OGH 7Ob149/18i

OGH7Ob149/18i21.11.2018

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch die Senatspräsidentin Dr. Kalivoda als Vorsitzende und die Hofrätinnen und Hofräte Hon.-Prof. Dr. Höllwerth, Dr. E. Solé, Mag. Malesich und MMag. Matzka als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei E***** Gesellschaft mbH, *****, vertreten durch Dr. Schartner Rechtsanwalt GmbH in Altenmarkt im Pongau, gegen die beklagte Partei W***** Aktiengesellschaft *****, vertreten durch Mag. Alexandra Knapp, Rechtsanwältin in Salzburg, wegen 15.840 EUR sA, über die Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Linz als Berufungsgericht vom 15. Mai 2018, GZ 2 R 55/18y‑14, mit dem das Urteil des Landesgerichts Salzburg vom 26. Februar 2018, GZ 9 Cg 67/17d‑10, abgeändert wurde, den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2018:0070OB00149.18I.1121.000

 

Spruch:

Der Revision wird Folge gegeben.

Die Urteile der Vorinstanzen werden aufgehoben.

Dem Erstgericht wird die neuerliche Entscheidung nach Verfahrensergänzung aufgetragen.

Die Kosten des Rechtsmittelverfahrens sind weitere Verfahrenskosten.

 

Begründung:

Die Klägerin hatte bei der Beklagten einen LKW vollkaskoversichert.

Mitarbeiter der Klägerin nutzten einen 12,1 Kilometer und 17 Fahrminuten vom Unternehmenssitz entfernten, unbeschrankten und öffentlich zugänglichen Kaufhausparkplatz, um dort ihre Privat-PKWs abzustellen und in Firmenfahrzeuge umzusteigen, wenn eine Baustelle außerhalb des Betriebsstandorts zu betreuen war.

Am 18. 7. 2016 hatte ein Mitarbeiter der Klägerin den versicherten LKW in Verwendung, fuhr nach Arbeitsende gegen 18:00 Uhr zum Kaufhausparkplatz und stellte den LKW dort ab. Er verschloss den LKW und legte den Schlüssel in den unversperrten Tankdeckel, weil er dachte, ein anderer Mitarbeiter der Klägerin werde am selben Tag den LKW an den Unternehmenssitz mitnehmen. Dies geschah jedoch nicht und der LKW verblieb auf dem Parkplatz, weil er erst am 22. 7. 2016 wieder gebraucht wurde.

Am 22. 7. 2016 um 6:30 Uhr wurde der Diebstahl des LKWs festgestellt.

Die Vorgangsweise, Firmenfahrzeuge auf dem Parkplatz abzustellen, das Fahrzeug zwar zu versperren, jedoch den Schlüssel für andere Mitarbeiter im unversperrten Tankdeckel zu verwahren, „wurde von der klagenden Partei und ihren Mitarbeitern“ bis Juli 2016 bereits zehn Jahre lang praktiziert. Es steht nicht fest, dass ein Geschäftsführer der Klägerin den Mitarbeitern eine Weisung erteilt hat, wonach diese Art des Abstellens von Firmenfahrzeugen und das Liegenlassen des Autoschlüssels im unversperrten Tankdeckel nicht mehr praktiziert werden dürfe.

Ein Schlüsselsafe, der auf einem Fahrzeug angebracht werden kann, ist um einen Kaufpreis zwischen 22 und 34 EUR erhältlich.

Die Klägerin begehrte von der Beklagten die Bezahlung des Fahrzeugzeitwerts von 15.840 EUR sA und brachte vor, dass die Beklagte die Zahlung zu Unrecht verweigere, weil ihr Mitarbeiter den Fahrzeugschlüssel ausreichend versteckt habe. Ihren Geschäftsführern sei bekannt, dass das Hinterlegen von Fahrzeugschlüsseln bei verschiedenen Unternehmen gelegentlich praktiziert werde, weshalb sie die Mitarbeiter immer wieder darauf hingewiesen hätten, dass ein solches Verhalten bei der Klägerin nicht akzeptiert werde. Da diese Praxis im Baugewerbe aber nicht unüblich sei, liege jedenfalls keine auffallende Sorglosigkeit vor.

Die Beklagte beantragte Abweisung des Klagebegehrens wegen Leistungsfreiheit infolge grob fahrlässiger Herbeiführung des Versicherungsfalls iSd § 61 VersVG. Es sei auf dem stark frequentierten Parkplatz für jeden Dritten ein Leichtes gewesen, den Tankdeckel zu öffnen, den Schlüssel zu entnehmen, das Fahrzeug damit in Betrieb zu nehmen und den Tatort rasch zu verlassen. Dieses von der Klägerin regelmäßig praktizierte Verhalten sei geradezu dazu prädestiniert gewesen, einen Diebstahl zu fördern und die Diebstahlwahrscheinlichkeit zu erhöhen. Die Mitarbeiter der Klägerin hätten einen Schlüsselsafe verwenden müssen. Soweit sich die Klägerin auf die Möglichkeit eines Aufbrechens und „Kurzschließens“ des Fahrzeugs berufe, hätte dies die Wegfahrsperre verhindert.

Das Erstgericht wies das Klagebegehren auf der Grundlage des eingangs zusammengefassten Sachverhalts ab. Rechtlich war es der Ansicht, dass die Beklagte leistungsfrei sei, weil die Klägerin den Versicherungsfall grob fahrlässig herbeigeführt habe. Für die Klägerin habe wie für jedermann klar sein müssen, dass das Aufbewahren des Fahrzeugschlüssels im unversperrten Tankdeckel des LKWs, der mehrere Tage auf einem öffentlich zugänglichen und ungesicherten Parkplatz gestanden sei, die Gefahr eines Diebstahls erheblich vergrößert habe.

Das Berufungsgericht gab der Berufung der Klägerin Folge und änderte das Ersturteil im Sinn der Klagsstattgebung ab. Es fehle bereits eine dezidierte erstinstanzliche Behauptung der Beklagten, dass der versicherte LKW vom Dieb unter Verwendung des im Tankdeckel hinterlegten Schlüssels in Betrieb genommen und entwendet worden sei. Die Beklagte habe diesen Kausalitätsnachweis auch nicht erbracht. Dem Klagebegehren sei daher stattzugeben.

Das Berufungsgericht sprach über Abänderungsantrag der Beklagten nachträglich aus, dass die ordentliche Revision zulässig sei. Es fehle letztinstanzliche Rechtsprechung zur über den Einzelfall hinaus bedeutsamen Frage nach dem Beweismaß, für den vom Versicherer zu erbringenden Nachweis der Ursächlichkeit eines grob fahrlässigen Verhaltens des Versicherungsnehmers für den Eintritt des Versicherungsfalls.

Gegen die Entscheidung des Berufungsgerichts richtet sich die Revision der Beklagten wegen unrichtiger rechtlicher Beurteilung und Mangelhaftigkeit des Berufungsverfahrens mit dem Antrag auf Abänderung im Sinn der Wiederherstellung des Ersturteils. Hilfsweise stellt die Beklagte auch einen Aufhebungsantrag.

Die Klägerin erstattete eine Revisionsbeantwortung mit dem Antrag, die Revision der Beklagten zurückzuweisen, hilfsweise dieser nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist zur Klarstellung der Rechtslage zulässig und in ihrem Aufhebungsantrag auch berechtigt.

1. Nach § 61 VersVG ist der Versicherer von der Verpflichtung zur Leistung frei, wenn der Versicherungsnehmer den Versicherungsfall vorsätzlich oder durch grobe Fahrlässigkeit herbeiführt. Es handelt sich dabei um einen (verhaltensabhängigen) Risikoausschluss (RIS‑Justiz RS0080128). Beweispflicht und Beweislast für das Vorliegen treffen den Versicherer (vgl 7 Ob 97/14m).

2. Grobe Fahrlässigkeit setzt ein Verhalten voraus, von dem der Versicherungsnehmer wusste oder wissen musste, dass es geeignet sei, die Gefahr des Eintritts eines Versicherungsfalls herbeizuführen oder zu vergrößern (RIS‑Justiz RS0030324). Grobe Fahrlässigkeit liegt vor, wenn sich das Verhalten des Schädigers aus der Menge der auch für den Sorgsamsten nie ganz vermeidbaren Fahrlässigkeitshandlungen des täglichen Lebens als eine auffallende Sorglosigkeit heraushebt (RIS-Justiz RS0030303 [T4]).

3. Das Verhalten des Versicherungsnehmers muss zumindest (adäquat) (mit-)kausal für den Eintritt des Versicherungsfalls gewesen sein (7 Ob 41/98z; 7 Ob 11/06b; 7 Ob 33/09t). Auch dafür ist der beklagte Versicherer beweispflichtig (7 Ob 41/98z).

4. Allerdings kann die in Deutschland entwickelte Repräsentantenhaftung aus dem VersVG nicht abgeleitet werden (RIS-Justiz RS0080407). Demnach hat die Klägerin nicht (generell) für ihre Dienstnehmer einzustehen, doch kann sie nach dem Selbstverschuldensprinzip ein zur Leistungsfreiheit führender Vorwurf dann treffen, wenn es ihre Organe etwa an der erforderlichen Sorgfalt in der Betriebsführung haben fehlen lassen und demzufolge Organisationsmängel vorlagen, die zum Eintritt des Versicherungsfalls führten (vgl 7 Ob 9/95; 7 Ob 78/99t; RIS‑Justiz RS0080407 [T3]).

5. Aus diesen Grundsätzen folgt hier:

5.1. Die Beklagte hat mit ihrem Prozessvorbringen – zusammengefasst – den Standpunkt vertreten, dass das Hinterlegen des Fahrzeugschlüssels im unversperrten Tankdeckel als grob fahrlässige Herbeiführung des Versicherungsfalls zu werten sei und sie hat dem Einwand der Klägerin, der Diebstahl sei möglicherweise durch Aufbrechen und „Kurzschließen“ des Fahrzeugs erfolgt, entgegengehalten, dass dies die Wegfahrsperre verhindert hätte. Dieses Vorbringen ist bei verständiger Gesamtbewertung – entgegen der Ansicht des Berufungsgerichts – dahin zu verstehen, dass nach Ansicht der Beklagten der im Tankdeckel hinterlegte Schlüssel zum Diebstahl des Fahrzeugs verwendet wurde. Die Beklagte hat insoweit ihrer Behauptungspflicht entsprochen.

5.2. Das Abstellen eines LKWs auf einem öffentlich zugänglichen, nicht bewachten Kaufhausparkplatz mit dem Fahrzeugschlüssel im unversperrten Tankdeckel ist ein grob fahrlässiges Verhalten, weil es – für jedermann erkennbar – die Diebstahlwahrscheinlichkeit enorm erhöhte, obwohl das Abstellen der Firmenfahrzeuge an dem nur ca 12 km entfernt gelegenen Unternehmenssitz leicht möglich gewesen wäre. Dieses Verhalten wurde nach dem vom Erstgericht festgestellten Sachverhalt „von der klagenden Partei und ihren Mitarbeitern“ bis Juli 2016 bereits zehn Jahre lang praktiziert. Aus dieser Feststellung (die Beweiswürdigung verdeutlicht dies noch mehr) ist abzuleiten, dass diese Praxis den Geschäftsführern der Klägerin bekannt und von diesen jahrelang geduldet wurde, sodass insoweit jedenfalls ein der Klägerin zuzurechnendes, grob fahrlässiges Organisationsdefizit vorlag. Dass die Geschäftsführer der Klägerin den Mitarbeitern diese Praxis verboten hätten, war demgegenüber nicht erweislich.

5.3. Damit ist aber noch nicht abschließend gesagt, dass das an sich grob fahrlässige Verhalten der Vertreter der Klägerin auch ursächlich für den Diebstahl des Fahrzeugs war. Dafür ist – wie bereits dargelegt (Punkt 3.) – die Beklagte beweispflichtig. Diese Tatfrage ist im bisherigen Verfahren unerörtert geblieben (§ 182a ZPO; vgl RIS-Justiz RS0037300), was die Beklagte in ihrer Revision – mit Recht – als Mangel (auch) des Berufungsverfahrens geltend gemacht und zum Kausalitätsnachweis auch Beweise, insbesondere die Einholung eines Sachverständigengutachtens, angeboten hat. Dies wird vom Erstgericht im fortgesetzten Verfahren nachzuholen und dabei zu klären sein, wie wahrscheinlich es aus technischer Sicht ist, dass ein Dieb das Fahrzeug trotz Lenkradsperre ohne Schlüssel in Betrieb nehmen kann und darauf aufbauend, ob demnach von der Verwendung des hinterlegten Schlüssels zum Diebstahl auszugehen ist. Nach Klärung dieser allein noch strittigen Tatfrage wird zu beurteilen sein, ob die Beklagte gemäß § 61 VersVG leistungsfrei ist. Dazu war der Revision in ihrem Aufhebungsantrag stattzugeben.

6. Der Kostenvorbehalt beruht auf § 52 ZPO.

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