Spruch:
Dem Revisionsrekurs wird dahin Folge gegeben, dass
a) in Ansehung des erstinstanzlichen Beschlusses vom 6. Februar 2006 die Entscheidung des Gerichts zweiter Instanz aufgehoben und diesem die neuerliche Entscheidung über den Rekurs des Vaters aufgetragen wird;
b) in Ansehung des erstinstanzlichen Beschlusses vom 17. Februar 2006, dessen Bestätigung im Umfang der vorläufige Entziehung der Obsorge der Mutter unangefochten blieb, im Umfang der vorläufigen Übertragung der Obsorge die Entscheidung der Vorinstanzen ersatzlos aufgehoben wird.
Text
Begründung
Die Ehe der Eltern des zur Zeit der Beschlussfassung in erster Instanz noch nicht 7 ½-jährigen Marco war mit Beschluss vom 14. Dezember 2005 nach § 55a EheG im Einvernehmen geschieden worden. Anlässlich der Scheidung hatten die Eltern eine gerichtliche Vereinbarung getroffen, wonach u.a. die Obsorge für diesen der Mutter allein zukomme und das Besuchsrecht des Vaters einer außergerichtlichen Vereinbarung vorbehalten bleiben sollte. Mit Beschluss vom 6. Februar 2006 (ON S4) genehmigte das Erstgericht die zwischen den Eltern geschlossene Vereinbarung in Ansehung der Punkte Obsorge, Besuchsrecht und Unterhalt, da diese dem Wohl und den Interessen des Minderjährigen entspreche.
Mit Schriftsatz vom 16. Februar 2006 beantragte nun der Vater, der Mutter die Obsorge für das Kind zu entziehen und ihm allein zu übertragen. Weiters solle der Mutter mittels einstweiliger Verfügung untersagt werden, bis zum rechtskräftigen Abschluss des Verfahrens den Wohnsitz des Minderjährigen außerhalb des Ortsgebiets des bisherigen Wohnsitzes der Familie zu verlegen.
Mit Beschluss vom 17. Februar 2006 entzog das Erstgericht die Obsorge für den mj. Marco der Mutter und übertrug sie im vollen Umfang vorläufig dem Vater. Der Beschluss gelte bis zum Vorliegen einer rechtskräftigen Entscheidung im anhängigen Obsorgeverfahren.
Das Erstgericht nahm folgenden Sachverhalt als bescheinigt an:
Anlässlich der Scheidung gab der Vater seinen Bedenken Ausdruck, die Mutter könne das Kind nach Wien verbringen. Diese teilte in Anwesenheit der Richterin ausdrücklich mit, solches in nächster Zeit nicht vorzuhaben. Sie ist deutsche Staatsangehörige, von einer allfälligen sozialen Integration in Wien hat das Gericht derzeit keine Kenntnis.
Am 14. Februar 2006 meldete die Mutter das Kind von der bisher besuchten Volksschule in den 11. Bezirk nach Wien ab. Sie hatte ihre Habseligkeiten bereits verpackt und geäußert, sie beabsichtige mit 18. Februar 2006 samt dem Minderjährigen nach Wien zu übersiedeln. Ein Anhaltspunkt dafür, dass der Vater nicht geeignet wäre, die Obsorge über diesen zu übernehmen, habe sich bislang nicht ergeben. Nach § 176 Abs 1 ABGB könne das Gericht, sofern die Eltern durch ihr Verhalten das Kindeswohl gefährden, auch vorläufige Maßnahmen zur Sicherung desselben treffen, wenn dies zur Beseitigung einer akuten Gefährdung des Kindes geboten sei. Umfassende Erhebungen seien für den Zweck der vorläufigen Maßnahmen nicht erforderlich; es müssten aber besondere Umstände vorliegen, die darauf hindeuten, dass durch die Belassung des Kindes beim Obsorgeberechtigten schutzwürdige Interessen des Kindes ernstlich gefährdet seien. Dies sei wohl dann der Fall, wenn die Mutter das Kind ohne triftigen Grund während des laufenden Schuljahrs von der Schule abmelde und in einer „Nacht und Nebel-Aktion" aus seinem sozialen Umfeld zu reißen trachte. Ihr Vorgehen mache mit Sicherheit weitergehende Überprüfungen, allenfalls auch durch eine kinderpsychologische Begutachtung erforderlich, weshalb bis zum Abschluss des Verfahrens mit der aus dem Spruch ersichtlichen vorläufigen Maßnahmen vorzugehen sei. Dem gegen die Genehmigung des Scheidungsvergleichs gerichteten Rekurs des Vaters gab das Gericht zweiter Instanz nicht Folge. Dagegen gab es dem gegen den Beschluss vom 17. Februar 2006 gerichteten Rekurs der Mutter teilweise dahin Folge, dass es den im Übrigen ausdrücklich bestätigten Beschluss insoweit abänderte, als die vorläufige Obsorge für Marco im vollen Umfang nicht dem Vater, sondern dem betreffenden Bundesland als Jugendwohlfahrtsträger übertragen werde. Das Gericht zweiter Instanz sprach aus, dass der ordentliche Revisionsrekurs nicht zulässig sei.
Der Rekurs des Vaters sei ungeachtet dessen, dass er die Scheidungsvereinbarung selbst geschlossen habe, zulässig, jedoch nicht berechtigt. Das Erstgericht habe vor seiner Entscheidung über die pflegschaftsgerichtliche Genehmigung gemäß § 106 AußStrG den Jugendwohlfahrtsträger gehört und weder dabei noch auf Grund eines anderen Akteninhalts Bedenken gegen die von den Eltern bei der Scheidung angestrebte Obsorgeregelung „schöpfen" müssen. Der angefochtene Beschluss entspreche daher der damaligen Sachlage. Eine Gefährdung des Kindeswohls nach § 176 ABGB könne u.a. darin bestehen, dass das Kind ohne Rücksicht auf seine eigenen Interessen und ohne entsprechende Vorbereitung aus seiner bisherigen Umgebung, in die es gut integriert ist, gerissen werden solle, falls damit die Gefahr einer psychischen Beeinträchtigung verbunden sei. Hier habe die Mutter - offenbar ohne das Kind entsprechend einfühlsam vorzubereiten - Maßnahmen zu einem Umzug in eine völlig fremde Umgebung unternommen, die zumindest geeignet erschienen, den Minderjährigen psychisch zu beeinträchtigen. Da der Wohnungswechsel unmittelbar bevorgestanden sei, habe das Erstgericht zutreffend in Form einer einstweiligen Maßnahme ohne weitere Erhebungen der Mutter die Obsorge vorläufig entzogen. Die Argumente der Mutter in ihrem Rechtsmittel würden Gegenstand des durchzuführenden Obsorgeverfahrens sein. Ihr sei allerdings insoweit zuzustimmen, als eine vorläufige Übertragung der Obsorge auf den Vater weder gerechtfertigt - es gebe keine Verfahrensergebnisse über seine näheren Lebensumstände - noch geboten gewesen sei. Es genüge, die Obsorge vorläufig dem Jugendwohlfahrtsträger zu übertragen um sicherzustellen, dass Marco nicht gegen seinen Willen und gegen seine Interessen aus der gewohnten Umgebung weggebracht werde.
Der außerordentliche Revisionsrekurs des Vaters ist zulässig und auch im Sinne seines Aufhebungsantrags berechtigt.
Rechtliche Beurteilung
1.) Zur pflegschaftsgerichtlichen Genehmigung des Scheidungsvergleichs in Ansehung des Minderjährigen:
Zutreffend zeigt hier der Vater auf, dass das Gericht zweiter Instanz mit seiner Ansicht, es komme für seine Entscheidung allein auf die Sachlage zur Zeit der Beschlussfassung in erster Instanz an, von der stRsp des Obersten Gerichtshofs abwich.
Ausgehend davon, dass, wie im § 137 Abs 1 ABGB zum Ausdruck kommt, die Förderung des Kindeswohls die oberste Maxime des Kindschaftsrechts ist (Hopf in KBB § 137 ABGB Rz 1 mwN), waren schon nach § 10 AußStrG 1854 Sachverhaltsänderungen nach dem erstgerichtlichen Beschluss von der Rechtsmittelinstanz zu berücksichtigen, wenn dies das Interesse des pflegebefohlenen Kindes erforderte (RIS-Justiz RS0006893). Demgemäß konnte der Vater in seinem Rekurs die - nach seinen Behauptungen - erst nach Fällung des Beschlusses erster Instanz ON S4 am 6. Februar 2006 entstandene neue Tatsache geltend machen, dass die Mutter den mj. Marco am 14. Februar 2006 von der bisher besuchten Volksschule abgemeldet und für den 18. Februar 2006 dessen „Verbringung" nach Wien geplant habe. Die zitierte Rsp ist im Geltungsbereich des neuen AußStrG aufrecht zu erhalten, erlaubt doch § 49 Abs 3 AußStrG nunmehr ausdrücklich, das Vorbringen von zur Zeit des Beschlusses noch nicht vorhandenen Tatsachen; diese sind allerdings nur so weit zu berücksichtigen, als sie nicht ohne wesentlichen Nachteil zum Gegenstand eines neuen Antrags - ausgenommen einen Abänderungsantrag - gemacht werden können. Mit Fucik/Kloiber (AußStrG § 49 Rz 5) wird man einen solchen wesentlichen Nachteil jedenfalls schon dann bejahen müssen, wenn eine Gefahr für Minderjährige oder sonstige Pflegebefohlene besteht. Gerade eine solche Gefährdung des Kindeswohls nahm aber das Gericht zweiter Instanz im angefochtenen Beschluss - allerdings bezogen auf den erstgerichtlichen Beschluss ON S8 - an. Dann ist es aber widersprüchlich und nicht zu billigen, dass in ein- und demselben Beschluss eine Gefährdung des Kindeswohls durch die Mutter bejaht wird, diese Gefährdung aber ungeachtet der dargelegten Rechtslage unberücksichtigt bleibt, soweit es um die Genehmigung der elterlichen Vereinbarung über die Obsorge geht. Als weiterer Nachteil iSd § 49 Abs 3 AußStrG ist auch noch zu werten, dass im Vergleich zu der mit dem Beschluss ON S4 getroffenen Entscheidung nach § 177 Abs 3 ABGB, die nur dem Kindeswohl entsprechen muss, die Änderung der Obsorge nach § 176 Abs 1 ABGB nur dann erfolgen kann, wenn sie im Interesse des Kindes nach einem strengen Maßstab dringend geboten ist (Stabentheiner in Rummel³, ABGB Erg Bd § 176 Rz 3 mwN). Somit geht es nicht an, ohne weitere Prüfung der möglichen Beeinträchtigung des Wohls des mj. Marco die im Scheidungsverfahren getroffene Vereinbarung über die Scheidungsfolgen betreffend das Kind zu genehmigen. Vielmehr ist es erforderlich, vor einer neuerlichen Entscheidung die behaupteten das Kind gefährdenden Handlungen der Mutter zu prüfen. Erst auf Grund einer entsprechend verbreiterten Sachverhaltsgrundlage wird das Gericht zweiter Instanz erneut über den Rekurs des Vaters zu entscheiden haben.
2.) Zur vorläufigen Übertragung der Obsorge:
Offenkundig ist der Beschluss erster Instanz so zu verstehen, dass nicht nur die allein ausdrücklich als vorläufig bezeichnete Übertragung der Obsorge an den Vater, sondern auch der Entzug der mütterlichen Obsorge als vorläufige Maßnahme iSd § 107 Abs 2 AußStrG angeordnet wurde. Darin ist ausdrücklich nur von der vorläufigen „Einräumung" der Obsorge die Rede; gemeint ist aber nach den Materialien (ErläutRV zu § 107, 224 BlgNR 22. GP; abgedruckt u.a. bei Fucik/Kloiber, AußStrG 351), worin u.a auch auf die Entscheidung 1 Ob 2155/96k verwiesen wird, offenbar damit auch die gleichzeitige Entziehung der (Mit-)Obsorge eines Elternteils. Wie sich aus § 176 Abs 1 erster Satz ABGB ergibt, sind (nötigenfalls) Verfügungen nach dieser Norm auch von Amts wegen zu treffen (5 Ob 541/91 = RZ 1992/30; Hopf aaO § 176 ABGB Rz 6). § 378a EO (eingefügt mit dem AußStr-BegleitG BGBl I 2003/112) schafft darüber hinaus im Einklang mit der bisherigen Rsp und Lehre ganz allgemein eine ausdrückliche gesetzliche Grundlage dafür, in Außerstreitverfahren, die von Amts wegen eingeleitet werden können, auch von Amts wegen einstweilige Verfügungen zu erlassen [einzuschränken oder aufzuheben] (Sailer in Burgstaller/Deixler-Hübner, EO, Erg § 378a [2004] Rz 3 mwN). Dass der Vater die getroffene einstweilige Verfügung so nicht beantragte, schadet daher nicht.
Dass das Erstgericht der Mutter vorläufig die Obsorge entzog, was das Gericht zweiter Instanz ausdrücklich bestätigte, bekämpft der Vater, der ja im Hauptverfahren deren endgültige Entziehung begehrte, nicht. Soweit er sich auf die Rsp über die engen Voraussetzungen der Entziehung oder Einschränkung der elterlichen Rechte bezieht, übersieht er offenbar, dass er eine solche gerade selbst anstrebt. Das Vorliegen erheblicher Rechtsfragen kann er insoweit nicht aufzeigen. Der im Revisionsrekurs angeführte § 176a ABGB wurde mit dem KindRÄG 2001 beseitigt.
Dennoch beruht die vorläufige Übertragung der Obsorge auf einer aus Gründen der Rechtssicherheit wahrzunehmenden Fehlbeurteilung durch das Gericht zweiter Instanz. Nach § 145 ABGB (idF des KindRÄG 2001; für uneheliche ebenso gemäß § 166 ABGB) ist bei einem ehelichen Kind (wie dem mj. Marco) u.a. dann, wenn einem Elternteil der mit der Obsorge für das Kind gemeinsam mit dem anderen betraut war, die Obsorge ganz oder teilweise entzogen ist, - von Gesetzes wegen, ohne dass es einer gerichtlichen Entscheidung bedürfte - allein mit der Obsorge betraut (Stabentheiner aaO § 145 ABGB Rz 2 mwN). Ein deklarativer Beschluss wäre nach Abs 2 leg cit nur im Fall eines hier nicht gestellten Antrags zu fassen (Stabentheiner aaO). Die Voraussetzungen dieser Norm liegen hier vor, weil einerseits die Übertragung der alleinigen Obsorge auf die Mutter entsprechend der Scheidungsvereinbarung - wie soeben dargelegt - noch nicht rechtskräftig genehmigt ist, weshalb sie vor der vorläufigen Entziehung noch beiden Elternteilen nach § 144 ABGB gemeinsam zukam, andererseits aber die einstweilige Verfügung sofort den - wenn auch unter Umständen nur vorübergehenden Entzug der Obsorge der Mutter bewirkte. Während nämlich grundsätzlich nach § 43 Abs 1 AußStrG Vollstreckbarkeit, Verbindlichkeit der Feststellung oder Rechtsgestaltung eines Beschlusses erst mit dessen (formeller) Rechtskraft eintreten (ErläutRV zu § 43, 224 BlgNR 22. GP; abgedruckt u. a. bei Fucik/Kloiber, AußStrG 118; ebenso Rz 1 zu § 43), soweit nicht nach § 44 AußStrG vorläufig Verbindlich- oder Vollstreckbarkeit zuerkannt wurde, gelten nach ganz herrechender Auffassung auch für die einstweiligen Verfügungen im Außerstreitverfahren die §§ 378 ff EO (Sailer aaO § 378 Rz 4 mwN; G. Kodek in Burgstaller/Deixler-Hübner, EO, § 402 Rz 4). Solche Verfügungen sind daher mit ihrer Zustellung wirksam (Zechner, Exekution zur Sicherstellung und einstweilige Verfügung 250; G. Kodek aaO § 390 Rz 71 mwN). § 145 ABGB greift auch ein, wenn ein mit der gemeinsamen Obsorge betrauter Elternteil an deren Ausübung auch nur vorübergehend gehindert ist, wie etwa der Fall der nur schwer herstellbaren Verbindung zeigt, auch wenn bei unbekanntem Aufenthalt erst eine sechsmonatige Dauer zum Entstehen der alleinigen Obsorge des anderen führt. Daher ist er auch anzuwenden, wenn nur vorläufig die (Mit-)Obsorge entzogen wird.
Das bedeutet aber, dass dem Vater die alleinige Obsorge von Gesetzes wegen seit Zustellung der erstgerichtlichen Provisorialentscheidung allein zustand. Die diesbezügliche Entscheidung des Erstgerichts war daher an sich überflüssig. Soweit allerdings das Gericht zweiter Instanz die vorläufige Obsorge dem Jugendwohlfahrtsträger zuwies, entzog es damit dem Vater (zumindest) die alleinige Obsorge, ohne dass jedoch nach der Aktenlage die Voraussetzungen des § 176 ABGB auch bei ihm vorlägen. Diese Maßnahme würde ja nach der stRsp Dringlichkeit voraussetzen (Stabentheiner aaO § 176 ABGB Rz 13 mwN). Dieses Gericht räumte ja auch selbst ein, über die Umstände beim Vater nichts zu wissen.
Auf die von der Mutter in ihrem Rekurs aufgestellten neuen Behauptungen ist nicht einzugehen, gilt doch für das Provisorialverfahren nach § 402 Abs 4 EO die Exekutionsordnung (wie nunmehr aus § 378a, § 393 Abs 1 und § 402 Abs 3a EO klar hervorgeht:
Sailer aaO § 378a Rz 2) und somit nach dieser Norm iVm § 78 EO und § 482 ZPO das Neuerungsverbot; sollte sie die Ansicht vertreten, es lägen beim Vater Gründe für den Entzug der Obsorge vor, sind solche beim Erstgericht geltend zu machen, das gegebenenfalls - wie dargelegt - auch von Amts wegen nach § 176 ABGB iVm § 107 Abs 2 AußStrG dem Vater ebenfalls die Obsorge entziehen könnte. Seinem außerordentlichen Revisionsrekurs ist demnach auch insoweit Folge zu geben, als die Entscheidungen der Vorinstanzen über die Übertragung der Obsorge ersatzlos zu entfallen haben.
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