OGH 10ObS20/21w

OGH10ObS20/21w22.6.2021

Der Oberste Gerichtshof hat in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen durch den Vizepräsidenten Univ.‑Prof. Dr. Neumayr als Vorsitzenden sowie die Hofrätinnen Dr. Fichtenau und Dr. Faber als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei M*****, vertreten durch Mag. Gunter Estermann, Rechtsanwalt in Wien, gegen die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt, 1021 Wien, Friedrich-Hillegeist-Straße 1, wegen Rehabilitationsgeld, über den Rekurs der klagenden Partei gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen vom 15. Dezember 2020, GZ 10 Rs 108/20f‑46, mit dem die Berufung der klagenden Partei gegen das Urteil des Arbeits‑ und Sozialgerichts Wien vom 11. März 2020, GZ 22 Cgs 49/18h‑32, zurückgewiesen wurde, den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2021:010OBS00020.21W.0622.000

 

Spruch:

Der angefochtene Beschluss wird aufgehoben. Dem Berufungsgericht wird die neuerliche Entscheidung über die Berufung der klagenden Partei unter Abstandnahme vom gebrauchten Zurückweisungsgrund aufgetragen.

Die Kosten des Rekursverfahrens sind weitere Verfahrenskosten.

 

Begründung:

[1] Das klageabweisende Urteil des Erstgerichts vom 11. 3. 2020 wurde dem unvertretenen Kläger am 28. 4. 2020 zugestellt. Am 5. 5. 2020 teilte der Kläger dem Erstgericht telefonisch mit, dass er beabsichtige, dagegen Berufung zu erheben, und ersuchte um Übermittlung des ZPForm 1 (Antrag auf Bewilligung der Verfahrenshilfe). Am 19. 5. 2020 – innerhalb der vierwöchigen Frist des § 464 Abs 1 ZPO –überreichte er beim Erstgericht das ausgefüllte Formblatt, mit dem er unter anderem die unentgeltliche Beigebung eines Rechtsanwalts beantragte, sowie ein mit „Berufung“ bezeichnetes, von ihm unterschriebenes Schreiben folgenden Wortlauts: „Ich, [Name, Geburtsdatum, Adresse] möchte gegen den Beschluss des Gerichts vom 11. 3. 2020 Berufung einlegen. Ich lege meiner Berufung medizinische Atteste und Bestätigungen bei.“

[2] Nach fristgerechter Verbesserung des Verfahrenshilfeantrags bewilligte das Erstgericht dem Kläger mit Beschluss vom 1. 7. 2020 die Verfahrenshilfe (unter anderem) gemäß § 64 Abs 1 Z 3 ZPO. Mit Bescheid der Rechtsanwaltskammer Wien wurde der Klagevertreter zum Verfahrenshelfer bestellt. Am 29. 7. 2020 wurden ihm das erstgerichtliche Urteil sowie der Beschluss über die Bewilligung der Verfahrenshilfe zugestellt.

[3] Mit Beschluss vom 4. 9. 2020, dem Verfahrenshelfer zugestellt am 8. 9. 2020, trug das Erstgericht dem Kläger auf, die von ihm selbst verfasste Berufung vom 19. 5. 2020, die im Original zurückgestellt werde, binnen vier Wochen durch Wiedervorlage samt Unterfertigung durch den Verfahrenshelfer oder einen anderen Rechtsanwalt oder eine nach § 40 Abs 1 ASGG geeignete Person zu verbessern.

[4] Am 5. 10. 2020, sohin innerhalb der vom Erstgericht gesetzten Frist, wurde die vom Klagevertreter verfasste Berufung im elektronischen Rechtsverkehr beim Erstgericht eingebracht.

[5] Mit dem angefochtenen Beschluss wies das Berufungsgericht die Berufung wegen Verspätung zurück. Rechtlich führte es aus, bei der (am 19. 5. 2020 eingebrachten) Eingabe des Klägers vom 18. 5. 2020 habe es sich ausschließlich um einen Verfahrenshilfeantrag zur Einbringung einer Berufung gehandelt. Der Verbesserungsauftrag des Erstgerichts vom 4. 9. 2020 sei daher nicht erforderlich gewesen und habe nicht zu einer Verlängerung der Berufungsfrist geführt.

[6] Dagegen richtet sich der Rekurs des Klägers, mit dem er die Aufhebung des Zurückweisungsbeschlusses und die inhaltliche Behandlung der Berufung beantragt. Er bringt vor, das Erstgericht habe die Eingabe des Klägers vom 19. 5. 2020 zutreffend als verbesserungsfähige Berufung behandelt, die wegen Einhaltung der Verbesserungsfrist rechtzeitig eingebracht sei.

[7] Der Rekurs ist nach § 519 Abs 1 Z 1 ZPO zulässig, er ist auch berechtigt.

Rechtliche Beurteilung

[8] 1. Besteht Anwaltspflicht, kann in einem von einer nicht durch einen Rechtsanwalt vertretenen Partei während einer Rechtsmittelfrist eingebrachten Schriftsatz, aus dem zu entnehmen ist, dass die Partei eine Entscheidung anfechten möchte, wegen Postulationsunfähigkeit der Partei noch kein zur ordnungsgemäßen Behandlung als Rechtsmittel geeigneter Schriftsatz erblickt werden. In der Regel – falls nicht ein Missbrauch des Instituts der Verbesserung gemäß §§ 84 ff ZPO vorliegt (vgl dazu RS0036478 [insb T12]) – ist dann eine Frist zur Verbesserung durch ein anwaltlich gefertigtes Rechtsmittel zu erteilen (RIS‑Justiz RS0036392 [T1]).

[9] 2.1. Bei der Auslegung einer Prozesshandlung sind objektive Maßstäbe anzulegen (RS0017881 [T4]). Es kommt darauf an, wie die Erklärung unter Berücksichtigung der konkreten gesetzlichen Regelung, des Prozesszwecks und der dem Gericht und Gegner bekannten Prozess‑ und Aktenlage objektiv verstanden werden muss (RS0037416; RS0097531).

[10] 2.2. Nach diesen Kriterien kann im vorliegenden Fall kein Zweifel daran bestehen, dass es sich bei dem am 19. 5. 2020 gemeinsam mit dem Verfahrenshilfeantrag beim Erstgericht überreichten Schreiben um eine – wenn auch mangels Einhaltung des Formerfordernisses des § 75 Z 3 ZPO nicht zur geschäftsordnungsgemäßen Behandlung geeignete – Berufung gegen das Urteil des Erstgerichts handelte. Dies ergibt sich daraus, dass dem Schriftsatz eindeutig die Intention zu entnehmen ist, das Urteil zu bekämpfen; der Kläger bezeichnet sein Schreiben selbst als Berufung und überreicht es bei Gericht, nachdem er telefonisch seine Intention, Berufung zu erheben, angekündigt hatte. Die Formulierung, er „möchte“ Berufung erheben, vermag die aus dem Verfahrensablauf und dem objektiven Inhalt des Schreibens zu entnehmende Intention, die angefochtene Entscheidung bereits mit dem vorgelegten Schreiben selbst zu bekämpfen, bei objektiver Betrachtung nicht zu widerlegen.

[11] Auch der Umstand, dass der Kläger gleichzeitig mit der Einbringung seiner Berufung einen Verfahrenshilfeantrag stellte, kann bei objektiver Betrachtung nicht dahin verstanden werden, dass er erst für die Zukunft die Einbringung eines Rechtsmittels beabsichtige. Daraus ergibt sich vielmehr bloß, dass der Kläger – offenkundig in Kenntnis der Vertretungspflicht – den von ihm antizipierten nächsten Verfahrensschritt bereits vornehmen und dadurch den Verfahrensgang beschleunigen wollte.

[12] 3. Die Stellung eines Verfahrenshilfeantrags, mit dem die einstweilige unentgeltliche Beigebung eines Rechtsanwalts nach § 64 Abs 1 Z 3 ZPO beantragt wird, tut dem Formerfordernis des § 75 Z 3 ZPO noch nicht Genüge. Die Stellung des Verfahrenshilfeantrags und dessen Bewilligung durch das Erstgericht mit Beschluss vom 1. 7. 2020 bewirkte daher noch nicht die Behebung des Formgebrechens der vom Kläger eingebrachten Berufung.

[13] Das Erstgericht trug dem Kläger daher zutreffend gemäß §§ 84 f ZPO die Behebung des Formmangels durch Vorlage einer von einem Rechtsanwalt oder einer nach § 40 Abs 1 Z 2 ASGG zur Vertretung im Berufungsverfahren qualifizierten Person auf (vgl RS0036392 [T1]).

[14] Die innerhalb der vom Erstgericht gesetzten Verbesserungsfrist eingebrachte verbesserte Berufung des Klägers ist gemäß § 85 Abs 2 Satz 1 ZPO als am Tag ihres ersten Einlangens – das war der 19. 5. 2020 – überreicht anzusehen. Sie erweist sich damit als rechtzeitig.

[15] Der angefochtene Beschluss ist daher aufzuheben. Das Berufungsgericht wird unter Abstandnahme vom gebrauchten Zurückweisungsgrund über das Rechtsmittel des Klägers zu entscheiden haben.

[16] Die Kostenentscheidung beruht auf § 52 Abs 1 ZPO.

Lizenziert vom RIS (ris.bka.gv.at - CC BY 4.0 DEED)

Stichworte