OGH 8ObS10/20h

OGH8ObS10/20h28.1.2021

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten Hon.‑Prof. Dr. Kuras als Vorsitzenden, die Hofrätinnen Dr. Tarmann‑Prentner und Mag. Wessely‑Kristöfel als weitere Richter sowie die fachkundigen Laienrichter Mag. Dr. Werner Hallas (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und ADir. Gabriele Svirak (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) in der Sozialrechtssache der klagenden Partei N*, vertreten durch Dr. Christoph Orgler, Rechtsanwalt in Graz, gegen die beklagte Partei IEF‑Service GmbH, *, vertreten durch die Finanzprokuratur, 1010 Wien, Singerstraße 17–19, wegen 1.345 EUR netto (Insolvenzentgelt), über die Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Graz als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 27. August 2020, GZ 7 Rs 26/20 b‑19, mit dem das Urteil des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Graz als Arbeits- und Sozialgericht vom 28. Jänner 2020, GZ 38 Cgs 174/18y‑15, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2021:E130770

 

Spruch:

Die Revision wird zurückgewiesen.

Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei die mit 377,50 EUR (darin 62,92 EUR USt) bestimmten Kosten des Revisionsverfahrens binnen 14 Tagen zu ersetzen.

 

Begründung:

[1] Der Kläger war ab 1. 5. 2014 bei mehreren Unternehmen zunächst als Zusteller und dann als Telefonist immer im selben Betrieb bzw Betriebsteil beschäftigt. Der Betrieb bzw der Betriebsteil ging jeweils gemäß § 3 Abs 1 AVRAG über. Insbesondere kam es zu Betriebsübergängen von der P* GmbH auf die C* GmbH, von dieser auf H*, danach auf die G* GmbH und schließlich auf die S * GmbH, zu der das Dienstverhältnis mit 19. 6. 2017 einvernehmlich beendet wurde. Über das Vermögen der S * GmbH wurde am 17. 8. 2017 das Insolvenzverfahren eröffnet.

[2] Während der gesamten Zeit seiner Tätigkeit war immer dieselbe Person, die Vertreter der „verschiedenen Betriebsvorgänger und -nachfolger“ war, Ansprechpartner und Chef des Klägers. Dass sich die Dienstgeber änderten, sah der Kläger immer erst im Nachhinein auf den Lohnzetteln, die er über Verlangen erhielt.

[3] H* hielt dem Kläger [im Zusammenhang mit dem Betriebsübergang auf die G* GmbH] ein Schreiben hin, in dem ein „Aufhebungsvertrag“ oder eine „einvernehmliche Auflösung“ [zum 16. 8. 2016] enthalten war, und verwies darauf, dass es nächste Woche weitergehen werde. Der Kläger unterfertigte dieses Schreiben aufgrund seiner Unwissenheit und im Wissen, dass es weitergeht, was auch tatsächlich der Fall war. Er ging davon aus, dass es sich um keine echte Auflösung handelt.

[4] Mit Mahnklage vom 18. 8. 2016 begehrte er von der P* GmbH die Zahlung von 3.025,90 EUR brutto, darin Urlaubsentschädigung für 44,63 Werktage, mit der Begründung, dass er bis 31. 5. 2016 als Pizzazusteller im Arbeitsverhältnis beschäftigt gewesen und das Arbeitsverhältnis fristwidrig aufgekündigt worden sei.

[5] Mit Mahnklage vom 19. 10. 2016 begehrte er von H* die Zahlung von 3.578,63 EUR brutto sA, darin Urlaubsentschädigung für 42,47 Arbeitstage, mit der Begründung, dass er vom 1. 5. 2014 bis 16. 8. 2016 als Zusteller mit 20 Stunden pro Woche beschäftigt gewesen und das Arbeitsverhältnis einvernehmlich aufgelöst worden sei.

[6] Dieüber diese Mahnklagen erlassenen Zahlungsbefehle erwuchsen in Rechtskraft.

[7] Mit Bescheid vom 16. 7. 2018 lehnte die Beklagte die Anträge des Klägers auf Insolvenzentgelt aufgrund der Nichteröffnung des Insolvenzverfahrens mangels hinreichenden Vermögens von H* mit der Begründung ab, dass sie es als erwiesen annehme, dass das Arbeitsverhältnis zu H* gemäß § 3 Abs 1 AVRAG auf andere Arbeitgeber, zuletzt auf die S * GmbH übergegangen sei.

[8] Mit Bescheid vom 9. 7. 2018 lehnte die Beklagte den Antrag des Klägers auf Zuerkennung von Insolvenzentgelt in Höhe von 1.935 EUR ab, weil der Kläger das Dienstverhältnis zu H* einvernehmlich am 16. 8. 2016 beendet und in der Folge mit der Schuldnerin ein völlig neues Dienstverhältnis begründet habe.

[9] DerKläger begehrte von der Beklagten die Zahlung von 1.345 EUR netto an Insolvenzentgelt (Urlaubsersatzleistung für die Zeit vor dem Betriebsübergang sowie akzessorische Kosten für das unterbrochene Mahnverfahren gegen die S * GmbH). Wegen offensichtlicher Verschleierung der Betriebsübergänge und Verletzung der Informationspflichten gemäß § 3a AVRAG könne von einer schlüssigen Ausübung eines Wahlrechts im Sinne eines Verzichts auf die Rechte aus dem AVRAG durch den Kläger keine Rede sein.

[10] Die Beklagte wendete ein, dass dem Kläger aufgrund konkludenter Ausübung seines Wahlrechts anlässlich des Betriebsübergangs von H* [auf die G* GmbH] keine Urlaubsansprüche aus der Zeit vor dem Betriebsübergang zustünden.

[11] Das Erstgerichtgab dem Klagebegehren statt. § 3a AVRAG normiere Aufklärungspflichten der Veräußerer oder der Erwerber gegenüber den vom Betriebsübergang betroffenen Arbeitnehmern. Da eine Aufklärung unterblieben sei, sei die einvernehmliche Auflösung des Dienstverhältnisses zu H* mit einer vorsorglichen Kündigung zur Umgehung des § 3 Abs 1 AVRAG vergleichbar und jedenfalls nichtig. Es könne auch nicht davon gesprochen werden, dass der Kläger sein Wahlrecht ausgeübt habe, weil durch seine Ansprechperson eine unsichere Situation geschaffen worden sei, in der er die Günstigkeit oder Ungünstigkeit der einvernehmlichen Auflösung nicht habe beurteilen können.

[12] Das Berufungsgericht gab der Berufung derBeklagten nicht Folge. Der Entscheidung 8 ObA 10/16b sei gerade nicht zu entnehmen, dass die Geltendmachung von Beendigungsansprüchen aus einer infolge Betriebsübergangs unwirksamen Auflösung des Dienstverhältnisses zum Veräußerer generell zum Verlust von Ansprüchen aus diesem Dienstverhältnis gegenüber dem Erwerber bzw – im Falle dessen Insolvenz – gegenüber der Beklagten führe. So habe der Oberste Gerichtshof ganz klar zum Ausdruck gebracht, dass nur nach den besonderen Umständen des Einzelfalls beurteilt werden könne, ob ein bestimmtes Verhalten oder eine bestimmte Erklärung als Ausübung des Wahlrechts anzusehen sei. Anders als die Klägerin im Verfahren 8 ObA 10/16b habe sich der Kläger hier auf die ohne Zweifel vorliegende „unklare Situation“ ausdrücklich berufen. Im vorliegenden Fall seien im Zuge der Betriebsübergänge nicht nur die in § 3a AVRAG normierten Informationspflichten verletzt worden, vielmehr sei versucht worden, die Betriebsübergänge zu verschleiern. Würden im Zuge von unter unklaren Bedingungen durchgeführten Betriebsübergängen die in § 3a AVRAG Veräußerer und Erwerber auferlegten Informationspflichten verletzt, könne sich der Erwerber bzw im Falle der Insolvenz die hier Beklagte nicht mit Erfolg darauf berufen, dass Arbeitnehmer durch Geltendmachung von Beendigungsansprüchen gegenüber dem Veräußerer ihr Wahlrecht ausgeübt hätten. Tatsächlich sei dem Kläger mangels ausreichender Information die Ausübung seines Wahlrechts gar nicht möglich gewesen. Wenn er daher zur Vermeidung von Rechtsnachteilen Beendigungsansprüche gegenüber dem Veräußerer geltend gemacht habe, stehe dies seinem Recht, nunmehr Ansprüche auch aus der Zeit vor den Betriebsübergängen gegenüber dem Erwerber bzw nun gegenüber der Beklagten geltend zu machen, nicht entgegen.

[13] Das Berufungsgericht ließ die ordentliche Revision zu, weil eine Klarstellung durch den Obersten Gerichtshof in Anbetracht des von der Beklagten hier – aber auch in anderen anhängigen Verfahren – vertretenen Standpunkts zur Rechtssicherheit beitragen würde, obwohl die Frage, ob das Verhalten des Klägers als Ausübung des Wahlrechts zu qualifizieren sei, nach den besonderen Umständen des Einzelfalls zu beurteilen sei.

Rechtliche Beurteilung

[14] Die vom Kläger beantwortete Revision der Beklagten ist entgegen dem – nicht bindenden – Ausspruch des Berufungsgerichts mangels Vorliegens der Voraussetzungen des § 502 Abs 1 ZPO nicht zulässig.

[15] 1. Es liegt nicht schon deshalb eine erhebliche Rechtsfrage vor, weil gleiche oder ähnliche Auslegungsfragen in mehreren Verfahren zu lösen sind (RIS‑Justiz RS0042742 [T11]; vgl RS0042816). Die Auslegung von Erklärungen beziehungsweise Verhaltensweisen könnte nur dann eine erhebliche Rechtsfrage darstellen, wenn infolge einer wesentlichen Verkennung der Rechtslage ein unvertretbares Auslegungsergebnis vorläge (RS0044298 [T22]; vgl auch RS0042555 [insb T11; T17; T18]). Davon kann hier keine Rede sein.

[16] 2. Entgegen der Meinung der Revisionswerberin ist der Entscheidung 8 ObA 10/16b nicht zu entnehmen, dass das Einbringen einer ua Beendigungsansprüche beinhaltenden Forderungsanmeldung beim Insolvenzgericht durch einen Arbeitnehmer in jedem Fall als konkludente Ausübung seines Wahlrechts im Sinn des § 3 AVRAG (vgl RS0122357) dahin anzusehen wäre, dass erdie Beendigung des Dienstverhältnisses akzeptiert, statt auf dessen Fortsetzung zu bestehen. Vielmehr stellte der Oberste Gerichtshof – wie das Berufungsgericht zutreffend hervorgehoben hat – auch in der zitierten – in der Literatur teilweise heftig kritisierten (s etwa Reissner, Anmerkung zu 8 ObA 10/16b, DRdA 2017, 481 [482 f]; A. Obereder, Forderungsanmeldung als Ausübung des Wahlrechts bei unwirksamer Kündigung, DRdA‑infas 2018, 50 ff; M. Mader, Betriebsübergang und Insolvenz: Forderungsanmeldung als Akzeptanz der Kündigung,FS 20 Jahre ISA, 39 ff) – Entscheidung ausdrücklich auf die besonderen Umstände des Einzelfalls ab. Von diesen ausgehend erwies sich die Ansicht der zweiten Instanz als nicht korrekturbedürftig, die dortige Klägerin habe mit der Geltendmachung von Beendigungsansprüchen im Insolvenzverfahren über das Vermögen einer der Vorpächterinnen des Betriebs zum Ausdruck gebracht, die ansonsten unwirksame Beendigung des Arbeitsverhältnisses gegen sich gelten zu lassen.

[17] 3.1 Damit ist der Anlassfall freilich nicht vergleichbar: Nach den Feststellungen erfuhr der Kläger erst im Nachhinein aus den Lohnzetteln, wer tatsächlich sein „Chef“ war. Entgegen der seinem Schutz dienenden Bestimmung des § 3a AVRAG (vgl 9 ObA 19/12b; 9 ObA 51/13k) wurde er über die zahlreichen Betriebsübergänge nicht informiert. Dahinter stand für ihn immer ein- und dieselbe Person, die auch sein einziger Ansprechpartner war. Die Situation war so unübersichtlich, dass das Vorliegen von Betriebs‑(teil‑)übergängen rechtskräftig in gerichtlichen Verfahren geklärt werden musste. Die – für sämtliche Beteiligten bestehende – Unklarheit kommt ja nicht zuletzt anschaulich in den beiden innerhalb einer Woche im Juli 2018 ergangenen widersprüchlichen Bescheiden der Beklagten zum Ausdruck, in denen einerseits von einem Betriebsübergang, andererseits von einer einvernehmlichen Beendigung des Dienstverhältnisses des Klägers zu H* ausgegangen wurde.

[18] 3.2 Die Beurteilung des Berufungsgerichts, die gerichtliche Geltendmachung von beendigungsabhängigen Ansprüchen gegenüber H* durch den Kläger sei hier eben nicht als Ausübung seines Wahlrechts anzusehen, weil ihm mangels ausreichender Information eine solche Ausübung gar nicht möglich gewesen sei, ist in Anbetracht der besonderen Umstände des Einzelfalls, die auf eine (bewusste) Verschleierung der Betriebsübergänge durch die Arbeitgeberseite bzw durch die (einzige) Ansprechperson des Klägers hinauslaufen, nicht zu beanstanden.

[19] 4. Insgesamt gelingt es der Beklagten nicht, mit ihren Ausführungen eine erhebliche Rechtsfrage aufzuzeigen. Die Revision war daher zurückzuweisen.

[20] 5. Die Entscheidung über die Kosten des Revisionsverfahrens gründet sich auf § 77 Abs 1 Z 2 lit a ASGG. Der Kläger hat auf die Unzulässigkeit der Revision hingewiesen.

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