OGH 10ObS116/20m

OGH10ObS116/20m13.10.2020

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen durch den Vizepräsidenten Univ.‑Prof. Dr. Neumayr als Vorsitzenden, die Hofrätin Dr. Fichtenau und den Hofrat Mag. Ziegelbauer sowie die fachkundigen Laienrichter Mag. Martin Lotz (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Nicolai Wohlmuth (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei M*, vertreten durch Dr. Gregor Klammer, Rechtsanwalt in Wien, gegen die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt, 1021 Wien, Friedrich-Hillegeist‑Straße 1, wegen Pflegegeld, über die außerordentliche Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen vom 29. Juni 2020, GZ 7 Rs 50/20 d‑22, den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2021:E129799

 

Spruch:

Die außerordentliche Revision wird gemäß § 508a Abs 2 ZPO mangels der Voraussetzungen des § 502 Abs 1 ZPO zurückgewiesen.

 

Begründung:

[1] Der Kläger ist Staatsbürger der Russischen Föderation. Er hat seinen gewöhnlichen Aufenthalt unstrittig in Österreich. Ihm erteilte das Bundesverwaltungsgericht mit Erkenntnis vom 23. 5. 2018, Zl W236 2192366‑1/2E, den Aufenthaltstitel „Aufenthaltsberechtigung“ (§ 54 Abs 1 Z 2 AsylG) für die Dauer von 12 Monaten. Dessen ungeachtet folgte das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl dem Kläger – nach dem unbestrittenen Vorbringen der Beklagten – einen bis zum 21. 8. 2019 gültigen Aufenthaltstitel „Aufenthaltsberechtigung plus“ (§ 54 Abs 1 Z 1 AsylG) aus.

[2] Mit Bescheid vom 20. 11. 2018 lehnte die beklagte Pensionsversicherungsanstalt den Antrag des Klägers auf Zuerkennung von Pflegegeld vom 12. 6. 2018 ab, weil der Kläger nicht zum Kreis der nach den §§ 3 und 3a BPGG anspruchsberechtigten Personen gehöre.

[3] Das Erstgericht wies das Begehren des Klägers auf Zuerkennung von Pflegegeld ab dem 1. 7. 2018 ab.

[4] Das Berufungsgericht gab der Berufung des Klägers nicht Folge. Der Kläger verfüge über keinen der in § 3a Abs 2 Z 4 BPGG genannten Aufenthaltstitel. Weder seien die Voraussetzungen für eine analoge Ausweitung der Anwendung dieser Bestimmung gegeben noch liege ihre vom Kläger behauptete Verfassungswidrigkeit vor.

[5] In seiner gegen dieses Urteil erhobenen außerordentlichen Revision zeigt der Kläger keine Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung gemäß § 502 Abs 1 ZPO auf:

Rechtliche Beurteilung

[6] Der Kläger stellt in seinem Rechtsmittel nicht in Frage, dass er über keinen der in § 3a Abs 2 Z 4 BPGG genannten Aufenthaltstitel verfügt. Er macht geltend, dass diese Bestimmung verfassungskonform so auszulegen sei, dass er als Inhaber eines Aufenthaltstitels, der aus Gründen des Art 8 EMRK erteilt werde, insbesondere daher zur Wahrung des Privat‑ und Familienlebens, genauso zu behandeln sei wie Träger von „standardisierten“ Aufenthaltstiteln für Familienangehörige.

[7] Eine Analogie setzt jedoch eine Gesetzeslücke im Sinn einer „planwidrigen Unvollständigkeit“ voraus (RIS‑Justiz RS0098756 [T1]). Diese liegt dann nicht vor, wenn der Gesetzgeber eine bestimmte Rechtsfolge für einen bestimmten Sachverhalt bewusst nicht angeordnet hat (RS0008866 [T8, T13]). Die in § 3a Abs 2 Z 2 bis 4 BPGG genannten Fälle sollten nach dem Willen des Gesetzgebers (ErläutRV 1208 BlgNR 24. GP  9 f zum Pflegegeld-reformG 2012, BGBl I 2011/58) nur jene zusätzlichen Fälle betreffen, die nicht bereits durch das unmittelbar anwendbare Staatsvertragsrecht bzw Unionsrecht nach § 3a Abs 2 Z 1 BPGG erfasst werden. Angesichts der ausdrücklichen Aufzählung der privilegierten Aufenthaltstitel in Gesetz und Materialien kann dem Gesetzgeber nicht unterstellt werden, auf weitere Aufenthaltstitel wie jene nach den §§ 41a und 43 Abs 3 des Niederlassungs‑ und Aufenthaltsgesetzes, BGBl I 2005/100, NAG, vergessen zu haben (10 ObS 81/18m; RS0132088).

[8] Die Erteilung der Aufenthaltstitel „Aufenthaltsberechtigung plus“ (§ 54 Abs 1 Z 1 AsylG) und „Aufenthaltsberechtigung“ (§ 54 Abs 1 Z 2 AsylG) wurden zwar mit dem Fremdenbehördenneustrukturierungsgesetz (FNG, BGBl I 2012/87) aus Gründen des Art 8 EMRK im neu geschaffenen § 55 AsylG 2005 geregelt. Sie entsprachen aber den bisher geltenden Aufenthaltstiteln der „Rot‑Weiß‑Rot – Karte plus“ gemäß § 41a Abs 9 und 10 NAG und der Niederlassungsbewilligung gemäß § 43 Abs 3 und 4 NAG jeweils idF BGBl I 2011/38. Sie haben eine Gültigkeitsdauer von 12 Monaten und sind nicht verlängerbar (§ 54 Abs 2 AsylG). Die Aufenthaltstitel gemäß § 54 Abs 1 Z 1 und Z 2 AsylG werden nur im Rahmen eines Erstantragsverfahrens vergeben. Den davon betroffenen Personengruppen ist nach Ablauf der Befristung der Einstieg in das Regime des Niederlassungs‑ und Aufenthaltsgesetzes möglich (diese Regelungen traten gemäß § 73 Abs 11 AsylG mit 1. 1. 2014 in Kraft; zu all dem ausführlich ErläutRV 1803 BlgNR 24. GP  43 ff). Personen, die für einen Zeitraum von 12 Monaten über eine „Aufenthaltsberechtigung plus“ oder eine „Aufenthaltsberechtigung“ im Sinn der §§ 55, 56 AsylG verfügt haben, können daher – bei Erfüllung der weiteren Voraussetzungen – über begründeten Antrag einen Aufenthaltstitel „Rot‑Weiß‑Rot – Karte plus“ (§ 41a Abs 9 NAG idF seit dem FNG, BGBl I 2012/87) oder „Niederlassungsbewilligung“ (§ 43 Abs 3 NAG idF seit dem FNG, BGBl I 2012/87) erlangen. Keiner dieser Aufenthaltstitel war oder ist in § 3a Abs 2 Z 4 BPGG genannt, sodass an der bereits zitierten Rechtsprechung festzuhalten ist, wonach für eine analoge Erweiterung des Anwendungsbereichs dieser Bestimmung kein Raum bleibt.

[9] Der in Art 7 B-VG normierte Gleichheitsgrundsatz verbietet willkürliche unsachliche Differenzierungen. Er wird dann verletzt, wenn der Gesetzgeber Gleiches ungleich behandelt (RS0053981). Dem Gesetzgeber steht aber ein Gestaltungsspielraum verfassungsrechtlich insoweit zu, als er in seinen rechtspolitischen und wirtschaftspolitischen Zielsetzungen frei ist. Gerade im Sozialversicherungsrecht ist eine durchschnittliche Betrachtungsweise erforderlich, die auf den Regelfall abstellt und damit Härten in Einzelfällen nicht ausschließen kann (RS0053889 [T2]). Vor diesem Hintergrund vermag der Oberste Gerichtshof die verfassungsrechtlichen Bedenken des Revisionswerbers gegen § 3a Abs 2 Z 4 BPGG nicht zu teilen. Die Entscheidung des Gesetzgebers, nur Personen mit den in § 3a Abs 2 Z 4 BPGG genannten Aufenthaltstiteln in den Kreis der Anspruchsberechtigten einzubeziehen, verletzt den dem Gesetzgeber offen stehenden Spielraum schon deshalb nicht, weil es sich dabei um eine über die völker‑ und unionsrechtlichen Verpflichtungen hinaus vorgenommene Erweiterung des Kreises der Anspruchsberechtigten ohne Grundleistung (!) handelt. Ohnedies erfasst der Kreis der Anspruchsberechtigten Familienangehörige gemäß § 47 Abs 2 NAG, soweit sie danach zur „Kernfamilie“ gehören (vgl § 2 Abs 1 Z 9 NAG, vgl 10 ObS 51/18z). Dem Kreis der „Kernfamilie“ nach dieser Bestimmung gehört der Kläger unstrittig nicht an.

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