OGH 10ObS53/18v

OGH10ObS53/18v13.9.2018

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten Univ.‑Prof. Dr. Neumayr als Vorsitzenden, die Hofrätinnen Dr. Fichtenau und Dr. Grohmann sowie die fachkundigen Laienrichter Mag. Dr. Rolf Gleißner (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Dr. Wolfgang Kozak (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei K*****, vertreten durch Dr. Robert Lattermann, Rechtsanwalt in Wien, gegen die beklagte Partei Allgemeine Unfallversicherungsanstalt, 1200 Wien, Adalbert‑Stifter-Straße 65–67, vertreten durch Dr. Josef Milchram, Dr. Anton Ehm und Mag. Thomas Mödlagl, Rechtsanwälte in Wien, wegen Versehrtenrente, über die Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen vom 26. Februar 2018, GZ 9 Rs 70/17f‑37, mit dem das Urteil des Landesgerichts Wiener Neustadt als Arbeits‑ und Sozialgericht vom 21. April 2017, GZ 59 Cgs 154/16k‑31, abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2018:010OBS00053.18V.0913.000

 

Spruch:

 

Der Revision wird nicht Folge gegeben.

Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei binnen 14 Tagen die mit 418,78 EUR (darin enthalten 69,80 EUR USt) bestimmten Kosten der Revisionsbeantwortung zu ersetzen.

 

Entscheidungsgründe:

Der Kläger hatte bereits sieben Arbeitsunfälle. Beim Unfall am 29. 12. 1976 erlitt er eine Prellung beider Kniegelenke mit Knorpelschädigung der Kniescheibenhinterseite und Verletzung des rechten inneren Meniskus, beim zweiten Unfall am 13. 11. 1982 eine Rissquetschwunde am Endglied des linken Daumens, beim dritten Unfall am 5. 11. 1991 eine Rissquetschwunde über dem Mittelglied des linken Mittelfingers mit Teildurchtrennung der Streckaponeurose, beim vierten Unfall am 14. 6. 1996 einen offenen Trümmerbruch des linken Zeigefingerendgliedes, beim fünften Unfall am 19. 7. 1997 einen Einriss der Rotatorenmanschette rechts, beim sechsten Unfall am 20. 1. 1998 eine Meniskusverletzung des linken Knies und beim siebten Unfall am 30. 8. 1999 einen Riss der Bizepssehne rechts. Nicht durch einen Arbeitsunfall verursacht erhielt er im Jahr 2000 ein künstliches Hüftgelenk.

Die als Arbeitsunfälle anerkannten Knieverletzungen vom 29. 12. 1976 und 20. 1. 1998 machten Meniskusoperationen am rechten Knie und schließlich die Implantation einer Knieprothese notwendig. Aufgrund auftretender Infektionen im Bereich dieser Knieprothese und damit zusammenhängender Lockerungen ist es bereits mehrfach zu Operationen und letztlich zum Austausch der Knie‑Totalendoprothese rechts gekommen. Zuletzt wurde am 5. 11. 2015 eine neue Knie‑Totalendoprothese implantiert. Es ist anerkannt, dass die beiden Arbeitsunfälle vom 29. 11. 1979 und 20. 1. 1998 für diese Knieoperation kausal waren. Sie führte zu einer – im Rechtsmittelverfahren nicht strittigen – vollständigen unfallbedingten Erwerbsunfähigkeit vom 1. 11. 2015 bis 30. 11. 2016.

Aufgrund der mehrfachen Knieoperationen und der Sepsis bestehen Schmerzen im rechten Knie, die zu einer Gangunsicherheit führen. Durch die Schmerzen ist es auch möglich, dass man reflexartig versucht, das Knie zu entlasten, und die Kontrolle verliert. Infolge dieser Unsicherheiten stürzte der Kläger am 12. 10. und am 1. 12. 2016 jeweils auf die rechte Hüfte. Ein CT vom 12. 12. 2016 zeigte einen Oberschenkelhalsbruch rechts. Am 15. 12. 2016 wurde eine Hüftprothese implantiert. Diese Hüftverletzung ist zwar bedingt durch den unsicheren Gang des Klägers nach den Knieoperationen und den Lockerungen des rechten Knies aufgrund von Entzündungen, es handelt sich jedoch um keine typische Folgeverletzung auf Basis der Knieverletzung. Eine vorbestehende Schwächung im Bereich der Hüfte bestand durch die Arbeitsunfälle des Klägers nicht.

Im Revisionsverfahren ist ausschließlich strittig, ob die Verletzung und Operation der Hüfte als kausal zu den beiden Arbeitsunfällen mit Knieverletzungen vom 29. 12. 1976 und 20. 1. 1998 angesehen werden kann, sich dadurch die festgesetzte Minderung der Erwerbsfähigkeit von 70 vH auf 100 vH erhöht hat und dem Kläger deshalb ab 1. 12. 2016 eine Gesamtversehrtenrente von insgesamt 100 vH zuzüglich der gesetzlichen Zusatzrente zusteht.

Das Erstgericht wies das Begehren auf Gewährung einer Gesamtversehrtenrente von 100 vH zuzüglich der gesetzlichen Zusatzrente ab 1. 12. 2016 ab. Es sah die Verletzung der Hüfte als neues Leiden (Nachschaden) an, für das die beiden Arbeitsunfälle mit Knieverletzungen nicht kausal gewesen seien.

Das Berufungsgericht teilte diese Rechtsansicht nicht und verpflichtete die beklagte Unfallversicherungsanstalt zur Zahlung der begehrten Gesamtversehrtenrente samt gesetzlicher Zusatzrente auch für den Zeitraum ab 1. 12. 2016. Es sei unstrittig, dass der Sturz des Klägers, der zur Hüftverletzung geführt habe, für sich genommen kein Arbeitsunfall gewesen sei. Ohne Kausalzusammenhang mit dem Arbeitsunfall eintretende Nachschäden seien bei der Bemessung der Minderung der Erwerbsfähigkeit nicht zu berücksichtigen, selbst wenn sie zu einer Verschlimmerung der Unfallfolgen geführt hätten. Hier könne jedoch ein Kausalzusammenhang zwischen der Hüftverletzung und der Erhöhung der Minderung der Erwerbsfähigkeit des Klägers von 70 vH auf 100 vH hergestellt werden. Grund für den Sturz des Klägers sei seine Gangunsicherheit gewesen, die auf eine Gesundheitsschädigung zurückzuführen gewesen sei, die Folge anerkannter Arbeitsunfälle sei. Zur Frage von Kausalzusammenhängen vertrete die österreichische Literatur, dass ein Kunstfehler eines Arztes während der Unfallheilbehandlung vom Schutzbereich der Unfallversicherung nicht mehr erfasst sei, weil es am Wirkungszusammenhang des Arbeitsunfalls mit dem Zusatzschaden fehle. Dagegen werde in der deutschen Literatur unter Hinweis auf die neue Rechtsprechung des deutschen Bundessozialgerichts die Auffassung vertreten, dass unmittelbare Unfallfolgen im Sinn einer haftungsausfüllenden Kausalität alle Gesundheitsschäden seien, die wesentlich durch den Gesundheitserstschaden verursacht worden seien. Erfasst seien daher auch die früher als mittelbare Unfallfolgen bezeichneten Unfallschäden, die entweder ohne ein weiteres Unfallereignis (beispielsweise durch ärztliche Behandlung oder Diagnostik) oder durch einen weiteren Unfall aufgrund der Folgen eines Arbeitsunfalls (Sturz eines Beinamputierten wegen Gangunsicherheit) oder durch einen weiteren Unfall entstanden seien, der zwar nicht aufgrund der Folgen des Arbeitsunfalls eingetreten sei, deren Ausmaß aber durch diesen wesentlich mitverursacht worden seien.

Das Berufungsgericht ließ die Revision zu, weil Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs zu dieser Frage fehle, inwieweit im Sinne einer haftungsausfüllenden Kausalität Gesundheitsschäden, die durch einen nicht unter Unfallversicherungsschutz stehenden späteren Unfall als Folge eines Arbeitsunfalls entstanden seien, unmittelbar einem anerkannten Arbeitsunfall zurechenbar seien.

Rechtliche Beurteilung

Die – beantwortete – Revision der Beklagten ist zur Klarstellung zulässig, aber nicht berechtigt.

1. Das Prinzip der wesentlichen Bedingung prägt das österreichische Unfallsozialversicherungsrecht ( Müller in SV‑Komm Vor §§ 174 bis 177 Rz 39 ff) sowie – unter der Bezeichnung „wesentliche Wirkursache“ oder „wesentlich mitwirkende Ursache“ – auch das Recht der gesetzlichen Unfallversicherung in Deutschland ( Mehrtens/Valentin/ Schönberger , Arbeitsunfall und Berufskrankheit 9 [2017] 24; Schwerdtfeger in Lauterbach , UV (SGB VII) 4. Auflage [49. Lfg] § 8 Rz 36 f).

2. Die österreichische Rechtsprechung sieht jene Bedingung als wesentlich an, die im Verhältnis zu anderen nach der Auffassung des praktischen Lebens wegen ihrer besonderen Beziehung zum Erfolg an dessen Eintritt „wesentlich“ mitgewirkt hat (RIS‑Justiz RS0084290; 9 ObS 32/87 = SSV‑NF 2/7). Für eine Haftung des Unfallversicherungsträgers wird auch gefordert, dass sich der eingetretene Personenschaden als eine Folge einer aus der Gefahrensphäre der Unfallversicherung herrührenden Ursache darstellt (10 ObS 215/00s, RIS‑Justiz RS0084290 [T7]). Entscheidend sind – bei einer retrospektiven Betrachtung des Kausalverlaufs – die rechtlichen Maßstäbe, nach denen der Gesetzgeber die Risikoverteilung zwischen der versicherten Gemeinschaft und dem Versicherten vorgenommen hat, damit der Schutzzweck der Norm ( Müller in SV‑Komm Vor §§ 174 bis 177 ASVG Rz 41 mwN).

3. In Deutschland stellen Rechtsprechung und Lehre auf den Schutzzweck ab: Eine Ursache ist wesentlich, wenn sich durch sie ein Risiko verwirklicht, gegen das der jeweilige Versicherungstatbestand gerade Schutz gewähren soll. Nicht wesentlich ist sie, wenn die unversicherten Wirkursachen das gesamte Unfallgeschehen derart geprägt haben, dass die Wirkung insgesamt trotz des Mitwirkungsanteils der versicherten Wirkursachen nicht mehr unter den Schutzbereich des jeweiligen Versicherungstatbestands fällt ( Mehrtens/Valentin/ Schönberger , Arbeitsunfall und Berufskrankheit 24 mN in FN 145).

4. Nach dem Prinzip der wesentlichen Bedingung ist auch ein kausaler Nachschaden zu beurteilen. Dabei handelt es sich um einen Gesundheitsschaden, der nicht in einer bloßen Verschlimmerung des Erstschadens aus sich selbst heraus entsteht (die daher wie dieser kausal auf das Erstereignis zurückgeht), sondern zwar auf ein späteres Ereignis (Zweitereignis) oder auf eine bestehende Anlage zurückzuführen ist, aber nur deshalb entstanden ist oder sich wesentlich dramatischer als üblich entfalten konnte, weil der (kausale) Erstschaden besteht. Eine Zurechnung der dadurch bewirkten Erhöhung der Gesamt‑Minderung der Erwerbsfähigkeit zum geschützten Unfallereignis (Erstereignis) kommt nur dann in Betracht, wenn der unfallkausale Erstschaden wesentliche Bedingung für den Nachschaden gewesen ist, nicht aber dann, wenn der nicht kausale Nachschaden zur wesentlichen Bedingung für eine Verschlimmerung des Erstschadens wurde (10 ObS 141/17h; Müller in SV‑Komm Vor §§ 174 bis 177 Rz 50/1 mwN).

5. Zu 10 ObS 2147/96z (SSV‑NF 10/107, RIS‑Justiz RS0106721) verneinte der Oberste Gerichtshof den kausalen Zusammenhang im Fall eines Versicherten, der bereits als Kind die Sehkraft auf einem Auge verloren hatte und später durch einen Arbeitsunfall auch auf dem anderen Auge erblindete. Auch in den Fällen, in denen nach dem unfallbedingten Verlust der Sehkraft auf einem Auge die Sehkraft auch auf dem anderen Auge durch nicht mit dem Arbeitsunfall zusammenhängende Umstände verloren geht oder die Verschlechterung der Sehfähigkeit des anderen Auges als Folge einer bereits vor dem Unfall bestehenden Disposition auftritt, bewirkt der Verlust der Sehfähigkeit auf dem anderen Auge keine Erhöhung der Minderung der Erwerbsfähigkeit. Der Oberste Gerichtshof fand in der zitierten Entscheidung zu dieser Problematik folgende Formulierung: „Der Schadensfall findet mit der Entschädigung für den Verlust der Sehfähigkeit des einen Auges seinen Abschluss. Ein unfallsunabhängiger Verlust des zweiten Auges könnte die Verhältnisse, die für die Feststellung der Unfallentschädigung maßgebend waren, nicht mehr beeinflussen“.

6.  Müller (in SV‑Komm Vor §§ 174 bis 177 ASVG Rz 50/1) rechnet die Blindheit dem Schutzbereich der Unfallversicherung zu, wenn der aufgrund eines Arbeitsunfalls eingetretene Verlust der Sehfähigkeit auf einem Auge zumindest mitkausal für einen Unfall wäre, bei dem das zweite Auge verloren geht. Diesem Beispiel vergleichbar wird in Deutschland als unmittelbare, damit als wesentlich durch den Gesundheitserstschaden verursachte Unfallfolge ein Gesundheitsschaden durch einen weiteren Unfall aufgrund der Folgen des Arbeitsunfalls (beispielsweise Sturz eines infolge Arbeitsunfalls Beinamputierten wegen Gangunsicherheit) der Unfallversicherung zugerechnet ( Mehrtens/Valentin/Schönberger , Arbeitsunfall und Berufskrankheit 40 f mwN in FN 234 und 238). Die vom Berufungsgericht erwähnten Unfallschäden als Folge einer ärztlichen Behandlung oder Diagnostik werden in Deutschland als „mittelbare Unfallfolgen“ von den Spezialtatbeständen des § 11 Abs 1 Z 1 SGB VII erfasst. Insofern ist die Rechtslage anders, was hier jedoch keine Rolle spielt.

6. Im vorliegenden Fall führten die Folgen zweier anerkannter Arbeitsunfälle (mehrfache Knieoperationen und Sepsis) zu Schmerzen im rechten Knie und zu einer dadurch bedingten Gangunsicherheit des Klägers. Infolge dieser Gangunsicherheit stürzte der Kläger zweimal auf die rechte Hüfte und verletzte sich an dieser. Damit ist als Tatsache festgestellt, dass die auf den Arbeitsunfall zurückgehende Gangunsicherheit kausal für einen Sturz als zweites Unfallereignis (kein Arbeitsunfall) gewesen ist. Wenn das Erstgericht feststellte, dass es sich bei der Hüftverletzung um keine typische Folgeverletzung auf Basis der Knieverletzung handelt und ein Kausalzusammenhang zwischen dem Sturz und der Knieoperation nicht gegeben ist, nimmt es eine rechtliche Wertung vor, indem es die Gangunsicherheit nicht als wesentliche Bedingung für das zweite Unfallereignis sieht.

7. Nach den Tatsachenfeststellungen war die Gangunsicherheit die einzige Ursache für das zweite Unfallereignis, den Sturz, der zusätzliche Gesundheitsschäden verursachte. Ohne die Folgen der Arbeitsunfälle wäre der Kläger nicht gestürzt. Andere mitkausale oder mitwirkende Umstände, wie nicht auf die vorangegangenen Arbeitsunfälle zurückzuführende Vorschäden, sind dem Sachverhalt nicht zu entnehmen. Der einzige private Bezugspunkt, der dem Bereich des Versicherten zuzuordnen ist, besteht daher darin, dass der Sturz für sich (isoliert betrachtet) kein Arbeitsunfall war. Die Hüftverletzung war auch keine atypische Folge des Sturzes. Wertungsmäßig sind die Folgen des Sturzes dem Schutzbereich der Unfallversicherung zuzuordnen. Der rechtlichen Beurteilung des Berufungsgerichts ist somit beizupflichten.

8. Ergebnis: Vom Schutzbereich der gesetzlichen Unfallversicherung ist eine Verletzung als sogenannter kausaler Nachschaden erfasst, wenn sie Folge eines Sturzes ist, der sich aufgrund einer arbeitsunfallbedingten Gangunsicherheit ereignete.

9. Die Kostenentscheidung gründet sich auf § 77 Abs 1 Z 2 lit a ASGG. Bemessungsgrundlage ist nach § 77 Abs 2 ASGG 3.600 EUR.

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