OGH 2Ob42/17s

OGH2Ob42/17s30.1.2018

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch die Vizepräsidentin Hon.‑Prof. Dr. Lovrek als Vorsitzende sowie die Hofräte Dr. Veith und Dr. Musger, die Hofrätin Dr. E. Solé und den Hofrat Dr. Nowotny als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei P***** A*****, vertreten durch Dr. Roland Garstenauer, Rechtsanwalt in Salzburg, gegen die beklagten Parteien 1. R***** H*****, 2. J***** GmbH, ***** und 3. U***** Versicherungen AG, *****, alle vertreten durch Dr. Harald Schwendinger, Dr. Brigitte Piber, Rechtsanwälte in Salzburg, wegen 29.770,78 EUR sA und Feststellung (Streitwert 15.000 EUR), über die Revision der beklagten Parteien gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Linz als Berufungsgericht vom 5. Dezember 2016, GZ 3 R 153/16i‑44, womit das Teilzwischenurteil des Landesgerichts Salzburg vom 13. September 2016, GZ 10 Cg 76/14f‑40, bestätigt wurde, zu Recht erkannt:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2018:0020OB00042.17S.0130.000

 

Spruch:

 

Der Revision wird nicht Folge gegeben.

Die Kosten des Revisionsverfahrens bleiben der Endentscheidung vorbehalten.

 

Entscheidungsgründe:

Am 7. Jänner 2014 gegen 17:30 Uhr ereignete sich bei O***** außerhalb des Ortsgebiets ein Verkehrsunfall, an dem der Kläger als Rollstuhlfahrer und ein vom Erstbeklagten gelenkter, von der zweitbeklagten Partei gehaltener und bei der drittbeklagten Partei haftpflichtversicherter Klein-LKW der Marke Fiat Doblo Cargo beteiligt waren. Zum Unfallszeitpunkt war es bereits dunkel. Die Fahrbahn verläuft im Unfallbereich in Fahrtrichtung H***** gesehen in einer langgezogenen Rechtskurve und ist ca 4,3 m breit. Es sind keine Gehsteige oder Gehwege und auch keine Straßenbeleuchtungen vorhanden.

Der Kläger fuhr vom Bahnhof in O***** kommend in Richtung H***** nach Hause. Sein handbetriebener Rollstuhl verfügte über keine Beleuchtung oder Reflektoren; die Sitzfläche des Rollstuhls war schwarz, seine Metallausführungen silberfarben. Der Kläger trug mittelhelle Jeans und eine dunkelblaue Jacke, auf der über dem Brustbereich hin zu den Oberarmen je ein weißer und roter Streifen verlief.

Während der Kläger die Straße entlang fuhr, wurde er von einem Fahrzeug überholt. Der Erstbeklagte, der in die Gegenrichtung fuhr, blieb stehen, um dieses Fahrzeug vorbeifahren zu lassen. Sodann beschleunigte er auf ca 35 km/h. Als er in den zweiten Gang schaltete, wurde dem Kläger klar, dass der Erstbeklagte ihn nicht wahrnahm. Er hielt daraufhin sofort an und, weil ihm ein schnelles Ausweichen mit dem Rollstuhl nicht möglich war, bewegte sich bis zur Kollision nicht mehr. Ob sich der Kläger dabei 0,5 m vom linken Fahrbahnrand entfernt oder in der Mitte der Fahrbahn befand, konnte nicht festgestellt werden, ebenso wenig die Fahrlinie des Klein‑LKW in Annäherung an die Kollisionsstelle.

Als der Erstbeklagte den Kläger erkannte, leitete er eine Vollbremsung ein und lenkte sein Fahrzeug ein wenig nach rechts aus. Der Klein-LKW kollidierte aber dennoch mit einer Geschwindigkeit von ca 10 km/h im Bereich seiner vorderen Kennzeichentafel mit dem Rollstuhl des Klägers.

Bei den zum Unfallszeitpunkt herrschenden Lichtverhältnissen betrug die Wahrnehmungsentfernung auf den unteren Bereich des Rollstuhls 39 bis 42 m. Bei der vom Erstbeklagten eingehaltenen Annäherungsgeschwindigkeit von ca 35 km/h betrug der Anhalteweg des Beklagtenfahrzeugs ca 32,5 bis 33,5 m. Der Erstbeklagte reagierte mindestens 0,5 Sekunden verspätet auf den Kläger. Die Fehlbremsstrecke bis zum Stillstand betrug 0,5 bis 0,6 m.

Der Kläger begehrt den Ersatz seiner bei dem Unfall eingetretenen, näher aufgeschlüsselten Schäden, insbesondere Schmerzengeld, in Höhe von insgesamt 29.770,78 EUR sowie die Feststellung der Haftung der Beklagten für sämtliche zukünftige Spät- und Dauerfolgen aus dem Verkehrsunfall, hinsichtlich der Drittbeklagten betraglich begrenzt mit der vertraglichen Haftpflichtversicherungs-summe.

Den Erstbeklagten treffe das Alleinverschulden am Zustandekommen des Unfalls aufgrund einer überhöhten Fahrgeschwindigkeit und eines massiven Beobachtungs- und Aufmerksamkeitsfehlers. Der Kläger habe eine Jacke mit weißen Streifen getragen, sodass er und sein Rollstuhl rechtzeitig wahrnehmbar gewesen wären.

Die Beklagten beantragten die Abweisung des Klagebegehrens und wandten ein, der Kläger habe den Unfall allein verschuldet, weil er vollkommen unbeleuchtet und dunkel gekleidet in der Mitte der K*****straße gefahren sei, obwohl ihm habe bewusst sein müssen, dass er im Fall einer Gefahrensituation aufgrund seiner körperlichen Behinderung nicht entsprechend reagieren könne. Für den Erstbeklagten sei der Unfall unabwendbar gewesen.

Das Erstgericht erkannte mit Teilzwischenurteil das Leistungsbegehren dem Grunde nach zur Gänze als zu Recht bestehend. Den Erstbeklagten treffe ein Verschulden am Zustandekommen des Verkehrsunfalls, weil er die Verpflichtung zum Fahren auf Sicht nicht eingehalten habe. Ein Mitverschulden des Klägers sei hingegen zu verneinen, weil ein Rollstuhl kein Fahrzeug im Sinn der StVO sei, sodass die Beleuchtungspflicht nach § 60 StVO nicht gelte. Der Kläger sei mangels vorhandener Gehsteige oder Gehwege berechtigt gewesen, mit seinem Rollstuhl auf der Straße zu fahren. Aufgrund der non-liquet-Feststellung zur Fahrlinie bzw zum Standort des Klägers zum Zeitpunkt der Kollision sei den Beklagten der Nachweis einer Pflichtverletzung durch den Kläger misslungen. Eine Verpflichtung zum Tragen heller Kleidung oder von Reflektoren gebe es nicht, sodass auch darauf ein Mitverschuldensvorwurf nicht gestützt werden könne.

Das Berufungsgericht bestätigte diese Entscheidung. Es verwarf die Tatsachenrüge, folgte in rechtlicher Hinsicht den Erwägungen des Erstgerichts und führte zusätzlich aus, dass das Unterlassen von Schutzmaßnahmen zur eigenen Sicherheit nur dann ein Mitverschulden begründe, wenn sich bereits ein allgemeines Bewusstsein der beteiligten Kreise gebildet habe, dass jeder Einsichtige und Vernünftige solche Schutzmaßnahmen anzuwenden pflege. Dies sei in Bezug auf Rollstuhlbenutzer und die Verwendung von Reflektoren bzw Beleuchtung nicht der Fall. Mangels oberstgerichtlicher Rechtsprechung zur Frage der Beleuchtungspflicht für Rollstuhlfahrer ließ es die Revision zu.

Die Beklagten bekämpfen das Berufungsurteil in ihrer Revision nur insoweit mit Abänderungsantrag und einem Eventualantrag auf Aufhebung als sie von einem Mitverschulden des Klägers im Ausmaß von 50 % ausgehen. Im Revisionsverfahren ist weder strittig, dass den Erstbeklagten ein Verschulden an dem Unfall trifft, noch, dass den beweispflichtigen Beklagten der Nachweis eines Verschuldens des Klägers wegen des in erster Instanz erhobenen Vorwurfs, dieser sei in der Fahrbahnmitte gefahren, nicht gelungen ist. Ebenfalls unstrittig ist im Revisionsverfahren, dass an der Unfallstelle kein Straßenbankett bestand. Strittig ist lediglich, ob den Kläger ein Mitverschulden trifft, weil sein Rollstuhl unbeleuchtet war bzw er keine ausreichend helle oder mit reflektierendem Material versehene Kleidung trug. Im Bezug auf die Notwendigkeit der Beleuchtung eines Rollstuhls liege eine Gesetzeslücke vor, die mit den gesetzlichen Bestimmungen zum Fahrrad zu füllen sei. Auch unabhängig davon habe das Berufungsgericht die Frage des Mitverschuldens falsch gelöst und die Entscheidung 2 Ob 9/13g unrichtig interpretiert.

Der Kläger beantragt in seiner Revisionsbeantwortung, die Revision zurückzuweisen bzw ihr nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision der Beklagten ist zulässig im Sinne der Ausführungen des Berufungsgerichts; sie ist aber nicht berechtigt .

1. Zur Beleuchtungspflicht:

1.1. Nach § 60 Abs 3 StVO sind Fahrzeuge während der Dämmerung, bei Dunkelheit oder Nebel oder wenn es die Witterung sonst erfordert, auf der Fahrbahn zu beleuchten; ausgenommen hievon sind Fahrräder, die geschoben werden.

Nach § 2 Abs 1 Z 19 StVO gilt als Fahrzeug ein zur Verwendung auf Straßen bestimmtes oder auf Straßen verwendetes Beförderungsmittel oder eine fahrbare Arbeitsmaschine, ausgenommen unter anderem Rollstühle.

Der Gesetzgeber begründet den eingeschränkten Fahrzeugbegriff mit der Überlegung, dass mit dem Begriff des Fahrzeugs die Vorstellung verbunden ist, dass damit Personen und Sachen auch über weite Strecken befördert werden können (ErlRV 22 BlgNR IX. GP  51; 2 Ob 18/08y).

Damit gilt die Beleuchtungspflicht des § 60 Abs 3 StVO nicht für Rollstühle.

1.2. Für den österreichischen Rechtsbereich existiert somit keine gesetzliche Vorschrift, die eine Beleuchtung des hier zu beurteilenden Rollstuhls vorschreiben würde. Ob das, wie die Revisionswerber vorbringen, in Belgien anders sein mag, ist hier nicht von Relevanz.

2. Zur Analogie:

2.1. Anders als in § 24 Abs 1 dStVO, wonach (ua) für den Verkehr mit Greifreifenrollstühlen die Vorschriften für den Fußgängerverkehr entsprechend gelten, fehlt in der öStVO eine gleichlautende ausdrückliche Regelung. Aus § 2 Abs 1 Z 19 StVO (siehe Punkt 1.1) lässt sich aber erschließen, dass die Benützer derartiger Rollstühle auch in Österreich wie Fußgänger zu behandeln sind. Unterstützt wird diese Auslegung durch den Wortlaut der Gesetzesmaterialien zur 12. StVO‑Novelle, mit der den Benützern von selbstfahrenden Rollstühlen, die bis dahin die Fahrbahn benützen mussten, die Erlaubnis zum Befahren von Gehsteigen, Gehwegen und Fußgängerzonen in Schrittgeschwindigkeit eingeräumt worden ist (§ 76 Abs 1 letzter Satz StVO). Darin wurde ausgeführt, dass Rollstühle auf Gehsteigen, Gehwegen oder in Fußgängerzonen fahren dürfen, wenn sie entweder vom Benützer – wie im gegenständlichen Fall – selbst bewegt oder von einer Begleitperson geschoben werden, während elektrisch angetriebene Rollstühle die Fahrbahn benützen müssen (VAB 411 BlgNR XVI. GP  1; zum elektrischen Rollstuhl vgl weiters § 76 Abs 1 letzter Satz StVO sowie Pürstl/Nedbal-Bures, Kleinfahrzeuge und die StVO, ZVR 2010/217).

2.2. Angesichts dieser ausdrücklichen Beschäftigung des Gesetzgebers mit den Regelungen für Rollstuhlfahrer ist eine im Wege der Analogie zu füllende Gesetzeslücke nicht erkennbar. Eine analoge Anwendung der Vorschriften für Fahrräder auf Rollstühle würde auch den Wertungen des Gesetzgebers widersprechen, weil dieser die Einführung des § 65 Abs 1 StVO, wonach, wer ein Fahrrad schiebt, nicht als Radfahrer gilt, damit begründete, dass es nicht angebracht erscheine, zwischen einem „Fußgänger“ und einem „Fußgänger, der zusätzlich ein Fahrrad neben sich herschiebt“, einen Unterschied zu machen (ErlRV 713 BlgNR XX. GP  14). Die ein Fahrrad schiebende Person hat vielmehr ebenfalls die Verhaltensvorschriften für Fußgänger zu beachten (7 Ob 311/98f = RIS‑Justiz RS0112244).

3. Zum Mitverschulden:

3.1. Der Verzicht eines Fußgängers auf das Tragen heller oder mit reflektierendem Material versehener Kleidung vermag nach der Rechtsprechung für sich allein einen Mitverschuldensvorwurf nicht zu rechtfertigen (2 Ob 188/07x und 2 Ob 9/13g = RIS‑Justiz RS0128879).

3.2. Die Revisionswerber leiten nun aber aus der Wendung „für sich allein“ und der Tatsache, dass hier ihrer Ansicht nach weitere Faktoren (eingeschränkte Beweglichkeit und damit eingeschränkte Ausweichmöglichkeit des Klägers, unbeleuchtete schmale Landstraße außerhalb des Ortsgebiets, mangelnde helle bzw reflektierende Kleidung, mangelnde Beleuchtung des Rollstuhls; sitzende Position des Klägers und damit schwerere Erkennbarkeit) vorlagen, ab, dass insgesamt das Tragen heller bzw reflektierender Kleidung geboten gewesen wäre.

3.3. Dazu ist vorweg darauf zu verweisen, dass der Kläger nach den Feststellungen keineswegs gänzlich dunkel gekleidet war.

Soweit sich die Beklagten dennoch auf die mangelnde Beleuchtung, bzw fehlende helle oder reflektierende Kleidung berufen, befinden sie sich überdies in einem Zirkelschluss: mit dem Fehlen dieser Ausrüstung kann nicht ihre Notwendigkeit begründet werden. Soweit sie auf Dunkelheit und mangelnde Straßenbeleuchtung im Unfallbereich hinweisen, sind dies keine zusätzlich ins Gewicht fallenden Faktoren, weil erst durch sie überhaupt die Frage der Notwendigkeit einer hellen oder reflektierenden Kleidung entsteht. Dafür, dass der Kläger in sitzender Position schlechter erkennbar wäre als stehend, gibt es keine Beweisergebnisse; dies ist auch nicht offenkundig. Selbst wenn man davon ausginge, dass sich der Kläger in seinem Rollstuhl durchschnittlich weniger reaktionsschnell bewegen kann als ein Fußgänger, träfe das wohl auch auf einen Fußgänger zu, der ein Fahrrad schiebt. Im Gegensatz zur Entscheidung 2 Ob 188/07x, die der dunkel gekleideten, gebrechlichen Fußgängerin zusätzlich einen Verstoß gegen § 76 Abs 1 zweiter Satz, zweiter Halbsatz StVO anlastete, kann daraus jedenfalls kein zusätzliches Argument für ein Mitverschulden des Klägers abgeleitet werden. Auch die geringe Breite der Landstraße ist kein „zusätzlicher Faktor“, weil diesem Umstand schon durch § 10 Abs 2 StVO Rechnung getragen wird. Soweit sich die Beklagten auf die Entscheidung 2 Ob 9/13g berufen, ist daraus für sie nichts zu gewinnen, weil dort der auf einem Geh‑ und Radweg gehenden, dunkel gekleideten Fußgängerin ebenfalls kein Mitverschulden angelastet wurde.

3.4. Nach der Rechtsprechung kann auch bei der Unterlassung von Schutzmaßnahmen zur eigenen Sicherheit der Vorwurf des Mitverschuldens begründet sein, wenn sich bereits ein allgemeines Bewusstsein der beteiligten Kreise dahin gebildet hat, dass jeder Einsichtige und Vernünftige solche Schutzmaßnahmen anzuwenden pflegt (vgl RIS‑Justiz RS0026828: zu Fahrradhelmen [T4 und T6]; für „sportlich ambitionierte“ Radfahrer 2 Ob 99/14v = RS0026828 [T7]; zur Motorradschutzkleidung 2 Ob 119/15m = RS0026828 [T9]).

3.5. Dass sich ein allgemeines Bewusstsein der beteiligten Kreise dahin gebildet hätte, dass Rollstuhlfahrer auf Straßen ohne Gehsteige und Beleuchtung in der Nacht zu ihrer eigenen Sicherheit gut sichtbare Kleidung tragen sollen, behaupten die Beklagten gar nicht. Sie bringen vielmehr vor, dass ein vernünftiger und sorgfältiger Rollstuhlfahrer jedenfalls Aktivbeleuchtung oder Reflektoren benutzt hätte, und dass es im Hinblick auf die Vielzahl der möglichen Beeinträchtigungen, die die Benutzung eines Rollstuhls notwendig machen könnten, keinen „beteiligten Verkehrskreis“ gebe.

Allein, dass die Beklagten bestimmte Maßnahmen zur Schadensabwehr für vernünftig oder aus dem „logischen Hausverstand“ heraus geboten erachten, erfüllt aber für sich mangels entsprechender gesetzlicher Verpflichtung noch nicht die dargelegten Anforderungen der Rechtsprechung zur Annahme eines Mitverschuldens, sondern eben erst, wenn ein entsprechendes allgemeines Bewusstsein der beteiligten Kreise vorliegt. Weshalb es keine solchen beteiligten Kreise geben sollte, ist nicht nachvollziehbar.

4.  Der Revision war daher insgesamt nicht Folge zu geben.

5. Der Kostenvorbehalt beruht auf § 393 Abs 4 ZPO.

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