OGH 10ObS36/20x

OGH10ObS36/20x13.10.2020

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen durch den Vizepräsidenten Univ.‑Prof. Dr. Neumayr als Vorsitzenden, die Hofrätin Dr. Fichtenau und den Hofrat Mag. Ziegelbauer sowie die fachkundigen Laienrichter Mag. Martin Lotz (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Nicolai Wohlmuth (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei R*****, Tschechische Republik, gegen die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt, 1021 Wien, Friedrich‑Hillegeist‑Straße 1, vertreten durch Dr. Josef Milchram, Dr. Anton Ehm und Mag. Thomas Mödlagl, Rechtsanwälte in Wien, wegen Rehabilitationsgeld, über die außerordentliche Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen vom 27. August 2019, GZ 10 Rs 48/19f‑38, womit das Urteil des Arbeits‑ und Sozialgerichts Wien vom 10. Oktober 2018, GZ 18 Cgs 29/17m‑32, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2020:010OBS00036.20X.1013.000

 

Spruch:

 

Der außerordentlichen Revision wird Folge gegeben.

Die Entscheidungen der Vorinstanzen werden dahin abgeändert, dass das Urteil unter Einschluss der in Rechtskraft erwachsenen Teile zu lauten hat:

„1. Das Klagebegehren, die beklagte Partei sei schuldig, der klagenden Partei ab 1. 10. 2014 eine Invaliditätspension im gesetzlichen Ausmaß zu bezahlen, wird abgewiesen.

2. Bei der klagenden Partei liegt ab 1. 10. 2014 für voraussichtlich mindestens sechs Monate vorübergehende Invalidität vor. Als medizinische Maßnahme der Rehabilitation zur Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit ist der weitere Krankheitsverlauf abzuwarten. Berufliche Maßnahmen der Rehabilitation sind nicht zweckmäßig.

3. Das Klagebegehren, die klagende Partei habe ab 1. 10. 2014 für die weitere Dauer der vorübergehenden Invalidität Anspruch auf Rehabilitationsgeld aus der Krankenversicherung im gesetzlichen Ausmaß, wird abgewiesen.“

 

Entscheidungsgründe:

[1] Die 1979 in der früheren Tschechoslowakischen Sozialistischen Republik (ČSSR) geborene Klägerin ist Staatsbürgerin der Tschechischen Republik. Sie erwarb bis November 2006 in Österreich 74 Versicherungsmonate, davon 46 Beitragsmonate der Pflichtversicherung aufgrund einer Erwerbstätigkeit, 7 Beitragsmonate der Pflichtversicherung – Teilversicherung (APG), sowie 21 Monate einer Ersatzzeit nach dem ASVG. Die Klägerin war zuletzt im Mai 2007 in Österreich versichert, nach diesem Zeitpunkt hat sie in Österreich keine weiteren Versicherungsmonate erworben.

[2] Die Klägerin lebt derzeit in Tschechien. Sie ging dort zwischen 1993 und 2013 einer Tätigkeit als Friseurin in mehreren Beschäftigungsverhältnissen nach. Die Klägerin bezieht in Tschechien eine Pension.

[3] Mit Bescheid vom 5. 10. 2016 lehnte die beklagte Pensionsversicherungsanstalt die Gewährung einer Invaliditätspension mangels Vorliegens dauerhafter Invalidität ab. Sie sprach gleichzeitig aus, dass bei der Klägerin vorübergehende Invalidität im Ausmaß von voraussichtlich mindestens sechs Monaten ab 1. 10. 2014 vorliege. Als Maßnahme der medizinischen Rehabilitation zur Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit sei der weitere Krankheitsverlauf abzuwarten. Es bestehe kein Anspruch auf Rehabilitationsgeld aus der österreichischen Krankenversicherung.

[4] Die Klägerin begehrt die Zuerkennung einer Invaliditätspension ab 1. 10. 2014 sowie, für den Fall des Vorliegens vorübergehender Invalidität, von Rehabilitationsgeld.

[5] Die Beklagte wandte dagegen vor allem ein, dass die Klägerin mangels ausreichender Nahebeziehung der Klägerin zum österreichischen System der sozialen Sicherheit keinen Anspruch auf Rehabilitationsgeld habe.

[6] Das Erstgericht wies das Klagebegehren auf Gewährung der Invaliditätspension ab dem 1. 10. 2014 ab. Es stellte fest, dass ab 1. 10. 2014 für voraussichtlich mindestens 6 Monate vorübergehende Invalidität vorliege. Als medizinische Maßnahme der Rehabilitation zur Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit sei der Krankheitsverlauf abzuwarten. Berufliche Maßnahmen der Rehabilitation seien nicht zweckmäßig. Die Klägerin habe ab 1. 10. 2014 für die weitere Dauer ihrer vorübergehenden Invalidität Anspruch auf Rehabilitationsgeld aus der Krankenversicherung im gesetzlichen Ausmaß.

[7] Das Berufungsgericht gab der von der Beklagten nur gegen die Feststellung des Bestehens des Anspruchs auf Rehabilitationsgeld aus der Krankenversicherung gegen dieses Urteil erhobenen Berufung nicht Folge. Wie das Erstgericht bejahte es die Verpflichtung der Beklagten, das Rehabilitationsgeld aufgrund dessen Sondercharakters an der Schnittstelle zwischen Krankheit und Invalidität an eine Person mit Wohnsitz in einem anderen Mitgliedstaat zu zahlen. Das Rehabilitationsgeld sei Gegenleistung zu den in Österreich gezahlten Versicherungsbeiträgen. Die dadurch erworbene Vergünstigung dürfe nicht durch Inanspruchnahme der Freizügigkeitsrechte eines Unionsbürgers verloren gehen. Daran ändere der Umstand nichts, dass die Klägerin in Tschechien eine Pension beziehe. Die Revision sei mangels Vorliegens einer Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung im Sinn des § 502 Abs 1 ZPO nicht zulässig.

[8] Gegen das Urteil des Berufungsgerichts richtet sich die außerordentliche Revision der Beklagten, mit der sie die Abweisung des Klagebegehrens auf Feststellung des Bestehens des Anspruchs auf Rehabilitationsgeld begehrt.

[9] Die Klägerin machte von der ihr vom Obersten Gerichtshof freigestellten Möglichkeit, eine Revisionsbeantwortung zu erstatten keinen Gebrauch.

[10] Die Revision ist zulässig und berechtigt.

Rechtliche Beurteilung

[11] 1. Mit Beschluss vom 19. 12. 2018, AZ 10 ObS 66/18f, legte der Oberste Gerichtshof dem Gerichtshof der Europäischen Union folgende Fragen zur Vorabentscheidung vor:

„1. Ist das österreichische Rehabilitationsgeld nach den Bestimmungen der Verordnung (EG) Nr 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit

‑ als Leistung bei Krankheit nach Art 3 Abs 1 lit a der Verordnung oder

‑ als Leistung bei Invalidität nach Art 3 Abs 1 lit c der Verordnung oder

‑ als Leistung bei Arbeitslosigkeit nach Art 3 Abs 1 lit h der Verordnung

zu qualifizieren?

2. Ist die Verordnung (EG) Nr 883/2004 im Licht des Primärrechts dahin auszulegen, dass ein Mitgliedstaat als ehemaliger Wohnstaat und Beschäftigungsstaat verpflichtet ist, Leistungen wie das österreichische Rehabilitationsgeld an eine Person mit Wohnsitz in einem anderen Mitgliedstaat zu zahlen, wenn diese Person den Großteil der Versicherungszeiten aus den Zweigen Krankheit und Pension als Beschäftigte in diesem anderen Mitgliedstaat (zeitlich nach der vor Jahren stattgefundenen Verlegung des Wohnsitzes dorthin) erworben hat und seit dem keine Leistungen aus der Kranken‑ und Pensionsversicherung des ehemaligen Wohn‑ und Beschäftigungsstaats bezogen hat?“

[12] 2. Der EuGH hat diese Fragen in seinem Urteil vom 5. März 2020, C‑135/19, ECLI:EU:C:2020:177, wie folgt beantwortet:

„1. Eine Leistung wie das im Ausgangsverfahren in Rede stehende Rehabilitationsgeld stellt eine Leistung bei Krankheit iSd Art 3 Abs 1 Buchst a der Verordnung (EG) Nr 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit in der durch die Verordnung (EU) Nr 465/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Mai 2012 geänderten Fassung dar.

2. Die Verordnung Nr 883/2004 in der durch die Verordnung Nr 465/2012 geänderten Fassung ist dahin auszulegen, dass sie einer Situation entgegensteht, in der einer Person, die in ihrem Herkunftsmitgliedstaat nicht mehr sozialversichert ist, nachdem sie dort ihre Erwerbstätigkeit aufgegeben und ihren Wohnsitz in einen anderen Mitgliedstaat verlegt hat, in dem sie gearbeitet und den größten Teil ihrer Versicherungszeiten zurückgelegt hat, von der zuständigen Stelle ihres Herkunftsmitgliedstaats die Gewährung einer Leistung wie des im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Rehabilitationsgelds versagt wird, da diese Person nicht den Rechtsvorschriften ihres Herkunftsmitgliedstaats unterliegt, sondern den Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats, in dem sie ihren Wohnsitz hat.“

[13] 3. Der EuGH stellte damit klar, dass die Klägerin im Verfahren 10 ObS 66/18f als nicht erwerbstätige Person unter Art 11 Abs 3 lit e VO 883/2004 fällt. Sie unterliegt nach dieser Bestimmung ausschließlich den Sozialrechtsvorschriften ihres Wohnmitgliedstaats (in jenem Fall den deutschen Rechtsvorschriften). Nach Einstellung ihrer Erwerbstätigkeit und Verlegung ihres Wohnsitzes in einen anderen Mitgliedstaat gehörte sie nicht mehr dem System der sozialen Sicherheit ihres Herkunftsstaats an (EuGH C‑135/19, Rn 50–52). Es besteht unter diesen konkreten Umständen keine Verpflichtung der Beklagten, Rehabilitationsgeld nach Deutschland zu exportieren (10 ObS 35/20z).

[14] 4. Eine dem Verfahren 10 ObS 66/18f (= 10 ObS 35/20z) vergleichbare Situation liegt auch im hier zu entscheidenden Verfahren vor. Die Klägerin lebt bereits seit längerem in der Tschechischen Republik. Sie ist nicht erwerbstätig und bezieht in Tschechien eine Pension. Sie hat ihre Erwerbstätigkeit in Österreich bereits vor vielen Jahren, nämlich im November 2006 beendet und ist demnach nicht mehr in der österreichischen Krankenversicherung versichert. Sie hat nach den Feststellungen über den großen Zeitraum von 1993 bis 2013 Beschäftigungen in Tschechien ausgeübt. Demnach fällt die Klägerin unter Art 11 Abs 3 lit e VO 883/2004 , sie unterliegt den Rechtsvorschriften des Wohnmitgliedstaats, daher im vorliegenden Fall den tschechischen Rechtsvorschriften. Eine Verpflichtung Österreichs, Rehabilitationsgeld als eine Leistung bei Krankheit im Sinn des Art 3 Abs 1 lit a VO 883/2004 in einer solchen Situation nach Tschechien zu exportieren, besteht nicht.

Der Revision war daher Folge zu geben.

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