European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2016:008OBA00071.16Y.1125.000
Spruch:
Die außerordentliche Revision wird gemäß § 508a Abs 2 ZPO mangels der Voraussetzungen des § 502 Abs 1 ZPO zurückgewiesen (§ 510 Abs 3 ZPO iVm § 2 Abs 1 ASGG).
Begründung
Rechtliche Beurteilung
1. Gemäß § 1502 ABGB kann auf die Verjährung im Voraus nicht verzichtet werden. Im Hinblick auf diese Bestimmung kann der Schuldner einen vor Eintritt der Verjährung abgegebenen Verzicht auf Erhebung der Verjährungseinrede zurücknehmen. Erfolgt die Rücknahme des Verzichts nach Ablauf der Verjährungsfrist, so darf der Gläubiger nicht untätig bleiben, sondern muss, um sich der Verjährungseinrede gegenüber die Replik des Verstoßes gegen Treu und Glauben zu wahren, innerhalb angemessener Frist eine Verjährungsunterbrechung herbeiführen (RIS‑Justiz RS0034760; 7 Ob 153/15y). Nach diesen Grundsätzen kann ein (an sich unwirksamer) Verjährungsverzicht zur Folge haben, dass ein dennoch erhobener Verjährungseinwand wegen Verstoßes gegen den Grundsatz von Treu und Glauben unbeachtlich bleibt.
Die Vorinstanzen haben die Verneinung der Verjährung nicht auf einen vereinbarten oder von der Beklagten einseitig erklärten Verjährungsverzicht gestützt. Vielmehr haben sie das Gesamtverhalten der Beklagten dahin beurteilt, dass dieses den Verjährungseinwand sittenwidrig erscheinen lasse. Dazu wird angemerkt, dass ausgehend vom Verhandlungs‑ und Kenntnisstand der Streitteile das Schreiben der Vertreter der Beklagten an die Klägerin vom 20. 12. 2013 durchaus als Erstreckung des Verjährungsverzichts gegenüber der Klägerin gewertet werden könnte. Immerhin sah sich die Beklagte veranlasst, den Widerruf der Verjährungsverzichtserklärung auch gegenüber der Klägerin persönlich zu erklären.
2.1 Allgemein verstößt die Verjährungseinrede nach der Rechtsprechung dann gegen Treu und Glauben, wenn die Fristversäumnis des Gläubigers auf ein Verhalten seines Gegners zurückzuführen ist. Dazu zählt nicht nur ein aktives Vorgehen des Schuldners dahin, dass er den Gläubiger geradezu davon abhält, der Verjährung durch Einklagung vorzubeugen. Vielmehr verstößt auch ein Verhalten des Schuldners gegen die guten Sitten, aufgrund dessen der Gläubiger nach objektiven Maßstäben der Auffassung sein konnte, sein Anspruch werde entweder ohne Rechtsstreit befriedigt oder nur mit sachlichen Einwendungen bekämpft, sodass er aus diesen Gründen eine rechtzeitige Klagsführung unterlassen hat (RIS‑Justiz RS0034537; 7 Ob 146/15v; 1 Ob 258/15w). Verstößt der Verjährungseinwand gegen Treu und Glauben, so kann diesem die Replik der Sittenwidrigkeit entgegengehalten werden (RIS‑Justiz RS0034537; 6 Ob 179/15i).
2.2 Im Anlassfall stößt die Bejahung der Voraussetzungen für einen Verstoß gegen Treu und Glauben durch die Vorinstanzen auf keine Bedenken. Es besteht kein Zweifel, dass die Klägerin eine von den Verhandlungen betroffene Arbeitnehmerin war. So war sie etwa bei den Fortbildungsveranstaltungen anwesend, bei denen auch Vertreter der Beklagten über die Abrechnung der Mehr‑ und Überstunden informierten. Dementsprechend wurde auch an sie ein Vergleichsangebot gerichtet. Im Zuge der weiteren Verhandlungen bestätigten die Vertreter der Beklagten wiederholt, dass die Verhandlungsergebnisse und Ergebnisse der Musterprozesse für alle betroffenen Mitarbeiter der Beklagten gültig seien, und zwar unabhängig davon, ob sie den Vergleich unterschrieben haben oder bereits aus dem Dienstverhältnis ausgeschieden sind.
Das Berufungsgericht hat zutreffend festgehalten, dass es für die Beurteilung, ob der Einwand der Verjährung gegen den Grundsatz von Treu und Glauben verstößt, nicht auf eine Bevollmächtigung bzw eine formelle Vertretungsbefugnis von Betriebsrat und Gewerkschaft ankommt. Vielmehr ist entscheidend, ob die Klägerin als betroffene Arbeitnehmerin ausgehend von dem ihr zur Kenntnis gelangten Verhalten und den Erklärungen der Beklagten und ihrer Vertreter darauf vertrauen durfte, dass die Ansprüche auf Mehr‑ und Überstunden nachträglich liquidiert werden. Die Beklagte hat nicht nur einen Verjährungsverzicht erklärt, sondern über Jahre hinweg versprochen, dass die Mehr‑ und Überstunden ab 1. 3. 2005 nachverrechnet würden und diese Ansprüche nicht verloren gingen. Aufgrund des enormen administrativen Aufwands war die Beklagte an einer Pauschal- oder einer Gruppenvergütung interessiert. Außerdem war sie bemüht, dass nicht 80 bis 90 Klagen gegen sie eingebracht werden. Aus diesem Grund brachte sie wiederholt zum Ausdruck, dass auch die Ergebnisse der Musterverfahren für alle betroffenen Mitarbeiter beachtlich seien. Selbst nach Widerruf des Verjährungsverzichts mit Schreiben vom 10. 9. 2014 wurden die Verhandlungen über einen möglichen Vergleich weitergeführt. Diese Verhandlungen sind letztlich erst am 5. 12. 2014 endgültig gescheitert.
3.1 Nach dem Scheitern von Verhandlungen und der erkennbaren Aufgabe jenes Verhaltens, das den Verjährungseinwand sittenwidrig erscheinen lässt, muss in angemessener Frist Klage eingebracht werden (vgl RIS‑Justiz RS0034450). Die Beurteilung, ob diese Voraussetzung gegeben ist, hängt typisch von den Umständen des Einzelfalls ab und begründet im Allgemeinen keine erhebliche Rechtsfrage (8 ObA 27/16b).
Beide Vorinstanzen haben ihre Entscheidung auch in diesem Punkt ausführlich begründet. Insbesondere haben sie auf die langen Verhandlungen von 2008 bis jedenfalls September 2014 und die selbst von der Beklagten ins Treffen geführten Schwierigkeiten bei der Nachverrechnung hingewiesen. Ihre Ansicht, dass aufgrund der konkreten Umstände eine großzügige Sichtweise geboten erscheint, ist nicht zu beanstanden.
3.2 Davon ausgehend erweist sich die Beurteilung der Vorinstanzen, dass die Klage (vom 13. 2. 2015) rechtzeitig eingebracht worden sei, als nicht korrekturbedürftig.
Richtig ist, dass die Ausdehnung des Klagebegehrens mit Schriftsatz vom 23. 6. 2015 erfolgt ist. Da die Beklagte die betroffenen Arbeitnehmer selbst über mehr als sechseinhalb Jahre hingehalten und vertröstet und die von Anfang an verlangten Einzelnachverrechnungen der Mehr‑ und Überstunden als administrativ undurchführbar dargestellt hat, kann sie sich auch in Bezug auf die Ausdehnung des Klagebegehrens nicht auf eine Verspätung der Klagsführung berufen. Dabei ist zu berücksichtigen, dass von einer Verspätung nur ausgegangen werden könnte, wenn die Untätigkeit der Klägerin darauf schließen ließe, dass ihr an der Durchsetzung der Ansprüche nicht mehr gelegen sei und sie kein Interesse an einer gerichtlichen Austragung der Sache habe. Aufgrund der besonderen Umstände des Anlassfalls konnte die Beklagte nicht davon ausgehen, die Klägerin habe kein Interesse an der gerichtlichen Geltendmachung sämtlicher von ihr, wenn auch in kurzer Zeitspanne nachträglich errechneter Mehr‑ und Überstunden.
Dem in dieser Hinsicht bestehenden Begründungsmangel kommt keine Relevanz zu. Die in diesem Zusammenhang von der Beklagten zusätzlich geltend gemachte Aktenwidrigkeit liegt nicht vor, weil die Beurteilung des Berufungsgerichts deutlich erkennbar auf die Klage Bezug nimmt und das Berufungsgericht zur Ausdehnung des Klagebegehrens keine gesonderte Begründung vorgenommen hat.
4. Mangels erheblicher Rechtsfrage war die außerordentliche Revision der Beklagten zurückzuweisen.
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