OGH 4Ob150/16m

OGH4Ob150/16m30.8.2016

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten Dr. Vogel als Vorsitzenden und die Hofräte Dr. Jensik, Dr. Musger, Dr. Schwarzenbacher und Dr. Rassi als weitere Richter in der Pflegschaftssache des mj K***** M*****, geboren am ***** 2000, *****, infolge des Revisionsrekurses des Kinder- und Jugendhilfeträgers Land Niederösterreich, dieser vertreten durch die Bezirkshauptmannschaft Melk, Rechtsvertretung Minderjähriger, Melk, Abt Karl‑Straße 25, gegen den Beschluss des Landesgerichts St. Pölten als Rekursgericht vom 27. April 2016, GZ 23 R 173/16p‑18, mit dem der Beschluss des Bezirksgerichts Melk vom 4. März 2016, GZ 22 Ps 15/16p‑5 teilweise bestätigt und teilweise abgeändert wurde, den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2016:0040OB00150.16M.0830.000

 

Spruch:

Aus Anlass des Revisionsrekurses werden die Beschlüsse der Vorinstanzen aufgehoben und die Rechtssache wird zur Ergänzung des Verfahrens und neuerlichen Entscheidung an das Erstgericht zurückverwiesen.

 

Begründung:

Der minderjährige K***** ist ein syrischer Staatsbürger, der am 16. 6. 2015 ohne Begleitung eines Obsorgeberechtigten gemeinsam mit seinem 1994 geborenen Bruder S*****M***** nach Österreich flüchtete und hier mit ihm zusammen lebt. Die Brüder haben in Österreich Asyl beantragt. Zu ihren Eltern, die in der Stadt Kobane in Syrien leben und deren Namen und Geburtsdaten im Akt ausgewiesen sind, besteht regelmäßiger telefonischer Kontakt.

Am 7. 1. 2016 stellte S***** den Antrag, ihm die Obsorge für seinen Bruder zu übertragen. Er sei bereit, diese Verantwortung zu übernehmen.

Der Kinder- und Jugendhilfeträger äußerte sich zu diesem Antrag zustimmend, im Rahmen eines Hausbesuchs habe eine gute und vertrauensvolle Beziehung zwischen dem Antragsteller und dem Minderjährigen wahrgenommen werden können. Die Eltern wohnten in der syrischen Stadt Kobane, eine genaue Adresse habe „aufgrund der sprachlichen Barrieren nicht herausgefunden werden können.

In seiner mit Dolmetsch geführten Einvernahme vor dem Erstgericht erklärte S*****, dass er die Obsorge nicht übernehmen wolle. Er wolle seinen Bruder K***** zwar weiter betreuen, jedoch nicht die Verantwortung übernehmen.

Mit dem nunmehr angefochtenen Beschluss übertrug das Erstgericht, das Erhebungen zum konkreten Aufenthaltsort der Eltern unterließ und diese am Verfahren nicht beteiligte, die Obsorge für K***** vorläufig dem Land Niederösterreich als Kinder- und Jugendhilfeträger. Es bejahte die internationale Zuständigkeit Österreichs und die Anwendung österreichischen Rechts. Die Obsorge sei nach § 209 ABGB iVm § 107 Abs 2 AußStrG zunächst vorläufig dem Kinder- und Jugendhilfeträger zu übertragen, weil zu den Eltern derzeit kein Kontakt bestehe und sie daher die Obsorge nicht ausüben könnten. Der volljährige Bruder S***** sei mit der Situation überfordert und komme derzeit für die Ausübung der Obsorge nicht in Betracht.

Das Rekursgericht gab dem Rekurs des Kinder- und Jugendhilfeträgers teilweise Folge und betraute mit der Obsorge vorläufig S*****M***** im Teilbereich Pflege und Erziehung und den Kinder- und Jugendhilfeträger in den Teilbereichen gesetzliche Vertretung und Vermögensverwaltung.

In verfahrensrechtlicher Hinsicht bejahte es für ein Verfahren über den Entzug der Obsorge die Parteistellung der Eltern und der sonst in § 178 ABGB genannten Personen. Hier wäre es „jedenfalls“ erforderlich, für Eltern, allenfalls auch für Großeltern, einen Abwesenheitskurator zu bestellen. Auch bei den Fällen der qualifizierten Abwesenheit und der Unmöglichkeit der Herstellung einer Verbindung nach § 178 Abs 1 ABGB müsse „rein theoretisch“ immer ein Abwesenheitskurator bestellt werden. § 178 ABGB selbst greife aber nicht in die Obsorge der bisherigen Obsorgeträger ein; ein solcher Eingriff könne nur allenfalls gleichzeitig nach § 181 ABGB erfolgen, im Falle der qualifizierten Abwesenheit oder Unerreichbarkeit des Elternteils müsse dies aber nicht geschehen. In die Rechte der mit der Obsorge eines unbegleiteten Flüchtlings betrauten Eltern, zu denen aufgrund der in ihrem Heimatland herrschenden bürgerkriegsartigen Zustände ein verfahrensrechtlich relevanter Kontakt nicht hergestellt werden könne, werde gar nicht eingegriffen. Daher sei die Bestellung eines Abwesenheitskurators für die Eltern und alle anderen nach § 178 ABGB in Betracht kommenden Personen bei unbegleiteten Flüchtlingen, zu deren Eltern kein Kontakt hergestellt werden könne, nicht erforderlich. Zudem würde es zu einer „gewaltigen Verfahrensaufblähung“ und zusätzlichen Belastung der Gerichte und potentieller Kuratoren kommen, wenn in allen Anwendungsfällen des § 178 ABGB Abwesenheitskuratoren bestellt werden.

In der Sache ging das Rekursgericht davon aus, dass mit der Pflege und Erziehung durchaus S*****M***** betraut werden könne, zumal er selbst erklärt habe, seinen Bruder weiter zu betreuen. Allerdings sei S***** nicht in der Lage, die gesetzliche Vertretung und Vermögensverwaltung des Minderjährigen wirksam auszuüben, weshalb der Beschluss in diesem Punkt zu bestätigen sei. Eine Betrauung von sonstigen Verwandten komme nach § 209 ABGB grundsätzlich nur in Betracht, wenn sie dazu auch bereit seien. Der Bruder des Minderjährigen sei nicht bereit, die Vertretung und Vermögensverwaltung auszuüben. Auch mit Blick auf die fremdenrechtlichen Verfahren entspreche es am ehesten dem Kindeswohl, wenn dieser Teilbereich in den Händen des Jugendwohlfahrtsträgers liege.

Das Rekursgericht sprach aus, dass der Revisionsrekurs zulässig ist, weil die Entscheidung davon abhänge, ob in allen Fällen unbegleiteter Flüchtlinge ein Abwesenheitskurator zu bestellen sei.

Mit seinem dagegen erhobenen Revisionsrekurs beantragt der Kinder- und Jugendhilfeträger die Aufhebung der Entscheidung zur Verfahrensergänzung, hilfsweise die Abänderung dahin, dass dem Bruder S*****M***** die gesamte Obsorge übertragen wird.

Rechtliche Beurteilung

Den Entscheidungen und dem Verfahren der Vorinstanzen haftet der Verfahrensmangel der Verletzung des rechtlichen Gehörs gemäß § 66 Abs 1 Z 1 iVm § 58 Abs 1 Z 2 AußStrG an, weshalb sie aus Anlass des zulässigen Rechtsmittels aufzuheben sind.

1. Die Vorinstanzen sind im Ergebnis zutreffend davon ausgegangen, dass gemäß Art 8 Abs 1 Brüssel IIa‑VO iVm Art 1 Abs 1 lit b, Art 5 Abs 1, Art 6 Abs 1 und Art 15 Abs 1 Haager KSÜ Österreich international zuständig und österreichisches Recht als lex fori maßgeblich ist, weil das Kind, das sich im Zeitpunkt der Verfahrenseinleitung bereits sechs Monate im Land befand (vgl RIS‑Justiz RS0074198), den gewöhnlichen Aufenthalt im Inland hat (1 Ob 45/16y; RIS-Justiz RS0127234 [T1]).

2. Partei des Verfahrens ist unter anderem jede Person, soweit ihre rechtlich geschützte Stellung durch die begehrte oder vom Gericht in Aussicht genommene Entscheidung oder durch eine sonstige gerichtliche Tätigkeit unmittelbar beeinflusst würde (§ 2 Abs 1 Z 3 AußStrG). Ob eine rechtlich geschützte Stellung beeinflusst wird, ergibt sich in der Regel aus dem materiellen Recht (RIS‑Justiz RS0123027).

3. Das Rekursgericht hat die Betrauung der Obsorge vor allem auf § 178 Abs 1 ABGB gestützt. Zunächst ist somit zu prüfen, ob die Anwendung dieser Bestimmung durch das Rekursgericht die rechtlich geschützte Stellung der Eltern beeinflusst hat, die jedenfalls vor der Entscheidung der Vorinstanzen obsorgeberechtigt waren.

3.1 § 178 ABGB lautet:

Obsorge bei Verhinderung eines Elternteils

 

§ 178. (1) Ist ein Elternteil, der mit der Obsorge für das Kind gemeinsam mit dem anderen Elternteil betraut war, gestorben, ist sein Aufenthalt seit mindestens sechs Monaten unbekannt, kann die Verbindung mit ihm nicht oder nur mit unverhältnismäßig großen Schwierigkeiten hergestellt werden oder ist ihm die Obsorge ganz oder teilweise entzogen, so ist der andere Elternteil insoweit allein mit der Obsorge betraut. Ist in dieser Weise der Elternteil, der mit der Obsorge allein betraut ist, betroffen, so hat das Gericht unter Beachtung des Wohles des Kindes zu entscheiden, ob der andere Elternteil oder ob und welches Großelternpaar (Großelternteil) oder Pflegeelternpaar (Pflegeelternteil) mit der Obsorge zu betrauen ist; Letzteres gilt auch, wenn beide Elternteile betroffen sind. Die Regelungen über die Obsorge gelten dann für dieses Großelternpaar (diesen Großelternteil).

(2) Auf Antrag des Elternteiles, auf den die Obsorge nach Abs. 1 erster Satz übergegangen ist, hat das Gericht diesen Übergang festzustellen.

(3) Geht die Obsorge auf den anderen Elternteil über oder überträgt das Gericht die Obsorge, so sind, sofern sich der Übergang oder die Übertragung der Obsorge darauf bezieht, das Vermögen sowie sämtliche die Person des Kindes betreffenden Urkunden und Nachweise zu übergeben.

 

3.2 Nach dieser Bestimmung kann die Betrauung der Obsorge durch (automatischen) Übergang oder durch (beschlussmäßige) Übertragung erfolgen, was sich auch deutlich durch den ersten Halbsatz in Abs 3 ergibt.

3.2.1 Ist bei einer gemeinsamen Obsorge ein Elternteil (wegen Todes, Abwesenheit, fehlender Verbindung oder Obsorgeentzugs) verhindert, geht die Obsorge auf den anderen Elternteil über; er ist daher unmittelbar kraft Gesetzes allein mit der Obsorge betraut (Fischer-Czermak in Kletečka/Schauer, ABGB-ON1.03 § 178 Rz 4; Hopf in KBB4 § 178 Rz 1; Stabentheiner in Rummel 3 ErgBd § 145 Rz 2). Einer Entscheidung bedarf es somit nicht (Barth in Fenyves/Kerschner/Vonkilch, Klang3 § 145 Rz 11; vgl 4 Ob 531/91), wenngleich auf Antrag des mit der Obsorge allein betrauten Elternteils der Übergang mit deklarativem Beschluss festgestellt werden kann (3 Ob 111/06d; Fischer-Czermak in Kletečka/Schauer, ABGB-ON1.03 § 178 Rz 5). Für den Fall des Übergangs vertritt das Schrifttum, dass an den Verhinderten nicht zuzustellen und in einer solchen Konstellation auch kein Kurator zu bestellen ist (Stabentheiner in Rummel 3 ErgBd § 145 Rz 2 mwN).

3.2.2 Sind hingegen beide mit der Obsorge betrauten Eltern oder ein allein mit der Obsorge betrauter Elternteil verhindert, muss eine Übertragung mit konstitutivem Beschluss erfolgen (7 Ob 629/93), dies unter Bedachtnahme auf das Kindeswohl (Barth in Fenyves/Kerschner/Vonkilch, Klang 3 § 145 Rz 3; Stabentheiner in Rummel 3 ErgBd § 145 Rz 2a; Weitzenböck in Schwimann, ABGB3 TaKomm § 178 Rz 4).

3.3 Der die konkrete Art der Betrauung auslösende Akt bestimmt auch den contrarius actus bei Wegfall der Verhinderung.

3.3.1 Im Fall des ex lege erfolgten Übergangs kommt es nach Wegfall der Verhinderung des (vor dem Übergang gemeinsam obsorgeberechtigten) Elternteils unmittelbar kraft Gesetzes zu dessen Wiedereintritt in die Pflichten und Rechte (Barth in Fenyves/Kerschner/Vonkilch, Klang 3 § 145 Rz 21; Hopf in KBB4 § 178 Rz 1; LGZ Wien EFSlg 68.619). Gegebenenfalls ist ein nach § 178 Abs 2 ABGB gefasster Beschluss mit deklarativer Wirkung aufzuheben (Gitschthaler/Haberl in Schwimann/Kodek, ABGB4 Ia § 178 Rz 19).

3.3.2 Erfolgte hingegen eine beschlussmäßige Übertragung der Obsorge, bedarf es einer förmlichen Aufhebung der Entscheidung, damit die nicht mehr verhinderten Eltern die Obsorge wieder ausüben können (Barth in Fenyves/Kerschner/Vonkilch, Klang 3 § 145 Rz 21; Fischer-Czermak in Kletečka/Schauer, ABGB-ON1.03 § 178 Rz 18; Gitschthaler/Haberl in Schwimann/Kodek, ABGB4 Ia § 178 Rz 20; Stabentheiner in Rummel 3 ErgBd § 145 Rz 5). Insoweit entspricht die Übertragung der Obsorge (also die Betrauung durch konstitutiv wirkenden Beschluss) nach § 178 ABGB der (teilweisen) Entziehung der Obsorge (vgl Weitzenböck in Schwimann, ABGB3 TaKomm § 178 Rz 8).

3.4 Allein die Notwendigkeit, dass nach Wegfall der Verhinderung ein aufhebender Beschluss erforderlich ist, damit die Eltern ihre ursprüngliche Rechtsposition wieder erlangen können, macht deutlich, dass die beschlussmäßige Übertragung nach § 178 ABGB in die Obsorgeposition der Eltern eingreift, ihre rechtlich geschützte Stellung somit beeinflusst und damit ihre Parteistellung nach § 2 Abs 1 Z 3 AußStrG begründet. Konsequenz der in § 178 ABGB normierten materiellen Rechtsposition der Eltern bei einer Übertragung ist somit deren Parteistellung im Verfahren (Barth in Fenyves/Kerschner/Vonkilch, Klang 3 § 145 Rz 14; Weitzenböck in Schwimann/Kodek, ABGB4 Ia § 181 Rz 51; 5 Ob 68/15h; vgl auch 6 Ob 142/97). Daran ändert auch der Umstand nichts, dass das Rekursgericht bei seiner Entscheidung auch § 204 ABGB und § 209 ABGB (inhaltlich) herangezogen hat. Die Betrauung des Bruders (§ 204 ABGB) bzw des Kinder- und Jugendhilfeträgers (§ 209 ABGB) entspricht im Ergebnis insoweit einer Entziehung der elterlichen Obsorge und begründet schon deshalb Parteistellung der Eltern.

3.5 Demgegenüber vertritt Thoma-Twaroch die Ansicht, dass „gerade bei Migranten“ wegen („unüberwindlicher“) Probleme in der Praxis statt einer Suche nach den im Ausland verbliebenen Eltern (bzw Großeltern) oder einer Kuratorbestellung darauf abgestellt werden müsste, ob die Obsorgeprätendenten abstrakt geeignet und im Sinne einer notwendigen Präsenz und Erreichbarkeit für die Obsorge bereit wären (Thoma-Twaroch, iFamZ 2015/210, Entscheidungsanmerkung).

Der Senat lehnt diese Ansicht ab. Die Frage, wem letztendlich die Obsorge zukommen soll, ist erst am Ende des Verfahrens zu beantworten und von der Frage zu trennen, inwieweit Personen, dem Verfahren als Partei im materiellen Sinn beizuziehen sind, weil die Verfahrensergebnisse ihre materiell‑rechtliche Rechtsposition beeinflussen können.

3.6 Selbst wenn man im Sinne des Rekursgerichts davon ausgehen wollte, dass während der Verhinderung nicht in die Obsorge der Eltern eingegriffen werde, wäre deren Parteistellung dennoch zu bejahen: Bereits die Ausübung der Obsorge durch einen Dritten beeinflusst die Rechtsposition der obsorgeberechtigten Eltern in einem Maß, das jedenfalls ihre Parteistellung rechtfertigt.

4. Die Nichtgewährung des rechtlichen Gehörs der Eltern zwingt hier zur Aufhebung der Entscheidungen der Vorinstanzen. Gemäß § 58 Abs 1 und 3 AußStrG ist vor der Entscheidung auf Aufhebung und Zurückverweisung der Außerstreitsache an eine Vorinstanz zwar grundsätzlich zu prüfen, ob nicht eine Bestätigung selbst aufgrund der Angaben im Rechtsmittelverfahren oder eine Abänderung ohne weitere Erhebungen möglich ist. Im vorliegenden Fall waren die Eltern mangels Beteiligung am bisher durchgeführten Verfahren zu einem diesbezüglichen Vorbringen aber gar nicht in der Lage. Die Verletzung ihres rechtlichen Gehörs muss daher im Revisionsrekursverfahren zur Aufhebung führen (vgl 1 Ob 236/05w; 10 Ob 91/08t). Eine Sanierung durch Zustellung lediglich des Rekursbeschlusses im Sinne des Vorrangs der Sacherledigung (vgl RIS‑Justiz RS0123128) kommt hier schon deshalb nicht in Betracht, weil die Gehörverletzung mit der Notwendigkeit einer Verfahrensergänzung einhergeht (vgl Kodek in Gitschthaler/Höllwerth, AußStrG § 58 Rz 24).

5. Im fortgesetzten Verfahren wird das Erstgericht bei der Beurteilung der beantragten Obsorgeübertragung somit jedenfalls die Eltern des Minderjährigen als Partei zu beteiligen haben.

6. Sollte den Eltern nur durch öffentliche Bekanntmachung zugestellt werden können, wird das Gericht nach § 5 Abs 2 Z 1b AußStrG vorzugehen und einen Abwesenheitskurator zu bestellen haben (vgl zB LGZ Wien EFSlg 68.619 zur Vorgängerbestimmung des § 145 ABGB).

6.1 Die Voraussetzungen für eine Kuratorbestellung wurden bisher nicht (ausreichend) erhoben, knüpften doch die Vorinstanzen nur an den nicht weiter überprüften Hinweis des Kinder- und Jugendhilfeträgers an, wonach eine genaue Adresse der Eltern aufgrund der sprachlichen Barrieren nicht herausgefunden werden konnte. Eine Prüfung des Gerichts unter Mitwirkung der Minderjährigen oder seines Bruders S***** unterblieb ebenso wie sonstige Erhebungen zum Aufenthaltsort, die sich grundsätzlich mit den Erhebungen zur qualifizierten Abwesenheit nach § 178 ABGB decken müssen (vgl Barth in Fenyves/Kerschner/Vonkilch, Klang 3 § 145 Rz 6; Gitschthaler/Haberl in Schwimann/Kodek, ABGB4 Ia § 178 Rz 3; Stabentheiner in Rummel 3 ErgBd § 145 Rz 1; Weitzenböck in Schwimann, ABGB3 TaKomm § 178 Rz 2).

6.2 Die vom Rekursgericht pauschal vertretene Ansicht, dass die Bestellung eines Abwesenheitskurators in einem Verfahren zur Prüfung des § 178 ABGBbei unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen, zu deren Eltern der Kontakt nicht hergestellt werden kann, nicht erforderlich“ist, entbehrt einer gesetzlichen Grundlage. Es wurde bereits erläutert, dass mit der angefochtenen Entscheidung auch ein Eingriff in die Rechte der mit der Obsorge betrauten Eltern verbunden ist. Rein verfahrensökonomische Erwägungen oder eine befürchtete „Verfahrensaufblähung“ entbinden die Gerichte nicht von der Gewährung des Grundrechts auf rechtliches Gehör (Art 6 EMRK). Letzteres kann durch die Eltern persönlich oder – bei postalischer Unerreichbarkeit – durch einen Abwesenheitskurator ausgeübt werden.

7.1 Ob neben den Eltern, dem antragstellenden Bruder des Minderjährigen und dem Kinder- und Jugendhilfeträger auch die (sonst) in § 178 ABGB genannten Personen Partei des Verfahrens sind (vgl 5 Ob 68/15h), kann für den Anlassfall nicht abschließend beurteilt werden, weil bisher nicht im Ansatz erhoben wurde, ob neben den Eltern weitere Personen vorhanden sind, die zum Minderjährigen in einem von § 178 ABGB umfassten Verhältnis stehen. Verfahrensergebnisse und Feststellungen zu dem erweiterten Kreis der nach § 178 ABGB in Betracht kommenden Personen fehlen hier zur Gänze.

7.2 Eine solche Prüfung ist hier auch schon deshalb erforderlich, weil die Obsorgebetrauung des Bruders als eine „andere geeignete Person“ mangels planwidriger Lücke nicht nach § 178 ABGB (vgl Barth in Fenyves/Kerschner/Vonkilch, Klang 3 § 145 ABGB Rz 2), sondern nur nach § 204 ABGB in Betracht kommt. Die Anwendung dieser Norm setzt aber voraus, dass weder Eltern noch Großeltern oder Pflegeeltern mit der Obsorge betraut sind oder betraut werden können (10 Ob 69/09h; 3 Ob 155/11g; 5 Ob 68/15h; RIS‑Justiz RS0123509 [T1]). Nur wenn weder Eltern noch Großeltern oder Pflegeeltern mit der Obsorge betraut sind oder betraut werden können, ist eine andere geeignete Person mit der Obsorge zu betrauen (§ 204 ABGB). Die Übertragung der Obsorge an den Kinder- und Jugendhilfeträger kann dabei wiederum nur das letzte Mittel zur Hintanhaltung einer Gefährdung des Kindeswohls sein. Der Kinder- und Jugendhilfeträger ist also nur subsidiär zu Verwandten, anderen nahestehenden Personen oder sonst besonders geeigneten Personen mit der (Teil‑)Obsorge zu betrauen (RIS‑Justiz RS0123509; RS0048707 [T3]), zumal die Anwendung des § 207 ABGB hier schon deshalb nicht in Betracht kommt, weil die Eltern des Minderjährigen bekannt sind (Kathrein in Fenyves/Kerschner/Vonkilch, Klang 3 § 211 Rz 7; vgl auch Hacker, Gerichtliche Obsorgereglung für unbegleitete minderjährige Fremde, ÖA 2002, 110).

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