OGH 3Ob97/19i

OGH3Ob97/19i26.6.2019

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten Dr.

 Hoch als Vorsitzenden sowie die Hofräte Dr. Roch und Priv.‑Doz. Dr. Rassi und die Hofrätinnen Dr. Weixelbraun‑Mohr und Dr. Kodek als weitere Richter in den verbundenen Rechtssachen der klagenden Partei L***** GmbH, *****, vertreten durch Pelzmann Gall Größ Rechtsanwälte GmbH in Wien, gegen die beklagte Partei Dipl.‑Ing. K*****, vertreten durch Dr. Stefan Gulner, Rechtsanwalt in Wien, wegen Unzulässigkeit einer Exekution (§ 36 EO), über die außerordentliche Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Wien als Berufungsgericht vom 16. Jänner 2019, GZ 38 R 274/18b‑187, womit das Urteil des Bezirksgerichts Innere Stadt Wien vom 24. Juli 2018, GZ 95 C 39/11d, 44 C 695/06t, 44 C 749/06h‑178, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2019:0030OB00097.19I.0626.000

 

Spruch:

 

Der Revision wird Folge gegeben.

Die Urteile der Vorinstanzen werden dahin abgeändert, dass die Klagebegehren auf Unzulässigerklärung der mit Beschluss des Bezirksgerichts Innere Stadt Wien vom 3. August 2006 zu 67 E 3724/06h bewilligten Exekution und auf Aufhebung der mit den (Straf‑)Beschlüssen vom 4. und vom 12. September 2006 verhängten Geldstrafen von 15.000 EUR und 20.000 EUR abgewiesen werden.

Die klagende Partei ist schuldig, der beklagten Partei die mit 11.464,22 EUR (hierin enthalten 1.384 EUR USt und 3.160,20 EUR Barauslagen) bestimmten Kosten des erstinstanzlichen Verfahrens, die mit 548,86 EUR (hierin enthalten 91,48 EUR USt) bestimmten Kosten des Berufungsverfahrens und die mit 377,50 EUR (hierin enthalten 62,92 EUR USt) bestimmten Kosten des Revisionsverfahrens jeweils binnen 14 Tagen zu ersetzen.

 

Entscheidungsgründe:

Die Klägerin ist Eigentümerin einer Liegenschaft in Wien. Der Beklagte war (der letzte) Mieter einer Wohnung in dem auf dieser Liegenschaft errichteten Haus.

Mit Bescheid vom 24. Februar 2005 erteilte die Baubehörde (MA 37) der Klägerin wegen technischer Abbruchreife des Gebäudes den Auftrag, den dreistöckigen teilunterkellerten Gassentrakt binnen sechs Monaten nach Rechtskraft dieses Bescheids zu räumen und nach erfolgter Räumung abtragen zu lassen. Bis zur erfolgten Räumung und Abtragung seien alle jene Vorkehrungen zu treffen, die zur Hintanhaltung einer unmittelbaren Gefahr für die Benützer des Hauses sowie der Anrainer und der Straßenpassanten erforderlich seien. Der Auftrag gelte auch dann als erfüllt, wenn in derselben Frist anstelle der Räumung und Abtragung die Baulichkeit entsprechend der Bauordnung für Wien instandgesetzt werde.

Die Klägerin brachte daraufhin am 16. März 2005 gegen den Beklagten eine auf § 1112 ABGB gestützte Räumungsklage ein. Das Erstgericht gab dieser Klage mit Urteil vom 24. November 2005 statt; der Beklagte erhob dagegen Berufung.

Nach Ablauf der im Abbruchbescheid gesetzten Frist, aber noch vor Erlassung des erstinstanzlichen Urteils, stellte die MA 37 am 30. September 2005 an die MA 25 den Antrag, den Bescheid vom 24. Februar 2005 im Wege der Ersatzvornahme zu vollstrecken. Mit Auftragsbrief vom 9. bzw 15. November 2005 erteilte die Klägerin einem Bauunternehmen den Auftrag, Vorbereitungsmaßnahmen zum Abbruch des Hauses zu treffen.

Mit Schreiben vom 30. November 2005 teilte die Klägerin der MA 37 mit, dass es ihr nicht möglich sei, dem Räumungs‑ und Abtragungsauftrag nachzukommen, weil der Beklagte sich weigere, seine Wohnung zu räumen. Nur das „energische Einschreiten der Behörde“ könne daher „die vorherrschende Gefährdung von Gesundheit und Leben, insbesondere für Passanten und Besucher des Hauses beseitigen“. Überdies ließ die Klägerin die MA 37 wissen, dass sie eine Vollstreckung des Abtragungsauftrags im Wege der Ersatzvornahme ausdrücklich begrüße, und ersuchte diese „eindringlich um Unterstützung bei der Durchführung der angeordneten Maßnahmen im Wege des Verwaltungszwanges“ und insbesondere um unverzügliche Veranlassung der Androhung der Ersatzvornahme auf Kosten der Klägerin im Wege der MA 25. Sie habe bereits ein Bauunternehmen beauftragt, auch im Auftrag der Baubehörde, jedoch auf Kosten der Klägerin tätig zu werden.

Mit Schreiben vom 21. Dezember 2005 teilte die Klägerin der MA 37 und der MA 25 mit, dass der gegen den Beklagten eingebrachten Räumungsklage mit (erstinstanzlichem) Urteil stattgegeben worden sei und daher „zur unbedingt notwendigen Vermeidung einer Gefährdung von Gesundheit und Leben von Menschen“ ersucht und beantragt werde, unverzüglich die Räumung und Abtragung des Gebäudes im Wege der Ersatzvornahme amtswegig durchzuführen.

Mit Bescheid vom 22. Dezember 2005 setzte die MA 25 der Klägerin eine weitere Frist von 16 Wochen zur Erfüllung der Verpflichtung zur Räumung des Gebäudes und drohte für den Fall der Nichterfüllung eine Zwangsstrafe von 500 EUR an. Als Reaktion darauf teilte die Klägerin der MA 25 mit Schreiben vom 29. Dezember 2005 mit, dass die Androhung verfehlt sei und rechtlich ins Leere gehe; sie ersuchte die Behörde, ihren Amtspflichten unverzüglich nachzukommen. Sie verzichte auf die ihr gesetzte Frist ausdrücklich; aufgrund des von ihr dem Bauunternehmen bereits erteilten Auftrags sei die MA 25 sofort in der Lage, die Ersatzvornahme auf Kosten der Klägerin durchzuführen. Sie ersuchte die MA 25 um Bekanntgabe eines Verrechnungskontos, auf das sie unverzüglich den mit dem Bauunternehmen vereinbarten Werklohn von rund 40.000 EUR einzahlen könne.

Mit Schreiben vom 20. Februar 2006 teilte die MA 25 der Klägerin mit, dass ein Verzicht auf die gesetzte Frist nicht möglich sei und die Setzung dieser Frist in Anbetracht der Möglichkeit, den geforderten Zustand selbst herzustellen, nicht sinnlos sei.

Mit Generalunternehmervertrag vom 5. April 2006 erteilte die Klägerin der F***** GmbH (im Folgenden: F*****), deren Alleingesellschafterin sie ist und deren alleiniger Geschäftsführer damals einer von drei Geschäftsführern der Klägerin war, den Auftrag zum Abbruch des bestehenden Althauses und zur anschließenden schlüssel- und bezugsfertigen Errichtung eines neuen Wohnhauses auf der Liegenschaft.

Mit Schreiben vom 6. April 2006 teilte die Klägerin der MA 25 mit, ein Statikerbüro habe am 29. März 2006 festgestellt, dass sich der Bauzustand des Hauses weiter verschlechtert habe und bereits Gefahr im Verzug vorliege. Sie werde dem ihr erteilten Auftrag zur Räumung und Abtragung des Gebäudes auch in Zukunft nicht entsprechen können. Die Behörde sei verpflichtet, unverzüglich tätig zu werden und die Ersatzvornahme durchzuführen. Dieses Schreiben ließ die Klägerin auch der MA 37 zukommen.

Im Rahmen eines Ortsaugenscheins durch die Baubehörde am 11. April 2006 wurde festgestellt, dass sich der Zustand des Gebäudes gegenüber dem am 1. April 2004 festgestellten Zustand, der zur Erteilung des Räumungs- und Abtragungsauftrags geführt hatte, weiter verschlechtert hatte; aufgrund der noch immer stattfindenden Setzungsvorgänge bestehe eine unmittelbar drohende Einsturzgefahr. Daraufhin verhängte das Büro für Sofortmaßnahmen ein Betretungsverbot; auch eine Sperre der Straße wurde angeordnet. Die Baubehörde trug der Klägerin auf, die Umgebung des Hauses abzusichern, und der Beklagte wurde aufgefordert, seine Wohnung zu räumen, was er auch tat. Das Eingangstor zum Haus wurde versperrt; die Klägerin erhielt einen Schlüssel, ein weiterer blieb bei der Baubehörde. Noch am 11. April 2006 sicherte das von der Klägerin beauftragte Bauunternehmen die Umgebung des Hauses mit Containern ab; weitere Abbrucharbeiten wurden aber vorerst nicht mehr durchgeführt. Der Zutritt zum Haus wurde mit Baugittern abgesichert.

Der bei der MA 37 zuständige Sachverständige für statische Angelegenheiten sah die am 11. April 2006 veranlassten Sicherungsmaßnahmen als vollkommen ausreichend an, um sämtliche von dem einsturzgefährdeten Haus ausgehenden Gefahren zu bannen und fand daher keine Notwendigkeit für weitere Veranlassungen. Der Geschäftsführer der Klägerin kontaktierte hingegen auch nach dem 11. April 2006 die MA 37 und die MA 25, um mitzuteilen, dass seiner Ansicht nach die getroffenen Maßnahmen unzureichend seien.

Am 15. Mai 2006 brachte der Beklagte gegen die Klägerin beim Erstgericht eine Besitzstörungsklage, verbunden mit dem Antrag auf Erlassung einer einstweiligen Vorkehrung ein. Die (hier) Klägerin beabsichtige, das Haus aufgrund des Abbruchsbescheids der MA 37 abzureißen. Zur Vorbereitung des Abbruchs habe sie im Bereich der Wohnung des Beklagten – ungeachtet des nach wie vor nicht rechtskräftig beendeten Räumungsverfahrens – diverse Arbeiten vorgenommen, insbesondere die Fenster und die Wohnungseingangstür ausgebaut.

Mit einstweiliger Vorkehrung vom 24. Mai 2006 wurde der Klägerin aufgetragen, es bis zum rechtskräftigen Abschluss des Räumungsverfahrens zu unterlassen, zum Zweck des beabsichtigten Abbruchs des Hauses sowohl die dem Beklagten vermieteten als auch die allgemeinen Teile dieser Liegenschaft zu beseitigen, zu beeinträchtigen oder sonst zu verändern. Die einstweilige Vorkehrung wurde der Klägerin am 30. Mai 2006 zugestellt.

Am 22. Juni 2006 wurde den Parteien das – der Berufung des Beklagten stattgebende und daher das Räumungsbegehren abweisende – Urteil des Berufungsgerichts zugestellt.

Am 26. Juli 2006 beauftragte die F***** ein Abbruchunternehmen damit, das Haus abzubrechen. Im Auftrag der Klägerin wurde daraufhin im Zeitraum 27. bis 29. Juli 2006 mit dem Abbruch des Hauses begonnen, und zwar im dritten Geschoß an der rechten Seite (im Bereich der ehemaligen Wohnung des Beklagten). Dabei wurde die Trennwand zwischen Badezimmer und Küche sowie die Rückwand des Wohnzimmers zerstört. Auch Fahrnisse des Beklagten wurden aus der Wohnung geräumt.

Mit Beschluss vom 3. August 2006 wurde dem Beklagten aufgrund der einstweiligen Vorkehrung antragsgemäß die Exekution gemäß § 355 EO bewilligt und über die Klägerin wegen des in diesen Abbrucharbeiten liegenden Verstoßes gegen das Unterlassungsgebot eine Geldstrafe von 10.000 EUR verhängt.

Im Zeitraum 4. bis 8. August 2006 führte das Abbruchunternehmen im Auftrag der Klägerin weitere Abbrucharbeiten durch. Sie trug das oberste Geschoß des Hauses in der Breite von zwei Fensterachsen ab und entfernte auch Betonträger und andere instabile Teile der Dachkonstruktion.

Wegen dieses Verstoßes gegen den Titel wurde auf Antrag des Beklagten mit Strafbeschluss vom 4. September 2006 über die Klägerin eine weitere Geldstrafe von 15.000 EUR verhängt.

In der Folge kam es zwischen der Klägerin und dem Abbruchunternehmen zu Meinungsverschiedenheiten, sodass die Klägerin diesem letztlich den Auftrag entzog. Dennoch arbeitete dieses am 4. und 5. September 2006 weiter und trug die Decke zwischen dem dritten und dem zweiten Obergeschoß im Bereich der früheren Wohnung des Beklagten sowie das Mauerwerk zwischen den ganz rechts gelegenen Fenstern des zweiten Obergeschoßes ab.

Wegen dieses Titelverstoßes verhängte das Erstgericht auf Antrag des Beklagten mit Strafbeschluss vom 12. September 2006 eine weitere Geldstrafe von 20.000 EUR über die Klägerin.

Aufgrund dieser Strafbeschlüsse wurden die Abbrucharbeiten für längere Zeit eingestellt; der Geschäftsführer der Klägerin ließ sich damals juristisch beraten und entschied sich dafür, die Verantwortung dem Bund bzw der Stadt Wien zu überlassen. Ob die von der Baubehörde angedrohte Beugestrafe von 500 EUR in Anbetracht des entgegenstehenden gerichtlichen Unterlassungstitels tatsächlich verhängt worden wäre, kann nicht festgestellt werden.

Mit verfahrensrechtlicher Anordnung der MA 25 vom 14. Dezember 2006 wurde der Klägerin erneut eine Frist von 16 Wochen für die Erfüllung des Abtragungsauftrags gesetzt und gleichzeitig für den Fall der Nichterfüllung die Ersatzvornahme auf. Mit Bescheid vom 22. Mai 2007 trug die MA 25 der Klägerin die Vorauszahlung der Kosten der Ersatzvornahme in Höhe von 150.000 EUR auf.

Am 2. August 2007 wurde den Parteien das Urteil des Obersten Gerichtshofs zugestellt, mit dem dieser das Räumungsurteil des Erstgerichts wiederherstellte.

Im Sommer 2007 war das Haus zur Gänze abgetragen.

Bereits am 4. Februar 2004 hatte ein Sachverständiger festgestellt, dass sich das Haus straßenseitig 16 bis 19 cm aus der Lotrechten geneigt hatte. Die Querneigung des Gebäudes, also die straßenseitige Setzung, hatte sich im Vergleich zu den Höhen im Hof mit ca 25 cm eingestellt. Ein Gebäude, das derart große Verformungen erfährt, hat seine Tragfähigkeit verloren und ist aus technischer Sicht abzubrechen; die Resttragfähigkeit eines so verformten Hauses kann mit statischen Mitteln nicht mehr bestimmt werden. Ob das Haus noch eine Resttragfähigkeit aufwies, kann nicht festgestellt werden. Bei den bereits am 3. Februar 2004 gemessenen Verschiebungen kündigt sich ein Gebäudeeinsturz nicht langsam an, sondern ist ein plötzliches Schadensereignis. Kommt es zu einem Einsturz, werden die Ziegelwände, Decken und sonstigen Massen unkontrolliert bewegt; dadurch würden mit hoher Wahrscheinlichkeit auf die Feuermauern der Nachbargebäude Kräfte ausgeübt, denen diese nicht standhalten können, weshalb sie zumindest partiell eingedrückt würden und es zu Verschiebungen der Deckenkonstruktion käme.

Bei einem Einsturz des Hauses der Klägerin wäre der statische Anschluss an dieses Haus mit hoher Wahrscheinlichkeit schwer beschädigt worden, sodass es zu Deckeneinstürzen oder zum Umfallen von Wandteilen und Rissen im Kaminbereich der Nachbarhäuser und damit zu einer Gefahr für Leib und Leben der Bewohner der Nachbarhäuser kommen hätte können. Diese Situation verschlechterte sich zunehmend im Frühjahr 2006, indem sich das Haus weiter nach vorne neigte. Die Verformungen des Hauses ließen für sich genommen, auch ohne weiteres Zutun der Klägerin, jedenfalls ab April 2006 einen unmittelbar drohenden Einsturz des Hauses befürchten.

Bereits im April 2006 (und daher auch im Zeitraum Juli bis September 2006) war nur ein kontrollierter Gesamtabbruch des Hauses geeignet, die drohenden Schäden von Anrainern und angrenzenden Häusern abzuwenden. An welcher Stelle mit einem solchen Abbruch begonnen wird, ist aus technischer Sicht bei einem Gesamtabbruch unerheblich. Die noch vorhandene Stabilität des Hauses wird jedoch weiter eingeschränkt, sobald mit den Abbrucharbeiten begonnen wird, weil jedes Aufstemmen, Aufbohren oder Ausgraben eines Gebäudeteils dazu führen kann, dass dem Haus die Resttragfähigkeit genommen wird, sodass es zum plötzlichen Einsturz kommt.

Das Aufstellen von Containern als Prellschutz ist eine Maßnahme, um bei einem Gebäudeeinsturz zu verhindern, dass Mauerwerkbrocken, Deckenhölzer und andere Bauteile auf die Straße stürzen oder der Schutthaufen bei einem plötzlichen Einsturz auf die Straße fällt. Solche Container bieten aber keinen ausreichenden Schutz für die Nachbargebäude; sie waren allerdings ausreichend, um bei einem plötzlichen Einsturz des Hauses Personenschäden von Passanten hintanzuhalten.

Die Klägerin begehrte in drei gesonderten (in der Folge zur gemeinsamen Verhandlung und Entscheidung verbundenen) Klagen, die Exekutionsbewilligung und die beiden Strafbeschlüsse für unzulässig zu erklären und aufzuheben. Sie habe die im Exekutionsantrag und den Strafanträgen angeführten Verstöße gegen den Titel nicht begangen, die Handlungen seien ihr nicht zurechenbar und es treffe sie daran auch kein Verschulden. Sie habe einerseits aufgrund ihrer Verpflichtung aus dem Abbruchbescheid und andererseits durch die einstweilige Vorkehrung keine Möglichkeit gehabt, rechtmäßig zu handeln. Die Befolgung des Unterlassungstitels sei ihr nicht zumutbar gewesen, weil ihr bei Nichtbefolgung des behördlichen Auftrags durch eine allfällige Zwangsstrafe und die Auferlegung der Kosten der Ersatzvornahme schwerwiegende Nachteile gedroht hätten. Die im Abtragungsauftrag enthaltene facultas alternativa, nämlich die Instandsetzung des Hauses, sei technisch unmöglich und wirtschaftlich völlig untunlich gewesen. Außerdem hätten auch Instandsetzungsarbeiten zu einer Veränderung der allgemeinen Teile des Hauses geführt und damit gegen den Titel verstoßen. Diese Pflichtenkollision stelle einen Rechtfertigungs-, zumindest aber einen Entschuldigungsgrund dar. Überdies sei das Wohnhaus akut einsturzgefährdet gewesen, ein weiteres Zuwarten mit den Abbrucharbeiten hätten jederzeit zu einem unkontrollierten Einsturz des Hauses führen können. Die Baubehörde sei dazu verpflichtet, bei Zuwiderhandeln oder Saumsal aufgrund eines rechtskräftigen und vollstreckbaren Titels ein Vollstreckungsverfahren einzuleiten und den Titel durch geeignete Vollstreckungsmittel (Ersatzvornahme, Beugestrafen) durchzusetzen. Die Klägerin habe daher davon ausgehen müssen, dass die MA 37 den Abbruchbescheid durchsetzen würde. Im Frühjahr 2006 sei nur ein sofortiger Gesamtabbruch des Hauses geeignet gewesen, die Einsturzgefahr zu bannen und Schäden von Personen und Sachen abzuwenden. Sie habe aufgrund der unmittelbar drohenden Gefahr mehrmals erfolglos sowohl die MA 25 als auch die MA 37 ersucht, den Abbruch amtswegig durchzuführen. Die Behörden hätten aber nicht reagiert und somit faktisch ihre Hilfe verweigert, sodass die Klägerin Selbsthilfe üben habe dürfen.

Der Beklagte wendete ein, die Klägerin müsse sich die Titelverstöße von ihr beauftragter Dritter zurechnen lassen. Die Abbrucharbeiten seien nicht notwendig und nicht geeignet gewesen, eine Gefährdung von Passanten und Anrainern abzuwenden; eine akute Einsturzgefahr habe nicht bestanden.

Das Erstgericht gab dem Klagebegehren im vierten Rechtsgang statt. Es sei unstrittig, dass die Abbrucharbeiten objektiv titelwidrig gewesen seien. Sämtliche Titelverstöße seien der Klägerin auch zuzurechnen. Nach den Feststellungen habe ab April 2006 eine konkrete Gefahr für die Anrainer der Nachbarhäuser bestanden, weil es jederzeit zum Einsturz des Hauses kommen hätte können; es habe also ein schwerwiegender Nachteil für Leib und Leben der Bewohner der Nachbarhäuser unmittelbar gedroht. Die zuständigen Behörden seien in Kenntnis der Einsturzgefahr gewesen und hätten Sicherungsmaßen eingeleitet, die allerdings objektiv nicht ausreichend gewesen seien, um sämtliche Gefahren zu bannen. Der Geschäftsführer der Klägerin habe die Behörden erfolglos darauf hingewiesen. Aus diesem Grund seien die ab 27. Juli 2006 im Auftrag der Klägerin durchgeführten Abbrucharbeiten zur Gänze gerechtfertigt bzw entschuldigt.

Das Berufungsgericht gab der Berufung des Beklagten nicht Folge. Spätestens seit April 2006 habe die Gefahr eines jederzeitigen unkontrollierten Einsturzes des Hauses bestanden, die nur durch einen kontrollierten Gesamtabbruch abgewendet werden habe können. Wenn der Beklagte damit argumentiere, dass ein partieller Abbruch die Gefahr nicht beseitigt, sondern sogar noch erhöht habe, übersehe er, dass er die Einstellung der Arbeiten durch seine Strafanträge selbst erzwungen habe. Die durch die Maßnahmen des Beklagten gestoppten Abbrucharbeiten hätten die bereits bestehende Einsturzgefahr lediglich perpetuiert und bis zum Gesamtabbruch Ende Juli 2006 verlängert. Damit sei von einer unmittelbar drohenden Einsturzgefahr ab April 2006 auszugehen, die nur durch entsprechende Abbrucharbeiten abwendbar gewesen seien, zumal die von den Behörden gesetzten Maßnahmen nicht ausreichend gewesen seien.

Während das Berufungsgericht im ersten Rechtsgang den Wert des Entscheidungsgegenstands mit über 30.000 EUR bewertete (ON 69), sprach es im vierten Rechtsgang – ohne irgendeine Begründung – aus, dass der Wert des Entscheidungsgegenstands 5.000 EUR nicht übersteige, sodass die Revision jedenfalls unzulässig sei.

Gegen dieses Urteil richtet sich die außerordentliche Revision des Beklagten, mit der er eine offenbare Unterbewertung des Entscheidungsgegenstands rügt und im Übrigen insbesondere darauf verweist, dass die von der Klägerin sukzessive – und fast ausschließlich im Bereich seiner ehemaligen Wohnung – durchgeführten Abbrucharbeiten nicht geeignet gewesen seien, die ab April 2006 bestehende Einsturzgefahr abzuwenden, weil dafür ein kontrollierter Gesamtabbruch in einem Zug erforderlich gewesen wäre. Die im Auftrag der Klägerin durchgeführten Arbeiten seien daher weder gerechtfertigt noch entschuldigt, und die Klägerin könne sich nicht auf zulässige Selbsthilfe berufen.

Die Klägerin beantragt in der ihr vom Obersten Gerichtshof freigestellten Revisionsbeantwortung, die Revision zurückzuweisen, hilfsweise ihr nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist infolge einer offenkundigen Unterbewertung durch das Berufungsgericht statthaft und wegen einer vom Obersten Gerichtshof aufzugreifenden Fehlbeurteilung des Berufungsgerichts zulässig und berechtigt.

1.

 Der vom Berufungsgericht gemäß § 500 Abs 2 ZPO vorzunehmende Bewertungsausspruch ist grundsätzlich unanfechtbar und für den Obersten Gerichtshof bindend (RIS‑Justiz

RS0042385 ua). Anderes gilt aber insbesondere dann, wenn das Berufungsgericht eine offenbare Unterbewertung vorgenommen hat (RS0109332). Ein solcher Ausnahmefall liegt hier vor:

1.1. Nach dem Verfahrensverlauf besteht kein Anhaltspunkt für eine Reduktion des Werts des Entscheidungsgegenstands zwischen dem ersten und dem vierten Rechtsgang; im ersten Rechtsgang bewertete ihn das Berufungsgericht aber in seinem Urteil vom 21. April 2010, GZ 38 R 99/09d‑69, noch mit 30.000 EUR übersteigend. Das Berufungsgericht unterließ auch jegliche Begründung für die massive Änderung seiner Bewertung im vierten Rechtsgang.

1.2. Im vierten Rechtsgang ist daher weiterhin– schon angesichts des Gegenstands der Unterlassungsverpflichtung – von einem 30.000 EUR übersteigenden Wert des Entscheidungsgegenstands des Berufungsgerichts auszugehen. Die außerordentliche Revision ist somit statthaft.

2. Der erkennende Senat hat bereits in der (im ersten Rechtsgang gefällten) Entscheidung 3 Ob 120/10h dargelegt, dass sich die Klägerin die vom Abbruchunternehmen noch nach Entziehung des Auftrags durchgeführten Abbrucharbeiten am 4. und 5. September 2006 zurechnen lassen muss. In dieser Entscheidung wurde auch klargestellt, dass sämtliche Abbrucharbeiten, die Gegenstand der Exekutionsbewilligung und der Strafbeschlüsse waren, objektiv titelwidrig waren und nur im Fall zulässiger Selbsthilfe nach § 19 ABGB gerechtfertigt oder entschuldigt sein könnten.

3.

 Selbsthilfe (im engeren Sinn) ist gesetzlich ausnahmsweise erlaubte Eigenmacht zur Sicherung oder Herstellung eines rechtmäßigen Zustands für den Fall, dass staatliches Einschreiten zu spät käme (Koch in KBB5 § 19 ABGB Rz 9; RS0009027).

Wer sich auf Selbsthilfe beruft, hat zu beweisen, dass er rechtmäßig handelte (10 Ob 34/17y =

RS0009034 [T4]).

4. Nach den Feststellungen verschlechterte sich der Zustand des Hauses im Frühjahr 2006 zunehmend, weshalb jedenfalls ab April 2006 ein Einsturz unmittelbar drohte. Die von der zuständigen Behörde (MA 37 und MA 25) veranlassten (Sicherungs‑)Maßnahmen waren nicht geeignet, im Fall eines – jederzeit ohne Vorankündigung möglichen – Einsturzes des Hauses Beschädigungen der Feuermauern der angrenzenden Häuser und die damit verbundenen Gefahren für die Anrainer hintanzuhalten, und diese setzte trotz entsprechender Hinweise der Klägerin keine dafür notwendigen Maßnahmen. Beginnend mit April 2006 war nur ein kontrollierter Gesamtabbruch des Hauses (wie von der Klägerin beauftragt) geeignet, Schäden der Anrainer im Fall eines Hauseinsturzes abzuwenden.

5. Den Vorinstanzen ist nur dahin zuzustimmen, dass unter diesen Umständen die entgegen dem Unterlassungsgebot vorgenommenen Abbrucharbeiten der Klägerin grundsätzlich durch Selbsthilfe gerechtfertigt sein hätten können. Allerdings steht auch fest, dass mit Beginn der Abbrucharbeiten die noch vorhandene Stabilität des Hauses weiter eingeschränkt wurde. Demnach waren die im Auftrag der Klägerin – in drei mehrtägigen Etappen innerhalb eines Zeitraums von sechs Wochen, hauptsächlich „selektiv“ im Bereich der ehemaligen Wohnung des Beklagten – durchgeführten, aufgrund der deswegen verhängten Geldstrafen abgebrochenen und erst nach Monaten wieder aufgenommenen Abbrucharbeiten im Ergebnis gar nicht geeignet, die Einsturzgefahr zu beseitigen; sondern haben diese Gefahr ganz im Gegenteil sogar noch erhöht. Aus diesem Grund kann von zulässiger Selbsthilfe im Ergebnis keine Rede sein.

6. Daran kann auch der Umstand nichts ändern, dass die Klägerin die Abbrucharbeiten unter dem Druck des Unterlassungsexekutionsverfahrens vorerst einstellte: Die Exekutionsführung durch den Beklagten war durch den Titel gedeckt und damit rechtmäßig. Hätte die Klägerin die Abbrucharbeiten entgegen dem Unterlassungsgebot zum alleinigen Zweck durchführen lassen, die Anrainer vor den Folgen eines unkontrollierten Hauseinsturzes zu schützen (und nicht auch oder nur, um durch den Abbruch insbesondere des früheren Bestandobjekts vor Rechtskraft des Räumungstitels gegen den Beklagten unumkehrbare Fakten und damit die Basis für den von ihr geplanten Neubau zu schaffen), dann hätte sie das Haus – im Sinn ihres eigenen Vorbringens (Seite 6 der Klage zu [jetzt] 95 C 39/11a: „dass das Wohnhaus […] akut einsturzgefährdet ist. Ein weiteres Zuwarten mit den Abbrucharbeiten kann jederzeit zu einem unkontrollierten Einsturz des Hauses führen [...]“) – nämlich tatsächlich sofort in einem Zug abreißen lassen müssen, ohne sich durch über sie verhängte Geldstrafen beirren zu lassen.

7. Da es der Klägerin somit nicht gelungen ist, ihr mangelndes Verschulden an den Verstößen gegen das Unterlassungsgebot darzutun, ist das gesamte Klagebegehren abzuweisen.

8. Die Kostenentscheidung beruht hinsichtlich des Verfahrens erster Instanz auf § 41 iVm § 54 Abs 1a ZPO und hinsichtlich des Rechtsmittelverfahrens auf § 41 iVm § 50 ZPO.

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