OGH 4Ob26/21h

OGH4Ob26/21h27.5.2021

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten Dr. Vogel als Vorsitzenden und die Hofräte Dr. Schwarzenbacher, Hon.‑Prof. PD Dr. Rassi, MMag. Matzka und die Hofrätin Mag. Istjan, LL.M., als weitere Richter in der Unterhaltssache des mj Y*****, über den Revisionsrekurs des Vaters M*****, vertreten durch Mag. Roland Reisch, Rechtsanwalt in Kitzbühel, gegen den Beschluss des Landesgerichts Innsbruck als Rekursgericht vom 26. November 2020, GZ 55 R 109/20p‑68, mit dem der Beschluss des Bezirksgerichts Kitzbühel vom 8. Oktober 2020, GZ 5 Pu 326/10i‑64, aufgehoben wurde, den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2021:0040OB00026.21H.0527.000

 

Spruch:

Der Revisionsrekurs wird zurückgewiesen.

 

Begründung:

[1] Der Minderjährige lebt im Haushalt seiner Mutter in Tirol und ist auf die Leistung eines angemessenen Geldunterhalts durch den Vater angewiesen. Der 50‑jährige Vater stammt aus der Türkei und ist österreichischer Staatsbürger. Er verbrachte die letzten 30 Jahre in Österreich, wo er nach einer Lehre als Maurer diesen Beruf mehr als 20 Jahre ausübte. Zuletzt verdiente er in Österreich als Kellner monatlich 1.500 EUR netto 14 mal jährlich. Seit Mitte 2019 lebt der Vater in der Türkei im Haus seines Vaters und bezieht dort eine Pension von umgerechnet 256 EUR.

[2] Der Vater beantragte, seine Unterhaltsverpflichtung für den Minderjährigen von 270 EUR auf 50 EUR monatlich herabzusetzen. Aufgrund seines seit der Übersiedlung in die Türkei verringerten Einkommens sei er nicht mehr in der Lage, den bisherigen Unterhalt weiter zu entrichten. Sein Pensionseinkommen entspreche dem Durchschnittseinkommen in der Türkei.

[3] Das Erstgericht wies den Antrag auf Unterhaltsherabsetzung ab. Die Übersiedlung in die Türkei sei als Unterhaltsflucht zu werten. Der Antragsteller sei voll erwerbsfähig und auf ein erzielbares Einkommen anzuspannen. Aufgrund seiner Ausbildung als Maurer, der offenen Stellen im Baugewerbe und des zuletzt erzielten Einkommens von 1.500 EUR sehe das Pflegschaftsgericht den Antragsteller nach wie vor in der Lage, den bisherigen Unterhalt zu leisten.

[4] Das Rekursgericht hob diese Entscheidung auf und trug dem Erstgericht die neuerliche Entscheidung nach Verfahrensergänzung auf, und zwar durch Ermittlung des vom Antragsteller in Österreich erzielbaren Einkommens. Einer Rückkehr ins Inland stünden keine wichtigen Gründe entgegen. Sein Vater in der Türkei sei nicht pflegebedürftig, ein Großteil seiner Familie lebe in Österreich, und er sei österreichischer Staatsbürger mit guter beruflicher Ausbildung. Sein Wunsch, in der Türkei zu leben, wiege weniger schwer als seine Unterhaltsverpflichtung. Den Revisionsrekurs ließ das Rekursgericht zur Klärung der Voraussetzungen der Anspannung auf den ausländischen Arbeitsmarkt zu. Überdies bestehe zwischen dem Leitsatz der Rechtssatzkette RIS‑Justiz RS0047599 und den Entscheidungen 4 Ob 1/18b, 4 Ob 9/10a und 6 Ob 311/05m ein gewisses Spannungsverhältnis.

[5] Der Antragsteller beantragt mit seinem Revisionsrekurs, seinem Herabsetzungsantrag stattzugeben. Das Rekursgericht habe das Vorliegen von berücksichtigungswürdigen Gründen (Scheitern der Lebensgemeinschaft, Scheitern der Selbstständigkeit, Wunsch, mit seinem Vater in der Türkei zu leben, keine aufrechten Kontakte mehr in Österreich, subjektiver Eindruck der bestehenden Ausländerfeindlichkeit) für die Übersiedlung in die Türkei rechtsirrig verneint. Es liege keinesfalls eine „Unterhaltsflucht“ vor. Im Sinne des Art 8 EMRK müsse es ihm unbenommen bleiben, aus Österreich auszuwandern und in sein Heimatland zurückzukehen.

Rechtliche Beurteilung

[6] Der Revisionsrekurs ist, ungeachtet des – den Obersten Gerichtshof nicht bindenden – Zulassungsausspruchs des Rekursgerichts, in Ermangelung von erheblichen Rechtsfragen nicht zulässig.

[7] 1.1. An die Mobilität eines Unterhaltspflichtigen werden im Sinne des Anspannungsgrundsatzes strenge Anforderungen gestellt: So wurde in der Entscheidung 4 Ob 91/10a bei einem im Ausland lebenden Unterhaltspflichtigen (wenn dort eine adäquate Erwerbsmöglichkeit fehlt, in Österreich aber eine solche bestünde) eine Pflicht zur Rückkehr ins Inland, allenfalls zum Pendeln, angenommen, wenn dem keine berücksichtigungswürdigen Umstände entgegenstehen (ähnlich bereits 6 Ob 311/05m = RS0047599 [T5]; 4 Ob 1/18b).

[8] 1.2. Nur wenn der Unterhaltsschuldner aus berücksichtigungswürdigen Gründen – und nicht zur Umgehung seiner Unterhaltspflichten – Wohnsitz und Arbeitsplatz ins Ausland verlegt, kann er nicht auf ein im Inland erzielbares Einkommen angespannt werden (RS0119326; RS0047599). Dabei ist nicht maßgeblich, ob sich die zu beurteilende Entscheidung des Unterhaltspflichtigen (ins Ausland zu ziehen) in rückschauender Betrachtung als bestmöglich erweist, vielmehr ist allein bedeutsam, ob sie nach den jeweils gegebenen konkreten Umständen im Entscheidungszeitpunkt als vertretbar anzuerkennen ist (RS0047495 [T12]).

[9] 1.3. Ein Spannungsverhältnis zwischen dem Rechtssatz RS0047599, wonach dann, wenn dem Unterhaltspflichtigen die Begründung eines Wohnsitzes im Ausland nicht im Sinne einer Umgehung der Unterhaltspflicht vorwerfbar ist, bei Anwendung des Anspannungsgrundsatzes von den ausländischen Arbeitsmarktverhältnissen auszugehen ist, und den zu 1.1. genannten Entscheidungen ist nicht ersichtlich. Vielmehr ist – ausgehend von diesem Grundsatz – jeweils nach den Umständen des Einzelfalls zu prüfen, ob die Übersiedlung ins Ausland vorwerfbar ist oder ob berücksichtigungswürdige Gründe vorliegen.

[10] 2. Im konkreten Fall hat das Rekursgericht das Vorliegen von berücksichtigungswürdigen Gründen verneint und dabei den ihm in dieser Frage eingeräumten Ermessensspielraum nicht überschritten, wenn es bei der gebotenen Interessenabwägung zwischen den Interessen des Antragstellers und den Unterhaltsansprüchen des Kindes davon ausgegangen ist, dass der Vater des Antragstellers, bei dem dieser lebt, nicht pflegebedürftig ist, der Minderjährige sowie fast alle anderen Familienangehörigen des Antragstellers in Österreich leben, er selbst österreichischer Staatsbürger ist und 30 Jahre lang hier lebte und in das Arbeitsleben integriert war, über eine Berufsausbildung verfügt und die Arbeits‑ und Verdienstmöglichkeiten für den Antragsteller in Österreich offenbar weitaus besser sind als in der Türkei, während dem gegenüber bloß der Wunsch des Antragstellers steht, bei seinem Vater in der Türkei zu leben, den das Rekursgericht allein als nicht ausreichend ansah, um in der Güterabwägung die Unterhaltsansprüche des Kindes zu mindern.

[11] Der unzulässige Revisionsrekurs ist daher zurückzuweisen.

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