OGH 9ObS32/87

OGH9ObS32/8727.1.1988

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Hon.-Prof. Dr. Kuderna als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Gamerith und Dr. Bauer sowie die fachkundigen Laienrichter Dr. Robert Müller und Dr. Gerhard Dengscherz als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Rudolf S***, Maurer, Ruden, St. Martin Nr. 1, vertreten durch Dr. Georg Kerschbaumer, Rechtsanwalt in Klagenfurt, wider die beklagte Partei A*** U***

(Landesstelle Graz), Wien 20., Adalbert Stifter-Straße 65, vertreten durch Adolf Fiebich, Dr. Vera Kremslehner und Dr. Josef Milchram, Rechtsanwälte in Wien, wegen Versehrtenrente, infolge Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Graz als Berufungsgerichtes in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 2. September 1987, GZ 8 Rs 1098/87-31, womit infolge Berufung der beklagten Partei das Urteil des Landesgerichtes Klagenfurt als Arbeits- und Sozialgerichtes vom 22. April 1987, GZ 32 Cgs 85/87-21, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Der Revision wird nicht Folge gegeben.

Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei die mit 2.414,72 S bestimmten Kosten des Revisionsverfahrens (darin enthalten 219,52 S Umsatzsteuer) binnen 14 Tagen zu ersetzen.

Text

Entscheidungsgründe:

Am 1. April 1983 erlitt der Kläger im Betrieb der Firma Johann Breitenhuber einen Arbeitsunfall, bei dem er sich einen Bruch des 1. Lendenwirbels zuzog. Derzeit besteht ein Folgezustand nach Kompressionsfraktur des 1. Lendenwirbelkörpers mit konsekutiver Keilwirbelbildung L 1 und entsprechender Kyphosierung, relativer ossärer Wirbelkanalstenose in Höhe L 1 mit Reduktion des Spinalkanalquerschnittes um 25 % und traumatischer Schädigung der Bandscheiben Th 12/L 1 sowie L 1/L 2.Unfallunabhängig bestehen an den kaudalen Lendenwirbelsäulenabschnitten Schmorl'sche Impressionen.Noch vorhandene Kopfschmerzen sind vasomotorisch bedingt. Im EEG bestehen beträchtliche Veränderungen, welche auf möglicherweise in Zukunft auftretende Anfälle von Bewußtlosigkeit schließen lassen. Es besteht eine mäßiggradige Bewegungseinschränkung der Lendenwirbelsäule rechtsseitig mit Verspannung der paravertebralen Muskulatur.

Seit dem Unfall bestehen beim Kläger Gangstörungen. Er geht kurzschrittig mit beiderseits eingeschlagenen Zehen und kann den Zehenballengang nicht durchführen. Es liegt eine angeborene Störung des Wirbelbogens L 5 vor. Die Fusion des Wirbelkörpers mit dem Wirbelbogen ist in diesem Bereich unvollständig. Diese Wachstumsstörung führt zu einer Gefügelockerung im Bewegungssegment L 5/S 1. Der Arbeitsunfall vom 1. April 1983 führte zu einer zusätzlichen Gefügelockerung von L 5/S 1; dies bedingt die oben beschriebenen Gangstörungen. Diese Beschwerden hätten sich zu 90 % auch im Lauf der Zeit als Folge einer langsam fortschreitenden Erkrankung des Versicherten ergeben. Die Minderung der Erwerbsfähigkeit beträgt insgesamt 25 v.H.

Die beklagte Partei erkannte dem Kläger für die Folgen dieses Unfalles eine Versehrtenrente im Ausmaß von 20 v.H. der Vollrente zu.

Das Erstgericht gab dem auf Gewährung einer Versehrtenrente im Ausmaß von zumindest 35 v.H. der Vollrente gerichteten Begehren des Klägers teilweise statt, verpflichtete die beklagte Partei zur Gewährung einer Rentenleistung von 25 v.H. der Vollrente und wies das Mehrbegehren ab. Die auf die Formanomalie des Wirbelbogens L 5 zurückzuführenden Beschwerden seien erstmalig bedingt durch den Unfall aufgetreten. Die Beschwerden hätten wohl auch im Lauf der Zeit im Zug einer langsam fortschreitenden Erkrankung auftreten können, seien aber dennoch vom Versicherungsschutz umfaßt, weil sie durch den Unfall ausgelöst früher eingetreten seien. Das Berufungsgericht gab der von der beklagten Partei gegen dieses Urteil erhobenen Berufung nicht Folge. Habe der Arbeitsunfall des Klägers vom 1. April 1983 zu einer zusätzlichen Gefügelockerung und damit zu den Gangstörungen des Klägers geführt, dann sei der Unfall auch die wesentliche Bedingung für diesen Erfolg. Die festgestellte angeborene Wachstumsstörung des Wirbelbogens mit Gefügelockerung im Bewegungssegment falle daher auch rechtlich nicht ins Gewicht, weil keine Anhaltspunkte dafür vorlägen, daß es wegen dieser Veranlagung des Klägers auch ohne das Unfallereignis zu solchen Beschwerden hätte kommen müssen. Dies hätte aber die Beklagte zumindest mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit beweisen müssen, um ihren Standpunkt gegen den vom Kläger erhobenen strittigen Anspruch durchsetzen zu können.

Gegen dieses Urteil richtet sich die Revision der beklagten Partei aus den Revisionsgründen der Mangelhaftigkeit des Verfahrens und der unrichtigen rechtlichen Beurteilung mit dem Antrag, die angefochtene Entscheidung im Sinn einer Abweisung des Klagebegehrens abzuändern; hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt. Der Kläger begehrt, der Revision nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist nicht berechtigt.

Die gerügten Verfahrensmängel liegen nicht vor (§ 510 Abs 3 ZPO). Auch die Rechtsrüge ist nicht berechtigt.

Nach der Äquivalenztheorie Bedingungstheorie ist Ursache jede Bedingung, die nicht hinweggedacht werden kann, ohne daß der konkrete Erfolg entfiele. Die Theorie zieht die äußerste Grenze der Zurechenbarkeit. Ist der Bedingungszusammenhang zu verneinen, so kommt eine Ersatzpflicht nicht in Betracht. Andererseits wird aber im Zivilrecht nicht jeder verantwortlich, der eine conditio sine qua non gesetzt hat: Der Schädiger hat nämlich nur für adäquat herbeigeführte Schäden einzustehen (Adäquanztheorie). Ein Schaden ist adäquat herbeigeführt, wenn seine Ursache ihrer allgemeinen Natur nach für die Herbeiführung eines derartigen Erfolges nicht als völlig ungeeignet erscheinen muß und nicht nur infolge einer ganz außergewöhnlichen Verkettung von Umständen zu einer Bedingung des Schadens wurde. Die Notwendigkeit dieser Begrenzung wird für das Zivilrecht damit begründet, daß die Haftung für alle Schäden die Ersatzpflicht uferlos machen würde (Koziol-Welser7 I, 387). Daß eine Übertragung der Grundsätze der Adäquanztheorie auf das Sozialversicherungsrecht schon nach dem Zweck, der ihr zugrundeliegt, nämlich die Haftung des Schädigers für Schäden auszuschließen, die ihm aufgrund einer Wertung nicht mehr zurechenbar sind, nicht zulässig erscheint, hat Koziol (ZAS 1969, 229) überzeugend dargelegt. Die Anwendung der Adäquanztheorie im Recht der gesetzlichen Unfallversicherung hätte auch zur Folge, daß atypische Schadensverläufe aus dem Schutzbereich der gesetzlichen Unfallversicherung ausscheiden würden, ein Ergebnis, das mit der Grundkonzeption des Sozialversicherungsrechtes nicht vereinbar wäre (idS auch Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung II 60. Nachtrag, 480 l II). Die uneingeschränkte Anwendung der Äquivalenztheorie hätte zur Folge, daß jede condition sine qua non, auch wenn ihr im Rahmen der Gesamtheit der Bedingungen ein völlig untergeordneter Stellenwert zukäme, die Voraussetzungen für den Versicherungsschutz begründen würde. Eine solche Bedingung kann für das Recht der gesetzlichen Unfallversicherung nicht ohne jede Eingrenzung übernommen werden. In Anlehnung an die Adäquanztheorie werden in der Unfallversicherung vielmehr insoweit weitergehendere Anforderungen an den ursächlichen Zusammenhang gestellt, als eine einfache Mitwirkung nicht genügt, sondern eine wesentliche Mitwirkung gefordert wird. Es ist also nicht jede Bedingung, die nicht hinweggedacht werden kann, ohne daß der Erfolg entfiele, als ursächlich (ursächlich im naturwissenschaftlich-philosophischen Sinn) anzusehen, sondern nur diejenige Bedingung, die im Verhältnis zu anderen einzelnen Bedingungen nach der Auffassung des praktischen Lebens wegen ihrer besonderen Beziehung zum Erfolg an dessen Eintritt wesentlich mitgewirkt hat. Bei der Theorie der "wesentlichen Bedingung" handelt es sich nicht um einen eigenen Kausalitätsbegriff neben der Äquivalenztheorie. Es wurde damit vielmehr innerhalb der Bedingungstheorie, parallel zu der für das Zivilrecht entwickelten, auf das Sozialversicherungsrecht nicht übertragbaren Adäquanztheorie eine Methode zur Ermittlung der Grenze entwickelt, bis zu welcher der Versicherungsschutz in der Unfallversicherung reicht (idS auch Brackmann aaO, 60. Nachtrag, 480 c). Wenn mehrere Bedingungen gleichwertig oder annähernd gleichwertig zum Erfolg beigetragen haben, so ist jede von ihnen Ursache im Rechtssin. Kommt dagegen einem der Umstände gegenüber den anderen eine überragende Bedeutung zu, so ist er allein wesentliche Ursache im Rechtssinn (Lauterbach,

Das Recht der gesetzlichen Unfallversicherung, 3. Auflage 39. Lfg., 204); idS auch Tomandl, Das Leistungsrecht der österreichischen Unfallversicherung, 56 f). Wenn eine krankhafte Veranlagung und ein Unfallereignis bei Entstehung einer Körperschädigung zusammenwirken, so sind beide Umstände Bedingungen für das Unfallgeschehen. Nach den Grundsätzen über den ursächlichen Zusammenhang ist dann zu beurteilen, ob das Unfallereignis eine wesentlich mitwirkende Bedingung für die Schädigung gewesen ist oder ob die krankhafte Veranlagung alleinige oder überragende Ursache war. Letzteres ist anzunehme, wenn die Krankheitsanlage so leicht ansprechbar war, daß es zur Auslösung akuter Erscheinungen nicht besonderer, in ihrer Eigenart unersetzlicher äußerer Einwirkungen bedurfte, sondern jedes andere alltäglich vorkommende ähnlich gelagerte Ereignis zur selben Zeit die Erscheinungen ausgelöst hätte. Eine krankhafte Veranlagung hindert also die Annahme eines Arbeitsunfalles nicht. Ein solcher kann auch vorliegen, wenn eine vorhandene krankhafte Veranlagung zu einer plötzlich, in absehbarer Zeit nicht zu erwartenden Entwicklung gebracht oder eine bereits bestehende Erkrankung verschlimmert worden ist. Für die Frage, ob die Auswirkungen des Unfalles eine rechtliche wesentliche Teilursache des nach dem Unfall eingetretenen Leidenszustandes sind, ist in erster Linie von Bedeutung, ob dieser Leidenszustand auch ohne den Unfall etwa zum gleichen Zeitpunkt eingetreten wäre oder durch ein anderes alltäglich vorkommendes Ereignis hätte ausgelöst werden können, ob also die äußere Einwirkung (Unfall) wesentliche Teilursache oder nur Gelegenheitsursache war (Lauterbach aaO 47. Lfg. 213/1, 41. Lfg, 214).

Im vorliegenden Fall steht fest, daß die Gefügelockerung L 5/S 1, die die festgestellte Gangstörung bedingt, als Folge des Arbeitsunfalles auftrat. Das beim Arbeitsunfall wirkende Trauma löste diese Gefügelockerung aus. Damit hat der Kläger den Kausalzusammenhang zwischen dem Unfall und dem Leidenszustand, sohin alle anspruchsbegründenden Umstände bewiesen. Daß aus anlagebedingten Gründen der Leidenszustand in absehbarer Zeit im selben Umfang eingetreten wäre, würde den Versicherungsschutz nach den obigen Ausführungen ausschließen. Die objektive Beweislast für diesen Umstand traf die beklagte Partei. Festgestellt wurde, daß sich die Beschwerden zu 90 % auch im Lauf der Zeit als Folge einer langsam fortschreitenden Erkrankung hätten ergeben können. Damit steht nicht mit der erforderlichen Sicherheit fest, daß innerhalb eines absehbaren Zeitraumes der Leidenszustand in der heute bestehenden Form analgebedingt eingetreten wäre. Der Nachweis für das Vorliegen von Umständen, die den Versicherungsschutz ausschließen würden, ist somit nicht erbracht.

Die Vorinstanzen haben daher dem Klagebegehren im Umfang von

25 % der Vollrente mit Recht stattgegeben.

Die Kostenentscheidung gründet sich auf

§ 77 Abs 1 Z 2 lit a ASVG.

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