OGH 9ObA70/18m

OGH9ObA70/18m30.8.2018

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Hopf als Vorsitzenden, die Hofrätin des Obersten Gerichtshofs Hon.‑Prof. Dr. Dehn und den Hofrat des Obersten Gerichtshof Dr. Hargassner sowie die fachkundigen Laienrichter ADir. Sabine Duminger und Mag. Hannes Schneller als weitere Richter in der Arbeitsrechtssache der klagenden Partei N***** E*****, vertreten durch Dr. Andreas A. Lintl, Rechtsanwalt in Wien, gegen die beklagte Partei S*****, vertreten durch Fellner Wratzfeld & Partner Rechtsanwälte GmbH in Wien, wegen Feststellung des aufrechten Bestands eines Dienstverhältnisses, über die außerordentliche Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen vom 29. Jänner 2018, GZ 7 Ra 99/17f‑25, mit dem das Urteil des Arbeits- und Sozialgerichts Wien vom 12. Juni 2017, GZ 35 Cga 23/17h‑19, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2018:009OBA00070.18M.0830.000

 

Spruch:

Der Revision wird Folge gegeben.

Die Urteile der Vorinstanzen werden aufgehoben und die Rechtssache zur neuerlichen Entscheidung nach Verfahrensergänzung an das Erstgericht zurückverwiesen.

Die Kosten des Revisionsverfahrens sind weitere Verfahrenskosten.

 

Begründung:

Die Klägerin war bei der Beklagten seit 2. 5. 2000 beschäftigt und der W***** GmbH & Co KG dauerhaft zur Dienstleistung zugewiesen. Die Klägerin war dort als Straßenbahnfahrerin tätig. Ihre Arbeitszeit betrug aufgrund einer Elternteilzeitvereinbarung 16 Wochenstunden. Auf das Dienstverhältnis kamen die Bestimmungen der Wiener Vertragsbedienstetenordnung 1995 (VBO 1995) zur Anwendung.

Die Klägerin befand sich im Jahr 2011 an 73 Tagen (2. 7. bis 13. 7. und 17. 8. bis 17. 9. jeweils wegen Schmerzen in der Wirbelsäule und 12. 11. bis 10. 12. [Krankheitsursache nicht feststellbar]) und 2012 an (lt Berufungsgericht) 96 Tagen (24. 1. bis 27. 7. [Krankheitsursache nicht feststellbar]) im Krankenstand.

Von 15. 12. 2012 bis 28. 9. 2014 war sie nach der Geburt ihres Kindes am 29. 9. 2012 in Karenz.

Weitere Krankenstände der Klägerin: Im Jahr 2015 26 Tage (28. 5. wegen Fieber; 9. 6. bis 16. 6. wegen einer Sommergrippe; 1. 9. bis 8. 9.  wegen psychischer Probleme und 14. 10. bis 22. 10. wegen eines Nervenzusammenbruchs), 2016 97 Tage und 1. 1. 2017 bis 3. 2. 2017 34 Tage (15. 1. bis 25. 1. wegen einer Blasenentzündung; 3. 2. bis 18. 2. wegen einer Grippe; 12. 4. bis 14. 4. wegen einer Darmgrippe; 28. 6. bis 1. 7. wegen Ohrenschmerzen; 19. 7. bis 16. 8. wegen eines Gehörsturzes; 20. 10. bis 27. 10. wegen Schmerzen in der Wirbelsäule und 6. 12. 2016 bis 3. 2. 2017 wegen eines Bandscheibenvorfalls, Panikattacken und Herzrasen). Seit 2. 3. 2017 befindet sich die Klägerin wegen psychischer Probleme in Krankenstand.

Die Beklagte hatte die Klägerin bereits mit Schreiben vom 14. 7. 2008 darauf hingewiesen, dass weitere überhöhte Krankenstände zur Beendigung ihres Dienstverhältnisses führen können. Die Klägerin wurde auf die Möglichkeit aufmerksam gemacht, persönlich wegen der langen Krankenstände vorzusprechen. Gleichzeitig wurde sie aufgefordert, vom Angebot der Gesundheitstage der Betriebskrankenkasse der W***** und/oder der Beratungsmöglichkeit durch einen Arbeitsmediziner Gebrauch zu machen.

Bei langen/häufigen Krankenständen ihrer Mitarbeiter prüft die Beklagte, wie häufig bzw regelmäßig Krankenstände bei einem Mitarbeiter vorliegen und vor allem auch, ob eine steigende Tendenz von Krankenständen objektivierbar ist. Grundlage einer solchen Prüfung sind keine medizinischen Unterlagen, sondern ausschließlich die Liste der dokumentierten Krankenstände. Der bei der Beklagten eingerichtete Direktionsärztliche Dienst übermittelt – selbst über Wunsch eines Mitarbeiters – keine Informationen wie Diagnosen etc an die Beklagte. Aufgabe des Direktionsärztlichen Dienstes ist nämlich nur die Prüfung der Fahrdiensttauglichkeit des Mitarbeiters, nicht aber die Erstellung von Krankenstandsprognosen bzw die Überprüfung, ob ein Krankenstand berechtigt ist.

Die Klägerin hat die Beklagte von den konkreten Ursachen ihrer jeweiligen Erkrankungen nicht in Kenntnis gesetzt.

Mit Schreiben vom 15. 2. 2017 kündigte die Beklagte schließlich das Dienstverhältnis der Klägerin gemäß § 42 Abs 2 Z 2 VBO 1995 zum 31. 7. 2017 auf, weil die Klägerin zur Erfüllung ihrer Dienstpflichten gesundheitlich ungeeignet sei.

Die Klägerin begehrt mit ihrer vorliegenden Klage die Feststellung, dass das Dienstverhältnis über den 31. 7. 2017 hinaus aufrecht sei. Zum Kündigungszeitpunkt sei sie wieder dienstfähig gewesen. Da ihren Krankenständen gänzlich unterschiedliche Ursachen zugrunde gelegen seien, könne keine negative Zukunftsprognose hinsichtlich zukünftiger Krankenstände abgegeben werden. Ihr Krankenstand seit Anfang März 2017 resultiere aus psychischen Beschwerden, die sich bei ihr in Reaktion auf die von der Beklagten ausgesprochenen Kündigung des Dienstverhältnisses entwickelt hätten.

Die Beklagte bestritt das Klagebegehren und beantragte Klagsabweisung. Die in den letzten Jahren weit über dem Durchschnitt gelegenen und eine steigende Tendenz aufweisenden Krankenstände der Klägerin erfüllten den Kündigungsgrund der Dienstunfähigkeit. Unterschiedliche Ursachen der Krankenstände würden auf einen schlechten Allgemeinzustand der Klägerin deuten, sodass zu befürchten sei, dass bei der Klägerin auch in Zukunft hohe Krankenstände im Ausmaß von mehr als 7 Wochen pro Jahr eintreten würden.

Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab. Ein verständiger und sorgfältiger Arbeitgeber hätte bei objektiver Betrachtung die Situation bei der im zeitlichen Zusammenhang mit der Kündigung anzustellenden Prognose über die künftige Arbeitsfähigkeit der Klägerin ebenfalls dahin beurteilt, dass bei der Klägerin auch zukünftig mit hoher Wahrscheinlichkeit überhöhte Krankenstände zu erwarten seien. Damit sei der Kündigungsgrund der Dienstunfähigkeit nach § 42 Abs 2 Z 2 VBO 1995 gegeben.

Das Berufungsgericht gab der Berufung der Klägerin nicht Folge. Die Kündigung nach § 42 Abs 2 Z 2 VBO 1995 sei auch dann zulässig, wenn der Vertragsbedienstete zwar grundsätzlich für seine Arbeit körperlich geeignet sei, ihn aber laufend in einem weit über dem Durchschnitt liegenden Maß auftretende Krankenstände an der Dienstleistung hinderten. Die im Gesetz genannte Erfüllung der Dienstpflichten umfasse nämlich nicht nur die Arbeitsleistung an sich, sondern auch deren Verfügbarkeit für den Dienstgeber. Es sei daher für die Beurteilung der Krankenstände in der Zukunft auch nicht zwingend erforderlich, ein ärztliches Gutachten einzuholen. Die Krankenstandsprognose zum Kündigungszeitpunkt sei ein Akt der rechtlichen Beurteilung. Die negative Prognose der Beklagten sei aus der Sicht eines verständigen und sorgfältigern Dienstgebers bei objektiver Betrachtung der Krankenstände der Klägerin in der Vergangenheit und ihrer Ursachen berechtigt gewesen.

Die ordentliche Revision sei nicht zulässig, weil die Beurteilung der Voraussetzungen der Dienstunfähigkeit nach den Umständen des Einzelfalls zu erfolgen habe.

Gegen die Entscheidung des Berufungsgerichts wendet sich die außerordentliche Revision der Klägerin wegen unrichtiger rechtlicher Beurteilung mit dem Antrag, das Urteil im klagsstattgebenden Sinn abzuändern, hilfsweise aufzuheben.

Die Beklagte beantragt in ihrer vom Senat freigestellten Revisionsbeantwortung, die Revision der Klägerin mangels Vorliegens einer erheblichen Rechtsfrage zurückzuweisen, hilfsweise abzuweisen.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist entgegen dem – den Obersten Gerichtshof nicht bindenden – Ausspruch des Berufungsgerichts zulässig, weil sich die Entscheidung der Vorinstanzen als korrekturbedürftig erweist. Die Revision ist dementsprechend im Sinn des subsidiär gestellten Aufhebungsantrags auch berechtigt.

1. Der vorliegende Sachverhalt ist vergleichbar mit jenem, den der Oberste Gerichtshof erst kürzlich in seiner Entscheidung 9 ObA 153/17s (dazu krit [Marhold‑Weinmeier, Ex‑post‑Beurteilung statt Zukunftsprognose über die weitere Dienstfähigkeit?, ASoK 2018, 248]) zu beurteilen hatte. Gemäß § 42 Abs 2 Z 2 VBO 1995 ist die Beklagte zur Kündigung eines Vertragsbediensteten dann berechtigt, wenn dieser für die Erfüllung seiner Dienstpflichten gesundheitlich ungeeignet ist. Dies ist regelmäßig dann der Fall, wenn der Dienstnehmer nicht mehr die für die Erfüllung seiner dienstlichen Aufgaben erforderliche gesundheitliche Eignung besitzt (vgl Ziehensack, VBG § 32 Rz 667).

Aber auch wenn der Dienstnehmer grundsätzlich für seine Arbeit körperlich geeignet ist, ist dieser Kündigungsgrund auch dann verwirklicht, wenn Krankenstände auftreten, die den Bediensteten laufend in einem weit über dem Durchschnitt liegenden Maß an der Dienstleistung hindern (RIS‑Justiz RS0081880). Die im Gesetz genannte Erfüllung der Dienstpflichten umfasst nämlich nicht nur die Arbeitsleistung an sich, sondern auch deren Verfügbarkeit für den Dienstgeber (8 ObA 230/01h; 9 ObA 56/02d; vgl 9 ObA 133/13v).

2. Eine starre Grenze für überhöhte Krankenstände in Bezug auf deren Häufigkeit und Dauer besteht nicht (8 ObA 21/14t). Bei der Annahme überdurchschnittlicher Krankenstände orientiert sich die Rechtsprechung an Krankenständen, die jährlich sieben Wochen und darüber ausmachen (8 ObA 110/06v; 9 ObA 33/12m; vgl RIS‑Justiz RS0113471 ua). Beim Erfordernis des „längeren Zeitraums“ wird von der Rechtsprechung darauf abgestellt, dass sich die über dem Durchschnitt liegenden Krankenstände über mehrere Jahre erstreckten (9 ObA 33/12m ua).

Kommen solcherart überhöhte Krankenstände als Kündigungsrechtfertigungsgrund in Betracht, so muss der Dienstgeber eine objektive Zukunftsprognose über die weitere Dienstfähigkeit des betroffenen Dienstnehmers anstellen, die im zeitlichen Zusammenhang mit dem Kündigungszeitpunkt zu erstellen ist (9 ObA 119/12h; 8 ObA 21/14t; 8 ObA 35/16d).

Eine ungünstige Prognose kann etwa aus der anhaltend steigenden Zahl der Krankheitstage bei regelmäßigen Krankenständen oder aus einer objektivierten Verschlechterung des Grundleidens abgeleitet werden (8 ObA 21/14t). Bei dieser Beurteilung darf auch die Art der Erkrankung samt deren Ursache und die daraus ableitbare gesundheitliche Situation des Dienstnehmers und Eignung für die Erfüllung der Dienstpflichten in der Zukunft nicht außer Betracht bleiben (9 ObA 133/13v; 8 ObA 21/14t). Schließlich trägt der für das Vorliegen des Kündigungsgrundes behauptungs- und beweispflichtige Dienstgeber das Risiko, dass sich der von ihm angenommene Kündigungsgrund später (im gerichtlichen Verfahren) als nicht berechtigt erweist (vgl RIS‑Justiz RS0110154).

3. Der im vorliegenden Fall festgestellte Sachverhalt trägt die Annahme der Vorinstanzen, die von der Beklagten vor Ausspruch der Kündigung der Klägerin– alleine auf Grundlage der vergangenen Krankenstände der Klägerin und ohne Berücksichtigung der Art der Erkrankungen samt deren Ursachen – erstellte negative Zukunftsprognose über die Dienstfähigkeit der Klägerin sei zutreffend gewesen, noch nicht. Richtig ist, dass die Frage, ob Dienstunfähigkeit nach § 42 Abs 2 Z 2 VBO 1995 vorliegt, also der Vertragsbedienstete für die Erfüllung seiner Dienstpflichten gesundheitlich ungeeignet ist, eine Rechtsfrage ist (vgl RIS‑Justiz RS0084726; vgl zum Entlassungsgrund der Arbeitsunfähigkeit iSd § 82 lit b GewO 1859 9 ObA 92/14s Pkt 3.1.).

Um diese Rechtsfrage auch im vorliegenden Verfahren abschließend beantworten zu können, genügen die hier getroffenen Tatsachenfeststellungen zu den vergangenen Krankenständen und deren Diagnosen noch nicht. Insbesondere kann alleine daraus noch nicht die Beurteilung gewonnen werden, bei der Klägerin werde (aufgrund ihres schlechten gesundheitlichen Allgemeinzustands) auch in der Zukunft mit weit überhöhten Krankenständen zu rechnen sein. Der im Verfahren erhobene Einwand der Klägerin, sie sei zum Kündigungszeitpunkt dienstfähig gewesen und aufgrund ihres Gesundheitszustands sei auch von einer günstigen Zukunftsprognose im Hinblick auf die bei ihr zu erwartenden Krankenstände auszugehen, wobei sie sich auf die Einholung medizinischer Sachverständigengutachten berief, blieb auf der Tatsachenebene von den Vorinstanzen bislang ungeprüft.

Nur wenn die Klägerin zum Kündigungszeitpunkt entweder grundsätzlich für ihre Arbeit körperlich ungeeignet oder – wie hier von der Beklagten behauptet – aufgrund ihres (allgemeinen) Gesundheitszustands weiterhin mit überhöhten Krankenständen in der Zukunft zu rechnen war, dann war die Kündigung des Dienstverhältnisses wegen Verwirklichung des Kündigungsgrundes nach § 42 Abs 2 Z 2 VBO 1995 auch berechtigt. Dies muss aber erst geklärt werden.

In Stattgebung der Revision der Klägerin waren die Entscheidungen der Vorinstanzen daher aufzuheben.

Der Kostenvorbehalt beruht auf § 52 Abs 1 ZPO.

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