OGH 10ObS66/21k

OGH10ObS66/21k29.7.2021

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Vizepräsidenten Univ.‑Prof. Dr. Neumayr als Vorsitzenden, die Hofrätinnen Dr. Fichtenau und Dr. Grohmann sowie die fachkundigen Laienrichter Dr. Bernhard Kirchl (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Nicolai Wohlmuth (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei S*, Schweiz, vertreten durch Dr. Edelbert Giesinger, Rechtsanwalt in Feldkirch, gegen die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt, 1021 Wien, Friedrich‑Hillegeist‑Straße 1, vertreten durch Dr. Anton Ehm und Mag. Thomas Mödlagl, Rechtsanwälte in Wien, wegen Rehabilitationsgeld, infolge Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Innsbruck als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 25. März 2021, GZ 23 Rs 1/21 z‑56, womit infolge Berufung der beklagten Partei das Urteil des Landesgerichts Feldkirch als Arbeits- und Sozialgericht vom 24. September 2020, GZ 35 Cgs 243/18d‑51, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2021:E132616

Rechtsgebiet: Zivilrecht

 

Spruch:

 

Der Revision wird Folge gegeben.

Die Entscheidungen der Vorinstanzen werden dahin abgeändert, dass das Urteil einschließlich seines in Rechtskraft erwachsenen Teils insgesamt lautet:

„1. Das Klagebegehren, die beklagte Partei sei schuldig, der klagenden Partei ab 1. 5. 2017 eine Invaliditätspension im gesetzlichen Ausmaß zu gewähren, wird abgewiesen.

2. Bei der klagenden Partei liegt vorübergehende Invalidität im Ausmaß von voraussichtlich mindestens sechs Monaten ab 1. 5. 2017 vor.

3. Als medizinische Maßnahme der Rehabilitation zur Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit ist der weitere Krankheitsverlauf abzuwarten.

4. Die klagende Partei hat keinen Anspruch auf berufliche Maßnahmen der Rehabilitation.

5. Das Klagebegehren, die beklagte Partei habe der klagenden Partei ab 1. 5. 2017 Rehabilitationsgeld aus der österreichischen Krankenversicherung zu zahlen, wird abgewiesen.“

Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei einen mit 278,01 EUR (darin enthalten 46,83 EUR USt) bestimmten Teil der Kosten des erstinstanzlichen Verfahrens, einen mit 304,83 EUR (darin enthalten 50,80 EUR USt) bestimmten Teil der Kosten des Berufungsverfahrens und einen mit 209,39 EUR (darin enthalten 34,90 EUR) bestimmten Teil der Kosten des Revisionsverfahrens zu ersetzen.

 

Entscheidungsgründe:

[1] Im Revisionsverfahren ist der Anspruch der Klägerin auf Rehabilitationsgeld und dessen Export in die Schweiz strittig.

[2] Die Klägerin ist eine 1972 geborene österreichische Staatsangehörige, die in den letzten 15 Jahren vor dem Stichtag (1. 5. 2017) als Küchenhilfe in Österreich und in der Schweiz gearbeitet hat. In den Jahren von 1992 bis 2005 erwarb sie in Österreich insgesamt 206 Versicherungsmonate. 2005 übersiedelte sie in die Schweiz und erwarb dort bis zum Stichtag weitere 140 Versicherungsmonate. Seit 2017 ist sie ohne Beschäftigung. Sie lebt mit ihrem Mann und ihrer Tochter in der Schweiz. Seit ihrer Übersiedlung in die Schweiz hat die Klägerin keine Leistungen der österreichischen Sozialversicherung erhalten. Zweimal jährlich besucht sie jeweils für zumindest zehn Tage ihre in Österreich wohnenden Familienangehörigen. Seit 2020 ist sie mit einem Nebenwohnsitz in Wien gemeldet.

[3] Die beklagte Pensionsversicherungsanstalt lehnte mit Bescheid vom 11. 7. 2018 den Antrag der Klägerin auf Gewährung der Invaliditätspension sowie des Rehabilitationsgeldes ab und stellte fest, dass bei der Klägerin seit 1. 5. 2017 vorübergehende Invalidität im Ausmaß von mindestens sechs Monaten vorliegt, dass als medizinische Maßnahmen der Rehabilitation zur Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit der weitere Krankheitsverlauf abzuwarten ist und dass kein Anspruch auf berufliche Maßnahmen der Rehabilitation und auf Rehabilitationsgeld aus der österreichischen Krankenversicherung besteht. Der Export des Rehabilitationsgeldes wurde mit der Begründung abgelehnt, dass die Klägerin durch ihre Übersiedlung aus dem österreichischen Sozialversicherungssystem ausgeschieden sei.

[4] Die Klägerin begehrt in ihrer Klage die Zuerkennung einer Invaliditätspension.

[5] Die Beklagte bestritt das Vorliegen dauernder Invalidität und die Verpflichtung, Rehabilitationsgeld an die Klägerin mit Wohnsitz in der Schweiz zu zahlen.

[6] Das Erstgericht wies das Klagebegehren auf Gewährung einer Invaliditätspension (rechtskräftig) ab. Es stellte fest, dass ab 1. 5. 2017 für voraussichtlich mindestens sechs Monate vorübergehende Invalidität vorliegt, als medizinische Maßnahmen der Rehabilitation zur Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit der weitere Krankheitsverlauf abzuwarten ist, der Klägerin kein Anspruch auf berufliche Maßnahmen der Rehabilitation zukommt und sie dem Grunde nach Anspruch auf Rehabilitationsgeld aus der österreichischen Krankenversicherung hat.

[7] Das Berufungsgericht gab der von der Pensionsversicherungsanstalt gegen die Zuerkennung von Rehabilitationsgeld erhobenen Berufung nicht Folge. Es bejahte die Verpflichtung der Beklagten, das Rehabilitationsgeld aufgrund dessen Sondercharakters an der Schnittstelle zwischen Krankheit und Invalidität an eine Person mit Wohnsitz in einen anderen EU‑Mitgliedstaat bzw in die Schweiz zu exportieren. Der Anwendungsbereich der VO (EG) 883/2004 erstrecke sich seit 2012 auch auf die Schweiz. Der EuGH habe zwar in seinem Urteil vom 5. 3. 2020, C‑135/19 , Pensionsversicherungsanstalt/CW, klargestellt, dass das österreichische Rehabilitationsgeld eine Leistung bei Krankheit nach Art 3 Abs 1 lit a der VO (EG) 883/2004 sei und nicht erwerbstätige Personen nach Einstellung ihrer Erwerbstätigkeit in Österreich und Verlegung ihres Wohnsitzes in einen anderen Mitgliedstaat ausschließlich den Sozialrechtsvorschriften ihres Wohnmitgliedstaats, nicht aber dem System der sozialen Sicherheit des früheren Beschäftigungsstaats unterlägen. Ungeachtet dessen müsse in jedem Einzelfall geprüft werden, ob die alleinige Zuständigkeit des nunmehrigen Wohnsitzmitgliedstaats die im Primärrecht verankerte Freizügigkeit beschränke und ein im Primärrecht begründeter Anspruch auf Export des Rehabilitationsgeldes bestehe. Zu berücksichtigen sei, dass die Klägerin in Österreich mehr Versicherungsmonate als in der Schweiz erworben habe und noch erhebliche Anknüpfungspunkte nach Österreich (regelmäßige Besuche ihrer dort lebenden Familienmitglieder, Nebenwohnsitz) aufweise. Der in der Entscheidung des EuGH C-135/19 , Pensionsversicherungsanstalt/CW, abgehandelte Fall, dem zugrunde gelegen sei, dass die Versicherungskarriere in Österreich lange vor dem 15jährigen Beobachtungszeitraum vor dem Stichtag geendet habe und der überwiegende Teil der Versicherungsmonate in einem anderen Staat erworben wurde, liege hier nicht vor.

Rechtliche Beurteilung

[8] Die – nach Freistellung von der Klägerin beantwortete – Revision der Beklagten ist zulässig und berechtigt, weil die Entscheidung des Berufungsgerichts vom 25. 3. 2021 mit der – wenige Tage später – ergangenen Entscheidung des Obersten Gerichtshofs vom 30. 3. 2021, 10 ObS 12/21v, nicht in Einklang steht.

[9] Die beklagte Partei vertritt in ihrer Revision den Standpunkt, nach der Entscheidung des EuGH C‑135/19 sei das Rehabilitationsgeld eindeutig als Leistung bei Krankheit zu qualifizieren. Ein „Sondercharakter“, der das Rehabilitationsgeld den im Art 3 Abs 1 lit c und d der VO (EG) 883/2004 genannten Zweigen „Invalidität“ und „Alter“ nahebringen würde und die für Leistungen bei Krankheit vorgegebenen Zuständigkeitsregelungen durchbrechen und abändern könnte, komme dem Rehabilitationsgeld nicht zu. Umstände, wie in der vom EuGH entschiedenen Rechtssache C‑388/09 , da Silva Martins, die unterRückgriff auf das Primärrecht eine Änderung der ursprünglich festgestellten Zuständigkeit bewirken könnten, seien nicht gegeben. Eine rechtliche Nahebeziehung der Klägerin zu Österreich in einem die Umkehrung der kollisionsrechtlichen Bestimmungen bewirkenden Ausmaß sei zu verneinen.

[10] Dazu ist auszuführen:

[11] 1. Die VO (EG) 883/2004 findet ebenso wie die Durchführungsverordnung (EG) 987/2009 im Wege des sektoriellen Abkommens der EU mit der Schweiz seit 1. 4. 2012 auch auf das Verhältnis zur Schweiz Anwendung (Kahil-Wolff in Fuchs, Europäisches Sozialrecht7 Vorbem Art 1 VO [EG] 883/2004 Rz 6).

[12] 2. Der persönliche Anwendungsbereich der VO (EG) 883/2004 ist für die Klägerin im Sinn des Art 2 Abs 1 und des grenzüberschreitenden Bezugs (Österreich – Schweiz) gegeben. Auch der sachliche Anwendungsbereich der VO (EG) 883/2004 wird nicht in Frage gestellt (siehe Art 3 Abs 1 lit a).

[13] 3. Personen, die in den Anwendungsbereich der Verordnung fallen, unterliegen gemäß Art 11 Abs 1 VO (EG) 883/2004 den Rechtsvorschriften nur eines Mitgliedstaats. Grundsätzlich ist gemäß Art 11 Abs 3 lit a VO (EG) 883/2004 das Recht des Staats maßgebend, in dem eine Beschäftigung oder selbständige Erwerbstätigkeit ausgeübt wird. Gemäß der „Auffangnorm“ des Art 11 Abs 3 lit e VO (EG) 883/2004 findet für alle nicht erwerbstätigen Personen das Recht ihres Wohnsitzmitgliedstaats Anwendung. Für die Klägerin ist demnach grundsätzlich das Recht der Schweiz anwendbar.

[14] 4. Seit der EuGH das österreichische Rehabilitationsgeld als Leistung bei Krankheit im Sinn des Art 3 Abs 1 lit a der VO (EG) 883/2004 eingeordnet hat (EuGH 5. 3. 2020, C‑135/19 , Pensionsversicherungs- anstalt/CW), hält der Oberste Gerichtshof seine in der früheren Rechtsprechung (10 ObS 133/15d SSV‑NF 30/79 und andere) vertretene Ansicht, dem Rehabilitationsgeld komme aufgrund der Berührungspunkte mit Leistungen bei Invalidität ein Sondercharakter zu, nicht mehr aufrecht. In dem nach Einlangen der Entscheidung des EuGH zu 10 ObS 35/20z (DRdA 2021/15, 152 [Felten]) fortgesetzten Anlassverfahren und in mehreren Folgeentscheidungen (siehe RS0132457) qualifizierte der Oberste Gerichtshof das österreichische Rehabilitationsgeld als Leistung bei Krankheit im Sinn des Art 3 Abs 1 lit a der VO (EG) 883/2004 . Wie weiters ausgeführt wurde, würden die Versicherten nach Einstellung ihrer Erwerbstätigkeit und Verlegung ihres Wohnsitzes in einen anderen Mitgliedstaat ausschließlich den Sozialrechtsvorschriften dieses Wohnmitgliedstaats unterliegen und nicht mehr dem System der sozialen Sicherheit des Herkunftsstaats angehören. Damit bestehe keine Verpflichtung, das Rehabilitationsgeld an im EU‑Ausland wohnende Kläger zu zahlen.

[15] 5. Ähnlich wie in der Entscheidung 10 ObS 12/21v ist es nach den unmissverständlichen Vorgaben des EuGH in dessen Entscheidung C‑135/19 auch im vorliegenden Fall ausgeschlossen, die – hier unstrittig anzuwendende – Zuständigkeitsregelung des Art 11 Abs 3 lit e der VO (EG) 883/2004 unter dem Aspekt der unionsrechtlichen Freizügigkeit auszulegen und damit den Export des Rehabilitationsgeldes im Sinne der früheren, sich insbesondere an den Überlegungen des EuGH in seinem Urteil vom 30. 6. 2011, C‑388/09 , da Silva Martins, orientierenden Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs zu rechtfertigen (aA Sonntag, Erste EuGH-Entscheidung zur Koordinierung des Rehabilitationsgeldes. Das EuGH‑Urteil Pensions-versicherungsanstalt gegen CW überzeugt weder in Begründung noch im Ergebnis, ASoK 2020, 242).

[16] 6. Dem Argument, die überwiegende Anzahl der Versicherungsmonate sei in Österreich erworben worden, ist zu entgegnen, dass sich die Leistungszuständigkeit nach der VO (EG) 883/2004 ausschließlich nach dem Wohnort und nicht danach bestimmt, in welchem Mitgliedstaat die versicherte Person die meisten Versicherungszeiten erworben hat. Wenn sich der EuGH in der Entscheidung C‑135/19 auf den Erwerb des größten Teils der Versicherungszeiten in einem anderen Mitgliedstaat (Deutschland) bezieht, so antwortet er damit auf die zweite Vorlagefrage, ohne dieser Tatsache Relevanz für den zu klärenden Export des österreichischen Rehabilitationsgeldes zuzubilligen. Der EuGH begründet seine Antwort vielmehr damit, dass die versicherte Person nicht den Rechtsvorschriften ihres Herkunftsmitgliedstaats unterliegt, sondern jenen des Wohnsitzstaats. Ein Abweichen von den Zuständigkeitsregeln der VO (EG) 883/2004 als Folge einer Beschränkung der primärrechtlichen Freizügigkeit wird nicht erwähnt.

[17] 7. Ergebnis:

[18] Die Klägerin unterliegt zufolge Art 11 Abs 3 lit e der VO (EG) 883/2004 ausschließlich den Sozialrechtsvorschriften ihres Wohnsitzstaats Schweiz und gehört nach Einstellung ihrer Erwerbstätigkeit in Österreich und Verlegung ihres Wohnsitzes in die Schweiz (2005) nicht mehr dem österreichischen System der sozialen Sicherheit an. Es besteht keine Verpflichtung, das österreichische Rehabilitationsgeld an die in der Schweiz wohnende Klägerin zu zahlen.

[19] Die Entscheidungen der Vorinstanzen sind in diesem Sinn abzuändern.

[20] 8. Zur Kostenentscheidung:

[21] § 77 Abs 1 Z 2 lit b ASGG setzt für einen Kostenersatzanspruch nach Billigkeit voraus, dass die Einkommens- und Vermögensverhältnisse des Versicherten einen Kostenersatz nahelegen sowie dass tatsächliche oder rechtliche Schwierigkeiten des Verfahrens vorliegen. Wenngleich die Klägerin nicht vorgebracht hat, dass ihre Einkommens- und Vermögensverhältnisse einen Kostenersatzanspruch nahelegen, ergeben sich dafür aus dem Akt (im Zusammenhang mit der Bewilligung der Verfahrenshilfe) ausreichende Anhaltspunkte, weshalb vom Erfordernis der – grundsätzlich notwendigen – Bescheinigung abgesehen werden kann (10 ObS 139/12g SSV‑NF 26/70 mwN). Die rechtlichen Schwierigkeiten des Falls ergeben sich daraus, dass die Entscheidung von der Lösung einer Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung abhing. Es entspricht daher der Billigkeit, der zur Gänze unterlegenen Klägerin die Hälfte der Kosten ihres Vertreters zuzusprechen (RS0085871). Die der Klägerin gewährte Verfahrenshilfe ändert daran nichts (RS0126140).

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