OGH 4Ob119/20h

OGH4Ob119/20h31.8.2020

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsrekursgericht durch den Senatspräsidenten Dr. Vogel als Vorsitzenden und die Hofräte Dr. Schwarzenbacher und Hon.‑Prof. Dr. Brenn sowie die fachmännischen Laienrichter Patentanwalt Dr. Andreas Weiser und Patentanwalt DI Christian Weiss als weitere Richter in der Gebrauchsmustersache der Antragstellerin N***** GmbH, *****, vertreten durch Schmidtmayr Sorgo Wanke Rechtsanwälte OG in Wien sowie Sonn & Partner Patentanwälte in Wien, wegen Eintragung des Gebrauchsmusters mit dem Titel „Verfahren und Kontrollsystem zur Einhaltung von Sicherheitsbestimmungen“, über den außerordentlichen Revisionsrekurs der Antragstellerin gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts Wien als Rekursgericht vom 21. Jänner 2020, AZ 133 R 103/19y, mit dem der Beschluss der Technischen Abteilung des Patentamts vom 7. Mai 2019, GM 218/2013‑10, bestätigt wurde, den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2020:0040OB00119.20H.0831.000

 

Spruch:

Dem Revisionsrekurs wird Folge gegeben.

Der angefochtene Beschluss sowie der erstinstanzliche Beschluss der Technischen Abteilung des Österreichischen Patentamts vom 7. Mai 2019, GM 218/2013‑10, werden aufgehoben.

Die Gebrauchsmustersache wird zur Fortsetzung des Anmeldeverfahrens – insbesondere zur Erstellung des Recherchenberichts und Entscheidung über die Veröffentlichung des Gebrauchsmusters und dessen Eintragung im Gebrauchsmusterregister – an die Technische Abteilung des Österreichischen Patentamts zurückverwiesen, dies auf Basis der zuletzt begehrten Ansprüche:

„1. Kontrollsystem zur Überwachung der Einhaltung von Sicherheitsbestimmungen an einem Arbeitsplatz, mit einer Datenbank (10), in der Sicherheitsmaßnahmen gespeichert sind, mit einer Kommunikationseinrichtung (38; 4), mit wenigstens einem über diese mit der Datenbank (10) verbundenen Terminal (2), das einen Prozessor (2A) und ein Display (2B) aufweist und eingerichtet ist, zumindest eine Sicherheitsmaßnahme (62) aus der Datenbank (10) über die Kommunikationseinrichtung (38; 4) zu laden und auf dem Display (2B) anzuzeigen, wobei das Terminal (2) weiters zur Abgabe einer Bestätigung der Durchführung der Sicherheitsmaßnahme eingerichtet ist, und mit einem weiteren Terminal (5), das einen Prozessor (SA) enthält und zum Empfang der Bestätigung der Durchführung der Sicherheitsmaßnahme (62) oder einer Mitteilung einer Abweichung hiervon eingerichtet ist.

2. Kontrollsystem nach Anspruch 1 dadurch gekennzeichnet, dass der Datenbank (10) ein Rechner zur Bestimmung einer jeweiligen Sicherheitsmaßnahme (62) auf Basis einer vom Terminal (2) übermittelten Charakterisierung einer geplanten Tätigkeit zugeordnet ist.

3. Kontrollsystem nach Anspruch 2, dadurch gekennzeichnet, dass das Terminal (2) ein Auswahlmodul für eine von mehreren vorgegebenen, gespeicherten Tätigkeiten und/oder für eines oder mehrerer Merkmale aus einer Gruppe von vordefinierten Merkmalen einer vorgefundenen Arbeitsumgebung aufweist.

4. Kontrollsystem nach einem der Ansprüche 1 bis 3, dadurch gekennzeichnet, dass das Terminal (2) eine akustische und/oder optische Aufnahmeeinheit für die Anfertigung von Sprach- bzw Foto‑Aufnahmen in Zuordnung zu einer Bestätigung der bzw Abweichung von der Sicherheitsmaßnahme (62) aufweist.

5. Kontrollsystem nach einem der Ansprüche 1 b is 4, dadurch gekennzeichnet, dass sich die Datenbank (10) auf einem zentralen Datenbankserver (3) befindet, mit dem sowohl das Terminal (2) als auch gegebenenfalls das weitere Terminal (5) über ein Datennetzwerk verbunden ist bzw sind, wobei die Datenbank (10) vorzugsweise zur dauerhaften Sicherung der eingegebenen Bestätigungen und Abweichungen, gegebenenfalls mit zugeordneten Daten, eingerichtet ist.“

 

Begründung:

Die Antragstellerin beantragte am 28. Juni 2013 die Registrierung des Gebrauchsmusters mit dem Titel „Verfahren und Kontrollsystem zur Einhaltung von Sicherheitsbestimmungen“ zuletzt mit den im Spruch genannten Ansprüchen.

Mit Beschluss vom 7. Mai 2019 wies die Technische Abteilung des Patentamts im Rahmen der Gesetzmäßigkeitsprüfung nach § 18 GMG die Anmeldung aus dem Grund des § 18 Abs 2 GMG zurück, weil es bei der Anmeldung um die Verwaltung von Daten und die Automatisierung eines bestimmten, durch Richtlinien vorgegebenen organisatorischen Ablaufs gehe. Derartige Verfahren seien nicht „technisch“, weshalb es der Gebrauchsmusteranmeldung an der erforderlichen Technizität fehle.

Das Rekursgericht bestätigte diese Entscheidung. Im Rahmen der Gesetzmäßigkeitsprüfung nach § 18 Abs 1 GMG sei zu beurteilen, ob die Anmeldung den formellen Erfordernissen (zB § 14 GMG) entspricht, sowie ob sonstige Bedenken gegen die Veröffentlichung und die Registrierung des Gebrauchsmusters bestehen (zB § 1 Abs 3 GMG). Programme für Datenverarbeitungsanlagen seien nach § 1 Abs 3 GMG nicht schutzfähig. Zur Bejahung der Technizität eines Programms müsse dieses einen weiteren technischen Effekt aufweisen und ein konkretes technisches Problem mit technischen Mitteln lösen. Im Anlassfall beschränke sich das angemeldete Gebrauchsmuster auf eine technische Unterstützung der Überwachung der Einhaltung von Sicherheitsbestimmungen an einem Arbeitsplatz. Die Prägung des dem Gebrauchsmuster zugrunde liegenden Problems sei nur auf die Informationserfassung, -übermittlung und ‑verarbeitung mit Hilfe verschiedener technischer Einrichtungen beschränkt. Dies genüge für die erforderliche Technizität nicht. Die Unteransprüche 2–5 enthielten weitere technische Mittel und Vorrichtungen, die in Verbindung mit den Merkmalen des Anspruchs 1 genauso wenig zur Lösung einer technischen Aufgabe beitragen. Dazu sprach das Rekursgericht aus, dass der Wert des Entscheidungsgegenstands 30.000 EUR übersteige und der ordentliche Revisionsrekurs mangels erheblicher Rechtsfrage iSd § 62 Abs 1 AußStrG nicht zulässig sei.

Gegen diese Entscheidung richtet sich der außerordentliche Revisionsrekurs der Antragstellerin, der auf die Veröffentlichung und Registrierung des angemeldeten Gebrauchsmusters abzielt.

Der Revisionsrekurs ist entgegen dem – den Obersten Gerichtshof nicht bindenden – Ausspruch des Rekursgerichts zulässig, weil die Entscheidung des Rekursgerichts einer Korrektur durch den Obersten Gerichtshof bedarf. Dementsprechend ist der Revisionsrekurs auch berechtigt.

Rechtliche Beurteilung

1.  Die Antragstellerin führt in ihrem Revisionsrekurs aus, dass nach der Judikatur des Europäischen Patentamts die Verwendung technischer Mittel für die Bejahung der Technizität des Schutzgegenstands ausreichend sei („any hardware“-Ansatz). Danach seien die angemeldeten Ansprüche schutzfähig, weil der beanspruchte Gegenstand eine aus mehreren Komponenten zusammengesetzte Vorrichtung (Apparatur) aufweise. Zudem bildeten sowohl die technische Unterstützung einer Überwachung der Einhaltung von Sicherheitsbestimmungen als auch die Informationserfassung, -übermittlung und ‑verarbeitung mit technischen Einrichtungen ein konkretes technisches Problem.

2.  Das Rekursgericht hat zutreffend ausgeführt, dass als Gebrauchsmuster Erfindungen auf allen Gebieten der Technik geschützt werden, sofern sie neu sind, auf einem erfinderischen Schritt beruhen und gewerblich anwendbar sind (§ 1 Abs 1 GMG). Ebenso richtig ist, dass im Anmeldeverfahren im Rahmen der Gesetzmäßigkeitsprüfung nach § 18 Abs 1 GMG die Neuheit bzw der erfinderische Schritt und die gewerbliche Anwendbarkeit nicht geprüft werden.

Anderes gilt jedoch für die Technizität (vgl RIS‑Justiz RS0130899; OBGM 1/13; Weiser , PatG GMG 3 734 f). Das aus der Wendung „auf allen Gebieten der Technik“ in § 1 Abs 1 GMG ableitbare Technizitätserfordernis für gebrauchsmusterfähige Erfindungen deckt sich – aufgrund der gleichlautenden Formulierung in § 1 Abs 1 PatG – mit jenem für patentfähige Erfindungen. Aus diesem Grund kann zur Beurteilung der Technizität von gebrauchsmusterfähigen Erfindungen die einschlägige patentrechtliche Judikatur herangezogen werden. Zur Sicherstellung einer harmonisierten Auslegung der gebrauchsmusterrechtlichen Schutzanforderungen nach den nationalen Rechtsvorschriften im Lichte des Europäischen Patentübereinkommens kann dabei auch auf die Rechtsprechung des Europäischen Patentamts zurückgegriffen werden (4 Ob 228/18k).

3.1  Um patent- bzw gebrauchsmusterschutzfähig zu sein, muss der beanspruchte Gegenstand technischen Charakter aufweisen. In Bezug auf computerimplementierte Erfindungen ist in dieser Hinsicht zu beachten, dass „Programmlogiken“ ausdrücklich gebrauchsmusterfähig sind (§ 1 Abs 2 GMG), während Programme für Datenverarbeitungsanlagen nur „als solche“ vom Gebrauchsmusterschutz ausgeschlossen sind (§ 1 Abs 3 Z 3 und Abs 4 GMG). Das Technizitätserfordernis gilt auch für Programmlogiken und „Nicht-als-solche“-Computerprogramme (OBGM 1/13; Weiser , Gebrauchsmusterschutz für Programmlogiken, ecolex 2014, 349).

3.2  Im Anlassfall ist der Gegenstand der zuletzt begehrten Gebrauchsmusteransprüche weder ein Computerprogramm noch eine Programmlogik, sondern ein „Kontrollsystem“, das heißt eine „Vorrichtung“. Die Fälle des § 1 Abs 2 und § 1 Abs 3 Z 3 und Abs 4 GMG sind daher nicht einschlägig und müssen demnach nicht geprüft werden.

4.1  Nach der gefestigten Rechtsprechung des Europäischen Patentamts und seiner Beschwerdekammern (vgl EPA T 1173/97 IBM ; T 641/00 COMVIK ; G 3/08; T 258/03 HITACHI ; T 154/04 DUNS ) ist die Frage der Technizität eines Anspruchsgegenstands unabhängig von der Frage seiner Neuheit und Erfindungshöhe zu prüfen (vgl 4 Ob 94/16a). Sie ist in einem ersten Schritt gesondert zu untersuchen, und zwar ohne Rücksicht auf den Stand der Technik.

Nach der Rechtsprechung liegt Technizität eines Erfindungsmerkmals vor, wenn es einem technischen Zweck dient (4 Ob 94/16a; Weiser , PatG GMG 20 mwN; so auch Stanke/Alge/Brunner in Stadler/Koller , PatG § 1 Rn 18). Technizität eines aus mehreren Merkmalen zusammengesetzten Anspruchsgegenstands kann bereits dann vorliegen, wenn ein einziges Merkmal – auch wenn es aus dem Stand der Technik bereits bekannt sein sollte – technisch ist (EPA G 3/08, Rn 10.6, unter Hinweis auf T 258/03 HITACHI und T 424/03 MICROSOFT ; sogenannter „any hardware“- oder „any technical means“-Ansatz). In der Entscheidung des Europäischen Patentamts zu T 1930/06 wurde etwa der technische Charakter eines Online‑Bestellsystems mit der Begründung bejaht, dass sich dieses System technischer Mittel (Rechner, Kommunikationsverbindungen, Datenspeicher, Fax-Generator) bedient.

4.2  Ergänzend wird darauf hingewiesen, dass die Technizität bzw Nicht-Technizität von Anspruchsmerkmalen nach der angeführten Judikatur des Europäischen Patentamts und seiner Beschwerdekammern auch bei der Beurteilung der Erfindungshöhe eines Anspruchsgegenstands zu berücksichtigen ist: Bei einer Erfindung, die aus einer Mischung technischer und nicht-technischer Merkmale besteht (und wegen des genannten „any technical means“-Ansatzes als Ganzes technischen Charakter aufweist), sind bei Beurteilung des Erfordernisses der erfinderischen Tätigkeit alle Merkmale zu berücksichtigen, die zu diesem technischen Charakter beitragen, während Merkmale, die keinen solchen Beitrag leisten, das Vorliegen erfinderischer Tätigkeit nicht stützen können (EPA T 641/00 COMVIK ; T 154/04 DUNS ).

5.  Im Anlassfall liegt Technizität der im Hauptanspruch 1 beanspruchten Vorrichtung „Kontrollsystem“ bereits durch die notorische Technizität der darin zitierten Vorrichtungskomponenten „Datenbank, Kommunikationseinrichtung, Terminal, Prozessor, Display, weiteres Terminal und weiterer Prozessor“ vor; dies gilt auch für die diese Komponenten mitenthaltenden Unteransprüche 2 bis 5.

6.1  Die Entscheidung des Rekursgerichts im Rahmen der Gesetzmäßigkeitsprüfung nach § 18 GMG hält der Überprüfung durch den Obersten Gerichtshof damit nicht stand. In Stattgebung des Revisionsrekurses waren die angefochtene Entscheidung und der erstinstanzliche Beschluss der Technischen Abteilung des Österreichischen Patentamts daher zur Fortsetzung des Anmeldeverfahrens aufzuheben.

6.2  Im fortgesetzten Anmeldeverfahren wird der Recherchenbericht (§ 19 GMG) zu erstellen und anschließend über die Veröffentlichung und Registrierung des Gebrauchsmusters (§ 20 GMG) zu entscheiden sein. Bei Erstellung des Recherchenberichts wird besonderes Augenmerk darauf zu legen sein, dass im Sinn der erwähnten Rechtsprechung zum „ COMVIK -Ansatz“ jene Merkmale der Ansprüche zum erfinderischen Schritt der Anspruchsgegenstände nicht beitragen können, die zum technischen Charakter der Erfindung keinen Beitrag leisten.

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