OGH 4Ob210/17m

OGH4Ob210/17m23.1.2018

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten Dr. Vogel als Vorsitzenden und die Hofräte Dr. Schwarzenbacher, Hon.‑Prof. Dr. Brenn, Dr. Rassi und MMag. Matzka als weitere Richter in der Rechtssache der Klägerin Stadt W*, vertreten durch Mag. Stefan Hotz, Rechtsanwalt in Wien, gegen den Beklagten A* D*, vertreten durch Dr. Harald Hauer, Rechtsanwalt in Wien, wegen Aufkündigung eines Bestandvertrags, über die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Wien als Berufungsgericht vom 5. Juli 2017, GZ 38 R 67/17k-46, womit das Urteil des Bezirksgerichts Innere Stadt Wien vom 19. Jänner 2017, GZ 45 C 106/14v-42, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2019:E120576

Rechtsgebiet: Zivilrecht

 

Spruch:

Die Revision wird zurückgewiesen.

Der Beklagte hat die Kosten seiner Revisionsbeantwortung selbst zu tragen.

 

Begründung:

Das Berufungsgericht bestätigte die Aufhebung der Aufkündigung des Bestandvertrags über eine „Gemeindewohnung“ seitens der vermietenden Klägerin mangels Verwirklichung der Kündigungsgründe nach § 30 Abs 2 Z 5 und Z 6 MRG.

Der Beklagte ist in die streitgegenständliche Wohnung gemeinsam mit seinen Eltern 1981 eingezogen und hat dort im gemeinsamen Haushalt mit ihnen bis zu deren Ableben gewohnt und wohnt nach wie vor dort. Dass der Beklagte (auch) Mieter einer daneben gelegenen Wohnung ist, haben die Vorinstanzen nicht als Umstand gewertet, der sein dringendes Wohnbedürfnis an der gekündigten Wohnung verneinen ließe.

Das Berufungsgericht ließ die Revision mit der Begründung zu, dass in der jüngeren Rechtsprechung die Frage der Verweisung auf eine rechtlich gleichwertige, schlecht ausgestattete Wohnmöglichkeit bisher nur bei erheblichen Unterschieden zu beurteilen gewesen sei.

Die Klägerin macht in ihrer – vom Beklagten beantworteten – Revision geltend, die Frage des Eintrittsrechts des Beklagten in die elterliche Wohnung trotz seiner unbefristeten Mietrechte an einer anderen Wohnung sei nur nach dem strengen Kriterium der unbedingten Notwendigkeit der Sicherung der Wohnversorgung und nicht nach jenem der faktischen Gleichwertigkeit der Wohnungen, zu prüfen. Überdies habe das Berufungsgericht die faktische Gleichwertigkeit der Wohnungen nach den vom Obersten Gerichtshof aufgestellten Prämissen unvertretbar verneint. Des weiteren habe das Berufungsgericht die Berufung im Kostenpunkt nicht erledigt.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist, ungeachtet des – für den Obersten Gerichtshof nicht bindenden – Zulassungsausspruchs des Berufungsgerichts, in Ermangelung von erheblichen Rechtsfragen iSv § 502 Abs 1 ZPO nicht zulässig:

1. Die Beurteilung der Frage, ob das dringende Wohnbedürfnis des Eintrittsberechtigten nach den im Einzelfall festgestellten Umständen zu bejahen ist oder nicht, ist keine solche von erheblicher Bedeutung iSd § 502 Abs 1 ZPO (RIS-Justiz RS0042789; RS0044086; zum schutzwürdigen Interesse: RS0079210 [T3]). Bei der Beurteilung kommt es immer auf die Gesamtheit der Umstände des Einzelfalls, unter Einschluss sowohl der rechtlichen als auch der tatsächlichen Verhältnisse an (7 Ob 273/07h mwN).

2. Unstrittig ist, dass der Beklagte seit 1981 (bis zu deren Tod 2009 bzw 2012 zusammen mit seinen Eltern) in der aufgekündigten Wohnung top 2, die über eine Fläche von 56,46 m² verfügt, lebt und nie ausgezogen ist. Seit 1989 ist der Beklagte Mieter der am selben Gang gelegenen Wohnung top 4, die (nur) 28 m² groß ist und in der im Küchenbereich kein Wasserhahn und kein Herd installiert ist. In dieser Wohnung verwendete die Familie das Badezimmer, ansonsten wurde die Wohnung zur Lagerung von Gegenständen und für handwerkliche Tätigkeiten genutzt.

3.1. In der jüngeren höchstgerichtlichen Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs wird das dringende Wohnbedürfnis eines Eintrittswerbers im Sinne eines schutzwürdigen Interesses verstanden und nur dann verneint, wenn ihm eine andere ausreichende und angemessene (vgl RIS-Justiz RS0069974) sowie rechtlich gleichwertige Unterkunftsmöglichkeit zur Verfügung steht, wobei immer auf die Gesamtheit der Umstände des Einzelfalls unter Einschluss sowohl der rechtlichen als auch der tatsächlichen Verhältnisse abgestellt wird. Verfügt ein Eintrittswerber über eine eigene Wohnung, die er früher bewohnt hat, wird auf die unbedingte Notwendigkeit abgestellt, den beim Tod des Mieters gegebenen Zustand zu belassen. Soll er auf eine andere Wohnung verwiesen werden, muss es sich um eine ausreichende und gleichartige Wohnmöglichkeit handeln (5 Ob 89/12t mwN; vgl auch RIS-Justiz RS0069957; RS0068334). In der zitierten Entscheidung wurde die gleich große und gleich ausgestattete Wohnung, die die Beklagte auch zu Lebzeiten ihrer Mutter zu Wohnzwecken nutzte, als eine nicht nur rechtlich gleichwertige, sondern auch ausreichende und angemessene Wohnmöglichkeit angesehen.

3.2. Nach der Rechtsprechung ist zwar bei Vorhandensein einer ausreichenden und rechtlich gleichwertigen Wohnmöglichkeit deren faktische Gleichwertigkeit nicht zu prüfen (RIS-Justiz RS0068181; RS0069751). Allerdings werden bei der Prüfung, ob es sich dabei um eine „ausreichende“ Wohnmöglichkeit handelt, auch faktische und nicht nur rechtliche Gesichtspunkte herangezogen. So wurde zu 7 Ob 273/07h ausgesprochen, dass in einer 40 m² bzw 52 m² großen Garconniere keine mit einer 140 m² großen Wohnung vergleichbare ausreichende Wohnmöglichkeit gesehen werden kann, wenn die Beklagte bis zum Zeitpunkt des Todes des bisherigen Hauptmieters rund 20 Jahre in der gegenständlichen Wohnung lebte.

3.3. Das Berufungsgericht nahm auf 7 Ob 137/13t Bezug, wonach an zwei rechtlich selbstständigen, faktisch zusammengelegten Wohnungen nach den Umständen des Einzelfalls ein dringendes Wohnbedürfnis begründet werden kann, sowie auf 4 Ob 237/05i, wo die ausreichende und gleichwertige Wohnmöglichkeit in einem ca 15 m² großen Einzelraum ohne WC, Kochgelegenheit, Wasser- und Kaminanschluss mit der 96 m² großen aufgekündigten Wohnung mit Bad, WC und Gasetagenheizung verneint wurde.

3.4. Dem hält die Revision ua die Entscheidung 6 Ob 75/98t (Bejahung des schutzwürdigen Interesses des 76 Jahre alten Witwers, der mit der verstorbenen Mieterin durch Jahrzehnte in der gemeinsamen rund 160 m² großen Wohnung der Kategorie A gelebt hatte, bei Vorhandensein einer erheblich kleineren Wohnung der Kategorie D, die überdies vom selben Hauseigentümer zum selben Termin aufgekündigt wurde) entgegen, in der aber gerade auch die Bezugnahme auf die faktischen Verhältnisse bejaht wurde.

3.5. In der Entscheidung 9 Ob 331/00t wurde auf den Grundsatz hingewiesen, dass das Vorhandensein einer rechtlich gleichwertigen Wohnmöglichkeit nicht schon schematisch und generell zur Verneinung des dringenden Wohnbedürfnisses an der aufgekündigten Wohnung führen muss.

4.1. Im vorliegenden Fall stellt die dem Beklagten zur Verfügung stehende Wohnung top 4, an der ein unbefristeter Mietvertrag besteht, eine zwar rechtlich gleichwertige Unterkunftsmöglichkeit dar; die Beurteilung der Vorinstanzen, dass es sich dabei dennoch nicht um eine „ausreichende“ Unterkunftsmöglichkeit handelt, ist aber im Lichte der zuvor zitierten Rechtsprechung vertretbar. Denn danach muss zwar keine faktische Gleichwertigkeit im Sinn von Größe, Kategoriemerkmalen, Erhaltungszustand, etc bestehen, es darf aber dem Eintrittswerber auch kein eklatanter Abstieg des Wohnkomforts zugemutet werden (vgl etwa 7 Ob 237/07h und 4 Ob 237/05i).

4.2. Hier würde der Beklagte auf eine halb so große und (bezüglich der Küche) schlechter ausgestattete Wohnung als jene, in der er seit beinahe 40 Jahren lebt, verwiesen werden. Berücksichtigt man diese Umstände des Einzelfalls, liegt die Beurteilung der Vorinstanzen jedenfalls innerhalb des von der höchstgerichtlichen Rechtsprechung vorgegebenen Rahmens.

5. Der Ausschluss eines Rechtsmittels gegen Entscheidungen der zweiten Instanz über den Kostenpunkt erstreckt sich auf sämtliche Entscheidungen, mit denen in irgendeiner Form über Kosten abgesprochen wird (vgl RIS‑Justiz RS0044233). Die Berufungsentscheidung enthält auch eine insoweit vor dem Obersten Gerichtshof unanfechtbare Kostenentscheidung. Der Klägerin wäre ein Ergänzungsantrag an das Berufungsgericht gemäß § 423 ZPO hinsichtlich ihres Kostenrekurses offen gestanden.

6. Die Revisionsbeantwortung des Beklagten diente nicht der zweckentsprechenden Rechtsverfolgung, weil zur Hauptsache nicht auf die Unzulässigkeit der Revision hingewiesen wurde. Ein Kostenersatz findet daher nicht statt.

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