OGH 10ObS114/20t

OGH10ObS114/20t13.10.2020

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Vizepräsidenten Univ.‑Prof. Dr. Neumayr als Vorsitzenden sowie die Hofrätinnen Dr. Fichtenau und Dr. Grohmann (Senat nach § 11a Abs 3 Z 2 ASGG) in der Sozialrechtssache der klagenden Partei I*, vertreten durch Mahringer Steinwender Bestebner Rechtsanwälte OG in Salzburg, gegen die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt, 1021 Wien, Friedrich-Hillegeist-Straße 1, wegen Berufsunfähigkeitspension, über den Rekurs der klagenden Partei gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts Linz vom 30. Juni 2020, GZ 11 Rs 38/20 t‑18, womit die Berufung der klagenden Partei gegen das Urteil des Landesgerichts Salzburg als Arbeits‑ und Sozialgericht vom 14. Februar 2020, GZ 18 Cgs 160/19s‑14, als verspätet zurückgewiesen wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2020:E129907

 

Spruch:

Dem Rekurs wird Folge gegeben.

Der Beschluss des Gerichts zweiter Instanz wird ersatzlos behoben und diesem die (inhaltliche) Entscheidung über das Rechtsmittel aufgetragen.

Die Kosten des Rechtsmittelverfahrens vor dem Obersten Gerichtshof sind weitere Verfahrenskosten.

 

Begründung:

[1] Der 1988 geborene Kläger ist seit einem Sturz im Jahre 2005 querschnittsgelähmt. Am 31. 5. 2010 trat er erstmals in das Erwerbsleben ein.

[2] Im Mai 2013 stellte er einen Antrag auf Zuerkennung einer Berufsunfähigkeitspension.

[3] Mit (rechtskräftigem) Bescheid vom 6. 8. 2013 wies die beklagte Pensionsversicherungsanstalt diesen Antrag unter Hinweis auf § 255 Abs 7 und § 254 ASVG ab. Der Bescheid wurde dem Kläger spätestens am 20. 9. 2013 zugestellt und erwuchs unbekämpft in Rechtskraft.

[4] Am 29. 7. 2019 beantragte der Kläger erneut die Gewährung der Berufsunfähigkeitspension.

[5] Mit Bescheid vom 31. 7. 2019 wies die beklagte Partei diesen Antrag unter Hinweis auf die originäre Berufsunfähigkeit zum Zeitpunkt der erstmaligen Aufnahme einer Erwerbstätigkeit und die Nichterfüllung der besonderen Wartezeit von 120 Versicherungsmonaten (im Sinne des § 255 Abs 7 ASVG) ab.

[6] Mit seiner Klage begehrt der Kläger die Gewährung der Berufsunfähigkeitspension und stellt zwei Eventualbegehren. Er bringt vor, seine Berufsunfähigkeit sei nicht schon im Zeitpunkt des Eintritts in das Erwerbsleben gegeben gewesen, sondern sei erst nach einem Sturz aus dem Rollstuhl im Jahr 2012 eingetreten. Eine originäre Berufsunfähigkeit liege nicht vor. Der Spruch des Bescheids vom 6. 8. 2013 enthalte keine Feststellungen dazu, dass bereits bei Eintritt in das Berufsleben Berufsunfähigkeit vorgelegen habe.

[7] Die beklagte Partei beantragt die Zurückweisung der Klage. Mit dem rechtskräftigen Bescheid vom 6. 8. 2013 sei über das Vorliegen originärer Erwerbsunfähigkeit bereits entschieden worden. In eventu sei das Klagebegehren abzuweisen. Der Kläger sei zu keinem Zeitpunkt auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt arbeitsfähig gewesen. Außerdem lägen auch zum nunmehrigen Stichtag nicht die nach § 255 Abs 7 ASVG erforderlichen 120 Beitragsmonate der Pflichtversicherung aufgrund einer Erwerbstätigkeit vor. Seit 2013 sei der Kläger nur einige Monate als Angestellter im Büro seiner Mutter beschäftigt gewesen.

[8] Das Erstgericht wies das Klagebegehren mit Urteil ab. Es stellte fest, dass der Kläger bis zum Stichtag (1. 8. 2019) insgesamt 23 Beitragsmonate der Pflichtversicherung erworben hat.

[9] Rechtlich ging das Erstgericht davon aus, der Begriff der Invalidität bzw Berufsunfähigkeit stelle auf das Herabsinken einer zuvor bestandenen Arbeitsfähigkeit durch nachfolgende Entwicklungen ab. Mit § 255 Abs 7 ASVG habe der Gesetzgeber aber auch einen Anspruch auf Berufsunfähigkeitspension für Versicherte geschaffen, bei denen Berufsunfähigkeit bereits vor der erstmaligen Aufnahme einer Pflichtversicherung begründenden Beschäftigung gegeben war (originäre Berufsunfähigkeit). Das Gericht sei hinsichtlich des Vorliegens der originären Berufsunfähigkeit an den Bescheid der beklagten Partei vom 6. 8. 2013 gebunden. Ein auf § 255 Abs 7 und § 271 ASVG gestützter ablehnender Bescheid sei als rechtskräftige Entscheidung über die originäre Berufsunfähigkeit zu werten. Es liege das Prozesshindernis der entschiedenen Sache vor. Notwendige Folge sei die Abweisung auch der Eventualbegehren (hinsichtlich Maßnahmen der medizinischen beruflichen Rehabilitation sowie des Rehabilitationsgeldes). Den Beweisanträgen zum Gesundheitszustand des Klägers sei nicht Folge zu geben, weil hinsichtlich des Vorliegens der originären Berufsunfähigkeit Bindung an den rechtskräftigen Bescheid vom 6. 8. 2013 bestehe.

[10] Dieses Urteil wurde dem Kläger am 30. 4. 2020 zugestellt.

[11] Am 29. 5. 2020 brachte der Kläger beim Erstgericht elektronisch die Berufung gegen dieses Urteil ein. Die beklagte Partei erstattete eine Berufungsbeantwortung.

[12] Mit dem angefochtenen Beschluss wertete das Oberlandesgericht Linz diese Berufung als Rekurs und wies diesen als verspätet zurück. Ebenso wies es die als Rekursbeantwortung zu behandelnde Berufungsbeantwortung der beklagten Partei zurück. Rechtlich führte es aus, das Erstgericht habe mit seiner als Urteil bezeichneten Entscheidung die Klage – der Einrede der beklagten Partei folgend – mit der Begründung abgewiesen, dass das Prozesshindernis der entschiedenen Sache vorliege. Darüber wäre aber mit Beschluss zu entscheiden gewesen. Da sich die Zulässigkeit einer Anfechtung allein nach der vom Gesetz vorgeschriebenen Entscheidungsform richte und das Vergreifen in der Entscheidungsform weder die Zulässigkeit noch die Behandlung als Rechtsmittel beeinflusse, sei das Rechtsmittel als Rekurs und die von der beklagten Partei erstattete Rechtsmittelbeantwortung als Rekursbeantwortung zu werten und zu behandeln. Dafür betrage die Rechtsmittelfrist jeweils 14 Tage. Gemäß § 1 Abs 1 1. COVID‑19‑Justiz‑Begleitgesetz habe die Rekursfrist daher am 15. 5. 2020 geendet. Das vom Kläger am 29. 5. 2020 eingebrachte Rechtsmittel sei demnach verspätet.

[13] Gegen diesen Beschluss richtet sich der Rekurs des Klägers, den die beklagte Partei unbeantwortet ließ.

Rechtliche Beurteilung

[14] 1. Richtet sich ein Rechtsmittel gegen einen Zurückweisungsbeschluss des Rekursgerichts, der auf die abschließende Verweigerung des Rechtsschutzes nach einer Klage hinausläuft, ist für die Beurteilung der Zulässigkeit des Rechtsmittels § 519 Abs 1 Z 1 ZPO analog anzuwenden. Dies wurde auch für den Fall bejaht, dass eine Berufung vom Gericht zweiter Instanz in einen Rekurs umgedeutet und wegen Verspätung zurückgewiesen worden war (10 ObS 77/19z mwN). Der Rekurs ist auch berechtigt.

[15] 2.1. Das Rekursgericht hat sich auf die Rechtsprechung gestützt, nach der das Vergreifen in der Entscheidungsform weder die Zulässigkeit noch die Behandlung des Rechtsmittels und die Rechtsmittelfrist beeinflusst, weil auch Gerichtsfehler nicht zur Verlängerung der Notfristen führen können (RS0041880; RS0036324 [T14]; RS0041859).

[16] 2.2. Dies setzt voraus, dass das Erstgericht in den Entscheidungsgründen unzweifelhaft und unmissverständlich zum Ausdruck gebracht hat, das Klagebegehren in Form eines Beschlusses zurückweisen zu wollen, im Spruch aber dann irrtümlich mit einer Klageabweisung vorgegangen ist (10 Ob 6/19h EvBl 2020/68, 462 [dazu Klicka, ÖJZ 2020/65, 478]).

[17] 3. Aus der Begründung der erstgerichtlichen Entscheidung ist ein auf Zurückweisung der Klage gerichteter Entscheidungswille aber nicht zweifelsfrei ableitbar:

[18] 3.1. Voraussetzung für den Anspruch des Klägers auf Berufsunfähigkeitspension nach § 273 Abs 1 ASVG ist ua, dass eine zuvor bestandene Arbeitsfähigkeit durch nachgehende Entwicklungen auf weniger als die Hälfte derjenigen eines körperlich und geistig gesunden Versicherten von ähnlicher Ausbildung und gleichwertigen Kenntnissen herabgesunken ist und – bezogen auf den durch die jeweilige Antragstellung ausgelösten Stichtag – die Wartezeit von zumindest 60 Versicherungsmonaten (§ 236 Abs 1 lit a ASVG iVm § 236 Abs 2 Z 1 ASVG) erfüllt ist.

[19] 3.2. Der Anspruch des Klägers auf Berufsunfähigkeitspension ist aber auch dann zu bejahen, wenn er bereits vor der erstmaligen Aufnahme einer die Pflichtversicherung begründenden Beschäftigung infolge von Krankheit oder anderen Gebrechen oder Schwäche seiner körperlichen oder geistigen Kräfte außerstande war, einem regelmäßigen Erwerb nachzugehen („originäre Erwerbsunfähigkeit“), er aber dennoch über lange Zeit erwerbstätig war und aufgrund dieser Erwerbstätigkeit zum Stichtag zumindest 120 Beitragsmonate der Pflichtversicherung erworben hat („besondere Wartezeit“ – § 273 Abs 2 ASVG iVm § 255 Abs 7 ASVG).

[20] 3.3. Die mangelnde Erfüllung der (allgemeinen oder besonderen) Wartezeit führt zur Abweisung des Klagebegehrens mittels Urteils.

[21] 4.1. Wie der Rekurswerber zutreffend aufzeigt, stellt auch ein Bescheid, mit dem originäre Invalidität bzw Berufsunfähigkeit rechtskräftig festgestellt wurde, für ein aufgrund späterer (neuerlicher) Antragstellung ausgelöstes Verfahren auf Gewährung einer Berufsunfähigkeitspension kein Prozesshindernis der entschiedenen Rechtssache dar, das die Zurückweisung der Klage wegen entschiedener Rechtssache rechtfertigen kann. Im Rahmen der sukzessiven Kompetenz hatte das Erstgericht nicht nur den von der beklagten Partei erlassenen und vom Kläger bekämpften Bescheid im Rahmen eines Rechtsmittelverfahrens zu überprüfen, sondern hatte seine Entscheidung völlig neu und unabhängig vom Verwaltungsverfahren zu treffen. Daher hatte es unabhängig von der Begründung des angefochtenen Bescheids auch die Erfüllung der Wartezeit bezogen auf den durch die spätere Antragstellung ausgelösten Stichtag zu prüfen (10 ObS 211/01d = RS0085600 [T1]; Panhölzl in SV‑Komm § 236 ASVG [206. Lfg] Rz 21). Je nach dem Ergebnis dieser Prüfung ist mit einer klagestattgebenden oder klageabweisenden Sachentscheidung vorzugehen.

[22] 4.2. Für die Rechtzeitigkeit des gewählten Rechtsmittel kommt es aber nicht ausschließlich darauf an, welche Entscheidungsform rein objektiv die richtige gewesen wäre, sondern auch darauf, welche Entscheidungsform das Gericht im Lichte eines objektiven Empfängerhorizonts tatsächlich gewählt hat (Klicka, ÖJZ 2020/65, 478).

[23] 4.3. Wie sich aus dem Verhandlungsprotokoll vom 14. 2. 2020 ergibt, schloss das Erstgericht die Verhandlung, um eine Sachentscheidung zu treffen („Urteil ergeht schriftlich“). Zuvor erörterte es mit den Parteien, in der zu fällenden Entscheidung (auch) die „Rechtskraftwirkung“ des Bescheids vom 6. 8. 2013 klären zu wollen (ON 12, AS 62).

[24] 4.4. In der Folge erließ das Erstgericht ein Urteil, in dem sich Feststellungen zur Wartezeit finden und in dessen rechtlicher Beurteilung auf das Erfordernis der Erfüllung der Wartezeit hingewiesen wurde. Das Erstgericht befasste sich aber auch mit der Frage der originären Berufsunfähigkeit und verwies auf die Rechtskraftwirkung des Bescheids vom 6. 8. 2013. Es berief sich auf eine Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts, nach der ein auf § 255 Abs 7 und § 271 ASVG gestützter ablehnender Pensionsbescheid als rechtskräftige Entscheidung über die originäre Berufsunfähigkeit zu werten und ein neuer Antrag zurückzuweisen sei, sofern sich die Sach- und Rechtslage nicht geändert hat. In den Urteilsgründen folgt der Satz „Es liegt das Prozesshindernis der entschiedenen Rechtssache vor“, an den unmittelbar anschließend aber die Abweisung der Eventualbegehren (auf Maßnahmen der medizinischen und beruflichen Rehabilitation) begründet wird.

[25] 5.1. Diese Entscheidungsgründe rechtfertigen in ihrer Gesamtheit nicht in der geforderten und unmissverständlichen Weise die Ansicht des Rekursgerichts, das Erstgericht hätte die Klage wegen des Vorliegens des Prozesshindernisses der entschiedenen Sache mit Beschluss zurückweisen wollen und nur irrtümlich die Urteilsform gewählt:

[26] 5.2. Dagegen spricht nicht nur, dass das Erstgericht seinen in der Verhandlung ausgedrückten Willen, eine Sachentscheidung zu treffen, folgerichtig umgesetzt hat. Wesentlich ist weiters, dass das Erstgericht Feststellungen zur Wartezeit (bezogen auf den Stichtag 1. 8. 2019) getroffen und auch in der rechtlichen Beurteilung auf das Erfordernis der Erfüllung der Wartezeit von 120 Beitragsmonaten der Pflichtversicherung aufgrund einer Erwerbstätigkeit hingewiesen hat (die hier unstrittig nicht erfüllt ist). Allein der Umstand, dass das Erstgericht auch das Vorliegen der originären Berufsunfähigkeit klären wollte, sich zu diesem Zweck mit der Rechtskraftwirkung des Bescheids vom 6. 8. 2013 in Bezug auf die originäre Berufsunfähigkeit auseinandergesetzt und diese bejaht hat (wobei hier nicht zu behandeln ist, ob diese Ausführungen zutreffen), lässt objektiv nicht die eindeutige Folgerung darauf zu, das Erstgericht habe daraus die Notwendigkeit einer Beschlussfassung auf Zurückweisung der Klage wegen rechtskräftig entschiedener Sache abgeleitet und die Klage tatsächlich zurückweisen wollen, sich aber in der Entscheidungsform vergriffen. Die Begründung der Entscheidung könnte objektiv auch dahin verstanden werden, dass das Erstgericht das Vorliegen des rechtskräftigen Bescheids (richtigerweise) lediglich auf die originäre Berufsunfähigkeit bezogen hat und mangels Erfüllung der Wartezeit (zum Stichtag 1. 8. 2019) tatsächlich mit einer Klageabweisung vorgehen habe wollen.

[27] 6. Ein in der Entscheidung selbst nicht zweifelsfrei erkennbarer richterlicher Entscheidungswille ist als Auslegungsmittel der gerichtlichen Entscheidung aber untauglich (RS0000234 [T1]).

[28] 7. Dem Rekurs ist daher Folge zu geben, der angefochtene Beschluss des Rekursgerichts aufzuheben und die Rechtssache an das Berufungsgericht zurückzuverweisen.

[29] 8. Der Kostenvorbehalt beruht auf § 52 Abs 1 ZPO.

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