem Unfallereignis, der Gesundheitsschädigung und der Unfallfolge muss im Zweifel der Versicherungsnehmer beweisen. Der Versicherer kann darüber hinaus den Beweis erbringen, dass die Beeinträchtigung auch ohne Unfall später mit Sicherheit eingetreten wäre (überholende Kausalität RS0080927 [T1]; 7 Ob 67/15a).

[19] 2.2.1 Art 20.2 AUVB enthält eine Regelung zur Leistungskürzung bei mitwirkenden Ursachen. Haben Krankheiten oder Gebrechen, die schon vor dem Unfall bestanden, bei der durch ein Unfallereignis hervorgerufenen Gesundheitsschädigung oder deren Folgen mitgewirkt, ist im Fall der Invalidität der Prozentsatz des Invaliditätsgrades ansonsten die Leistung entsprechend dem Anteil der Krankheit oder des Gebrechens zu vermindern.

[20] 2.2.2 Die Bestimmung sieht eine sachliche Begrenzung des Versicherungsschutzes insofern vor, als eine Versicherungsleistung nur für die durch den eingetretenen Unfall hervorgerufenen Folgen zu erbringen ist, der Versicherer also nur für die Folgen einzutreten hat, für die der Unfall (allein) kausal ist (RS0119520). Der durchschnittliche Versicherungsnehmer versteht diese Regelung so, dass unfallfremde Krankheiten oder Gebrechen grundsätzlich zu seinen Lasten gehen, nämlich zu einer Kürzung des Anspruchs oder einem Abzug von der Gesamtinvalidität führen (vgl 7 Ob 103/15w mwN).

[21] 2.3 Abgestellt wird nach Art 20.2 AUVB allein auf die Mitwirkung der Krankheiten oder Gebrechen auf die Unfallfolgen, nicht darauf, ob beim Unfallereignis selbst Vorerkrankungen mitgewirkt haben (7 Ob 103/15w mwN zu Art 18.3 AUVB 2005). Der Versicherer ist für die Mitwirkung von Gebrechen oder Krankheiten an den Unfallfolgen beweispflichtig. Bei der Frage eines Anteils eines Gebrechens oder einer Krankheit an den Unfallfolgen handelt es sich um eine nicht revisible Tatfrage (RS0119522; 7 Ob 103/15w).

[22] 3.1 Vor dem Hintergrund, dass das Erstgericht das Vorliegen einer „Gelegenheitsursache“ im Sinn des § 175 ASVG als maßgeblich erachtete, welcher Umstand auch in den Auftrag an die Sachverständige einfloss, erweisen sich die bisher getroffenen Feststellungen als nicht ausreichend für eine Beurteilung.

[23] 3.2 Vielmehr bedarf es eindeutiger Feststellungen, ob das (unstrittige) Unfallereignis im Sinn der obigen Ausführungen zum Lösen des Knorpelbezirks führte und ob dieser Umstand die vom Kläger angesprochenen Leistungen und damit die dafür aufgewendeten Kosten verursachte, oder ob allein das auf den Unfall von 2014 zurückzuführende Absterben des Knorpelbereichs – ohne Hinzutreten des gegenständlichen Unfallereignisses im Jahr 2018 – kausal war. Sollte das Unfallereignis aus 2018 (mit‑)kausal gewesen sein, müsste die Mitwirkungsquote der Vorschäden festgestellt und auf das im erstgerichtlichen Verfahren bereits erhobene Vorbringen des Klägers zum Verzicht auf den Einwand nach Art 20.2 AUVB durch die Beklagte eingegangen werden.

[24] 4. Vor diesem Hintergrund kann derzeit keine abschließende Beurteilung vorgenommen werden. Im fortgesetzten Verfahren ist zu beachten, dass der Kläger Leistungen aus der Krankenversicherung und der Unfallversicherung anspricht. Er wird daher eine Zuordnung dieser Leistungen zu den einzelnen Versicherungssparten vorzunehmen haben, liegt ihnen doch eine unterschiedliche Bedingungslage zugrunde. Anzumerken ist dabei, dass die obigen Ausführungen allein die Leistungen aus der Unfallversicherung betreffen; zur Krankenversicherung kann dagegen – mangels Vorliegens der Bedingungen und daher entsprechender Feststellungen – vom Obersten Gerichtshof derzeit keine Aussage getroffen werden.

[25] 5. Die Aufhebung der Entscheidungen der Vorinstanzen und die Rückverweisung der Rechtssache an das Erstgericht zur neuerlichen Entscheidung nach Verfahrensergänzung sind unumgänglich. Der Kostenvorbehalt gründet auf § 52 ZPO.

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