European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2016:0010OB00032.16M.0524.000
Spruch:
Der Revision wird teilweise Folge gegeben.
Die Urteile der Vorinstanzen, wovon jenes des Erstgerichts hinsichtlich der Abweisung des Zahlungsbegehrens von 7.400 EUR sA samt dem Zinsenmehrbegehren für den Zeitraum 8. März 2014 bis 8. Oktober 2014 bereits in Rechtskraft erwachsen ist, werden im Umfang des Zuspruchs von 4.600 EUR samt 4 % Zinsen pa seit 9. Oktober 2014 bestätigt.
Die Entscheidung über die auf dieses Teilbegehren entfallenden Verfahrenskosten bleibt der Endentscheidung vorbehalten.
Im Übrigen (im Umfang des Begehrens weiterer 60.400 EUR sA für den Entzug der persönlichen Freiheit in der Zeit vom 12. Juni 2012 bis zum 7. März 2014) werden die Urteile der Vorinstanzen und das diesen vorangegangene Verfahren einschließlich der Klagszustellung als nichtig aufgehoben. Die Klage wird in diesem Umfang an das Landesgericht Innsbruck, das gemäß § 9 Abs 4 AHG zur Verhandlung und Entscheidung über diese bestimmt wird, überwiesen.
Die Kosten des nichtigen Verfahrens werden gegenseitig aufgehoben.
Entscheidungsgründe:
Gegenstand des Verfahrens ist der Anspruch des Klägers auf Haftentschädigung für den in der Zeit vom 29. April 2010 bis 27. Oktober 2010 und von 12. Juni 2012 bis 7. März 2014 erlittenen Entzug der persönlichen Freiheit wegen ungerechtfertigter Haft nach dem strafrechtlichen Entschädigungsgesetz 2005 (StEG 2005). Das dazu geführte Verfahren wurde aufgrund der im April 2010 von seiner ehemaligen Lebensgefährtin C***** J***** erstatteten Anzeige eingeleitet. Die Staatsanwaltschaft Graz ordnete am 29. April 2010 die Festnahme des Klägers wegen Fluchtgefahr (§ 170 Abs 1 Z 2 StPO), Verdunkelungsgefahr (§ 170 Abs 1 Z 3 StPO) sowie Tatbegehungs‑ bzw Ausführungsgefahr (§ 170 Abs 1 Z 4 StPO) an und gründete damals den Tatverdacht auf den Bericht der Polizeiinspektion und die Angaben des Opfers. Über den Kläger wurde am 1. Mai 2010 – nachdem C***** J***** ihre Vorwürfe aufrecht erhalten und er sich, wie schon zuvor, nicht geständig verantwortet hatte, die Untersuchungshaft – aus den Gründen der Verdunkelungs‑ und Tatbegehungsgefahr verhängt. Letzteres wurde mit den einschlägigen Vorverurteilungen (für Taten auch zum Nachteil der C***** J*****) begründet und der dringende Tatverdacht auf die aufrechterhaltene und nachvollziehbare Aussage des als glaubwürdig angesehenen Opfers und die in der Ambulanzkarte des UKH dokumentierten zahlreichen Prellungen gestützt. C***** J***** hielt ihre Aussagen bei einer weiteren Einvernahme am 10. Mai 2010 nicht nur aufrecht, sondern ergänzte sie um zusätzliche Details, so um die Bekanntgabe einer Zeugin. Sie habe am Tag der Tat eine Freundin aufgesucht, der sie den Vorfall erzählt habe. Diese Zeugin bestätigte diese Behauptungen auch in ihrer späteren Einvernahme. Die Untersuchungshaft wurde mit Beschluss vom 17. Mai 2010 fortgesetzt. C***** J***** erschien jedoch am 5. Juni 2010 in alkoholisiertem Zustand beim Journalstaatsanwalt und gab an, sie sei nicht vergewaltigt worden. Diese Rückziehung des Vergewaltigungsvorwurfs widerrief sie aber wiederum in ihrer kontradiktorischen Vernehmung am 14. Juni 2010, bei der sie erklärte, sie sei vom Vater des Klägers eingeschüchtert und aufgefordert worden, die Anzeige zurückzuziehen. Sie hielt damals wieder ihre ursprünglichen Angaben aufrecht. Im Rahmen der Haftverhandlung am 17. Juni 2010 gestand der Kläger dann zu, am Tag der vorgeworfenen Tat doch bei seiner (ehemaligen) Lebensgefährtin gewesen zu sein, und bekannte sich des Vergehens der Körperverletzung für schuldig; er habe sie im Streit geschlagen und getreten, aber nicht bedroht und auch nicht vergewaltigt. Die Untersuchungshaft wurde daraufhin fortgesetzt. In einem Brief vom 21. Dezember 2010 schrieb C***** J***** dem Kläger, dass sie aus Rache etwas „dazuerfunden“ habe; sie könne mit dieser Lüge nicht leben und wäre nun bereit, die Wahrheit zu sagen. Im Rahmen der aufgrund des Enthaftungsantrags des Klägers anberaumten Haftverhandlung am 7. Oktober 2010 widerrief sie (erneut) ihre bisherigen Aussagen zum Vorwurf der Vergewaltigung, blieb aber dabei, dass sie geschlagen und getreten worden sei. Ihre Freundin sagte aus, C***** J***** habe ihr zwar von einer Vergewaltigung erzählt, sie habe aber Zweifel gehabt, weil diese oft lüge. Die Untersuchungshaft wurde (wiederum) wegen Tatbegehungsgefahr fortgesetzt.
Über die Beschwerde des Angeklagten ordnete das Oberlandesgericht Graz mit Beschluss vom 27. Oktober 2010 seine sofortige Enthaftung an. Es führte aus, es sei wegen des Widerrufs der einzig unmittelbaren Zeugin zu den hafttragenden Vorwürfen der aktuell entscheidende Parameter für die Dringlichkeit des Tatverdachts nicht mehr aufrecht. Für das Vergehen der Körperverletzung sei das Vorliegen von Tatbegehungsgefahr zwar grundsätzlich zu bejahen, die Untersuchungshaft aber wegen Unverhältnismäßigkeit gemäß § 173 Abs 1 StPO nicht aufrecht zu erhalten.
In der Hauptverhandlung am 10. November 2010 blieb C***** J***** bei ihrem Widerruf der Vergewaltigungsvorwürfe. Der Schöffensenat des Landesgerichts für Strafsachen Graz sprach mit Urteil vom 10. November 2010 den Kläger des Verbrechens der Vergewaltigung und der Vergehen der gefährlichen Drohung, der Nötigung sowie der versuchten Nötigung schuldig und verurteilte ihn zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren. Das Tatgeschehen leitete der Senat aus den ursprünglichen, logisch nachvollziehbaren und mit der allgemeinen Lebenserfahrung im Einklang stehenden Angaben des Tatopfers C***** J***** ab. Diese habe den Tathergang in insgesamt vier verschiedenen Einvernahmen vor Polizei und Gericht detailreich und im Wesentlichen widerspruchsfrei geschildert. In ihren beiden weiteren Einvernahmen in der Haft- und in der Hauptverhandlung habe sie ganz offensichtlich den Angeklagten schützen wollen und sich in zahlreiche Widersprüche dieser beiden Aussagen zueinander verwickelt, die aber teilweise auch mit den leugnenden Angaben und Schilderungen des Angeklagten in auffallendem Widerspruch gestanden seien.
Die Staatsanwaltschaft erhob Berufung, der Angeklagte seinerseits Nichtigkeitsbeschwerde gemäß § 281 Abs 1 Z 4, Z 5 und Z 5a StPO und für den Fall einer Bestätigung des Schuldspruchs die Strafberufung. Gleichzeitig legte er Beschwerde gegen den Beschluss auf Widerruf der bedingten Strafnachsicht zu 6 Hv 63/06y sowie 6 Hv 164/07b und den Widerruf der bedingten Entlassung zu 1 BE 57/10f jeweils des Landesgerichts für Strafsachen Graz ein. Der Oberste Gerichtshof wies die Nichtigkeitsbeschwerde zurück und leitete die Akten zur Entscheidung über die Berufungen und die Beschwerde dem Oberlandesgericht Graz weiter.
Am 12. Juni 2012 wurde der dazwischen unbekannten Aufenthalts gewesene Kläger neuerlich festgenommen und es wurde über ihn am 14. Juni 2012 die Untersuchungshaft wegen Fluchtgefahr verhängt. Nachdem das Oberlandesgericht Graz in seiner Entscheidung vom 8. August 2012 der Berufung der Staatsanwaltschaft stattgegeben und die Freiheitsstrafe auf vier Jahre angehoben hatte, wurde der Verurteilte noch am gleichen Tag in die Strafhaft übernommen. Der Beschwerde des Angeklagten wurde nicht Folge gegeben.
Am 10. September 2013 stellte der Kläger einen Wiederaufnahmeantrag, den er auf die Verurteilung der C***** J***** zu 8 Hv 75/13p des Landesgerichts für Strafsachen Graz gründete. Diese sei deswegen erfolgt, weil sie wissentlich wahrheitswidrig ausgesagt habe, ihr Vater habe schweren sexuellen Missbrauch an ihr begangen, und ihn damit wissentlich falsch verdächtigt habe. Das in jenem Verfahren eingeholte psychologische Gutachten habe bei ihr eine emotional‑instabile Störung vom Borderline‑Typus bei psychischer Verhaltensstörung durch Alkohol/schädlicher Gebrauch sowie Pseudologia phantastica im Sinne einer Persönlichkeits‑ und Verhaltensstörung/artifizielle Störung festgestellt. C***** J***** wurde daraufhin erneut von jenem psychiatrischen Sachverständigen einer Begutachtung unterzogen. Der Sachverständige bestätigte die vorgenannte Diagnose in seinem Gutachten vom 12. Juni 2014 als weiterhin vorliegend und kam zu dem Schluss, dass sich ein derartiges Zustandsbild nicht in kurzer Zeit entwickle. Daraufhin kam es zur Wiederaufnahme des Verfahrens, zur Nichtigerklärung der Verurteilung und in der Folge zur Enthaftung des Klägers am 7. März 2014.
In einem von der Staatsanwaltschaft beauftragten (weiteren) Gutachten kam eine andere Sachverständige (aus dem Fachgebiet der klinischen Psychologie) zum Ergebnis, dass sich bei C***** J***** persönlichkeitsbedingt derart erhebliche validitätsmindernde Faktoren in ihren verfahrensgegenständlichen Schilderungen zeigten und die Gesamtaussage der Zeugin zu den fraglichen Vorfällen aus aussagepsychologischer Sicht gerichtlich nicht verwertbar sei. Die Staatsanwaltschaft stellte das Verfahren wegen des Verdachts des Verbrechens der Vergewaltigung sowie der Vergehen der gefährlichen Drohung, der Nötigung sowie der versuchten Nötigung gemäß § 190 Z 2 StPO am 20. Juni 2014 ein und brachte gleichzeitig einen Strafantrag wegen des Vergehens der Körperverletzung beim Bezirksgericht Graz‑West ein. In diesem Verfahren wurde der Kläger wegen des Vergehens der Körperverletzung gemäß § 83 Abs 1 StGB schuldig gesprochen und zu einer Freiheitsstrafe von drei Monaten verurteilt.
Zu den Folgen des Freiheitsentzugs:
Nach der Entlassung aus der Untersuchungshaft wollten zum Teil auch enge Freunde nichts mehr vom Kläger wissen. Der Kläger litt an dem Gefühl für eine Tat inhaftiert zu sein, die er nicht begangen hatte und daran, mit Sexualtätern und Pädophilen „in eine Schublade gesteckt“ zu werden. Aufgrund seiner Uneinsichtigkeit als vermeintlicher Sexualstraftäter wurde ihm eine schlechte Stellungnahme ausgestellt. Während einer Begutachtung hatte er sich zwei Wochen in einer Zelle mit einem Vergewaltiger und einem Mörder befunden, war jeden Tag eine Stunde lang aus der Zelle geholt und von Psychologen in einer für ihn unangenehmen Art und Weise befragt worden: so beispielsweise, ob er als Kind seine Eltern beim Sex beobachtet, im Alter von zwölf oder dreizehn Jahren homosexuelle Erfahrungen gemacht habe oder ob es ihn errege, wenn kleine Kinder keine Schamhaare haben. Da der Kläger stets seine Unschuld behauptet hatte, war ihm ein schlechtes Gutachten und eine schlechte Zukunftsprognose ausgestellt worden, was sich so auswirkte, dass ihm keine Ausgänge erlaubt und als Vollzugslockerungen nur Tischbesuche gestattet worden waren. Eine andere mögliche Vollzugslockerung wäre beispielsweise gewesen, außerhalb der Haftanstalt arbeiten zu dürfen. In der auf Sexualstraftäter spezialisierten Haftanstalt bekam der Kläger nur etwa alle drei Monate Besuch von seinen in der Steiermark ansässigen Verwandten. Demgegenüber war er während seiner Haft in Graz jede Woche besucht worden. Der Kläger hatte in der Sonderanstalt keine Möglichkeit, seine Ausbildung zum Maler und Anstreicher zu vollenden und seine Lehrabschlussprüfung abzulegen.
Aufgrund der durch seine Verurteilung herbeigeführten Umstände zog der Kläger nach seiner Enthaftung nach Wien. Er hatte Probleme, sich wieder intim einer Frau zu nähern und in die Gesellschaft einzugliedern; ebenso hatte er Schwierigkeiten am Arbeitsmarkt. Während die Verwandten des Klägers stets an seine Unschuld geglaubt hatten, hatte sich ein Teil der Freunde des Klägers aufgrund der Verurteilung von ihm abgewandt.
Der Kläger begehrt mit seiner Klage 72.400 EUR sA an Haftentschädigung nach dem Strafrechtlichen Entschädigungsgesetz 2005 (StEG 2005) für insgesamt 724 Tage (Über‑)Haft, wobei er einen Ersatzbetrag von 100 EUR pro Tag zugrunde legt. Dazu führte er aus, die Haftung des Bundes sei nicht unangemessen im Sinne des § 3 Abs 2 StEG 2005, weil trotz des Widerrufs seiner ehemaligen Lebensgefährtin, das damals erkennende Gericht zu Unrecht davon ausgegangen sei, dass die Hauptbelastungszeugin, die mit dem Kläger zwei gemeinsame Kinder habe, diesen offenbar vor einer drohenden Verurteilung habe schützen wollen. Warum die Zeugin widerrufen habe, sei vom damaligen Gericht in keiner Weise erhoben worden und einfach eine Annahme getroffen worden, die zu Lasten des Angeklagten ausgelegt worden sei. Es sei bei der Höhe des Ersatzanspruchs zu berücksichtigen, dass der Kläger nicht wegen eines Vermögensdelikts, sondern wegen Vergewaltigung in Haft gewesen sei, wozu er die vorgenannten Umstände schilderte.
Die Beklagte bestritt, beantragte Klagsabweisung und stand auf dem Standpunkt eine Haftung des Bundes für die sogenannte Überhaft habe als unangemessen im Sinn des § 3 Abs 2 StEG zu entfallen. Die Anwendung der differenzierten Ermessensklausel sei insbesondere im Hinblick auf die Unverwertbarkeit der Zeugenaussage der C***** J***** indiziert. Werde eine Zeugenaussage im Laufe des Strafverfahrens unverwertbar, sei dies nach den Erläuterungen geradezu der Paradefall für die Anwendung der Ermessensbestimmungen. Auch seien nicht 100 EUR pro Tag, sondern nach den Bestimmungen des StEG in der Fassung des Budgetbegleitgesetzes 2011 (BGBl I 2010/111; BBG 2011) mindestens 20, höchstens aber 50 EUR pro Tag des Freiheitsentzugs zu ersetzen.
Das Erstgericht sprach dem Kläger einen Betrag von 65.000 EUR samt 4 % Zinsen pa aus 36.200 EUR seit 9. Oktober 2014 und 4 % Zinsen pa aus 65.000 EUR seit 12. März 2015 zu. Das Mehrbegehren über 7.400 EUR sA sowie ein Zinsenmehrbegehren wies es ab. In seiner rechtlichen Beurteilung kam es zum Ergebnis, dass der Kläger grundsätzlich nach § 2 Abs 1 Z 3 StEG Anspruch auf Haftentschädigung habe, weil er nach Bewilligung des Antrags auf Wiederaufnahme des Verfahrens hinsichtlich der Verbrechen der Vergewaltigung, der Vergehen der gefährlichen Drohung, der Nötigung sowie der versuchten Nötigung außer Verfolgung gesetzt und enthaftet worden sei. Es bleibe ohne Einfluss auf seinen Entschädigungsanspruch, wenn ein Kläger wegen einer anderen strafbaren Tat verurteilt worden sei, die nicht zu seiner Verhaftung geführt hätte. Das Erstgericht ging davon aus, dass vorerst auch hinsichtlich des Vergehens der Körperverletzung allein der dringende Tatverdacht hafttragend gewesen sei. Dies gehe schon aus dem Enthaftungsbeschluss des Oberlandesgerichts Graz vom 27. Oktober 2010 hervor und sei auch wegen der einschlägigen Vorstrafen und des fulminant raschen Rückfalls nicht zu bezweifeln. Bis zum Teilgeständnis vom 17. Juni 2010 sei überdies hinsichtlich des Vergehens nach § 83 Abs 1 StGB auch der Haftgrund der Verdunkelungsgefahr gegeben gewesen. Danach wäre die Fortsetzung der Untersuchungshaft allein wegen des Haftgrundes der Tatbegehungsgefahr jedoch mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht erfolgt. Die letztlich verhängte dreimonatige Haftstrafe sei auf die Untersuchungshaft angerechnet worden. Die gesamte darüber hinausgehende Haftzeit, die der Kläger in Untersuchungshaft und später in Strafhaft verbüßt habe, habe daher allein auf dem Verdacht bzw der Verurteilung nach den „Delikten der Vergewaltigung, der Vergehen der gefährlichen Drohung, der (versuchten) Nötigung“ beruht. § 5 Abs 2 StEG 2005 idF BBG 2011 sei aber im vorliegenden Fall nicht anzuwenden, weil § 14 Abs 3 StEG 2005 vorsehe, dass dies nur dann der Fall sei, wenn der Entzug der persönlichen Freiheit nach dem 31. Dezember 2010 begonnen habe. Die Festnahme des Klägers am 29. April 2010 und die Verhängung der Untersuchungshaft am 1. März 2010 sei bereits vor diesem Zeitpunkt erfolgt. Trotz der Unterbrechung zwischen 28. Oktober bis 11. Juni 2012 sei auch für die „zweite“ Haftzeit die Deckelung nach § 5 Abs 2 StEG 2005 idF BBG 2011 nicht anzuwenden, weil aufgrund des gleich gebliebenen strafrechtlich inkriminierten Sachverhalts in Bezug auf die Übergangsbestimmung beide Haftzeiten als Einheit zu sehen seien. Das Erstgericht ging grundsätzlich von einem Ersatzanspruch in Höhe von 100 EUR pro Tag aus, mäßigte ihn aber nach § 3 Abs 2 StEG 2005 für die Zeit der Untersuchungshaft (nicht aber für die Strafhaft) um die Hälfte. Dies begründete es damit, dass eine Entschädigung unangemessen sein könne, wenn ein ursprünglich vorhandenes Beweismittel verloren gehe oder der Freispruch allein aus formalen Gründen erfolge. Im vorliegenden Fall habe die Beweislage ursprünglich einen dringenden Tatverdacht gerechtfertigt; auch seien Haftgründe gegeben gewesen; insbesondere der Haftgrund der Tatbegehungsgefahr aufgrund des überaus raschen Rückfalls und der einschlägigen Vorstrafen, die auch aus Straftaten zum Nachteil der C***** J***** hergerührt hätten, sei sehr ausgeprägt gewesen. Für seine neuerliche Festnahme am 22. Juni 2012 sei der Kläger mitverantwortlich gewesen, weil er seit längerer Zeit unbekannten Aufenthalts gewesen und die Fluchtgefahr daher evident gewesen sei. Zu diesem Zeitpunkt sei aufgrund der Zurückweisung der Nichtigkeitsbeschwerde durch den Obersten Gerichtshof bereits klar gewesen, dass der Kläger eine längere Haftstrafe werde verbüßen müssen. Eine Kürzung erachtete es hingegen bei der Zumessung der Entschädigungsleistung für die erlittene Strafhaft nicht mehr als gerechtfertigt, weil die Verdachtslage zu dem Zeitpunkt als das Opfer seine Aussage revidiert habe, nicht mehr erdrückend gewesen sei. Als Ausgleich für das erlittene Haftübel setzte das Erstgericht in Anwendung des § 273 ZPO die Haftentschädigung mit insgesamt 65.000 EUR fest.
In seinem klagsabweisenden Umfang erwuchs das Urteil des Erstgerichts in Rechtskraft. Der gegen dessen klagsstattgebenden Teil von der Beklagten erhobenen Berufung gab das Berufungsgericht nicht Folge. Es teilte die Rechtsansicht des Erstgerichts, dass es sich um einen „Altfall“ handle, weil die Festnahme oder Anhaltung vor dem 31. Dezember 2010 begonnen habe. Zur Anwendung der differenzierten Ermessensklausel nach § 3 Abs 2 StEG 2005 vertrat es die Auffassung, dass hier, anders als bei den in den Materialien genannten Anwendungsfällen (etwa eines Beweisverwertungsverbots oder eines Verlusts des Beweismittels), die Einstellung darauf zurückzuführen gewesen sei, dass die Glaubwürdigkeit der Zeugin erschüttert gewesen und damit eine Verurteilung des leugnenden Klägers unwahrscheinlich geworden sei. Damit liege kein Fall eines gänzlichen Haftungsausschlusses vor. Von einer geradezu „erdrückenden“ Verdachtslage oder dem Vorliegen gravierender Haftgründe habe bereits ab dem erstmaligen Widerruf des Vorwurfs der Vergewaltigung durch die einzige Belastungszeugin C***** J***** am 5. Juni 2010, jedenfalls aber im Zeitraum nach der Enthaftung des Klägers am 27. Oktober 2010, keine Rede sein können. Der Freiheitsentzug sei zu diesen Zeitpunkten auch nicht (mehr) zur Verhütung weiterer Schäden notwendig gewesen. Damit könne sich die Beklagte nicht beschwert erachten, dass das Erstgericht die differenzierte Ermessensklausel für die gesamte Zeit der Untersuchungshaft, nicht aber für die Zeit der Strafhaft angewendet habe. Das Berufungsgericht erklärte die ordentliche Revision für zulässig, weil Rechtsprechung zur Übergangsregelung des § 14 Abs 3 StEG 2005 fehle.
Mit der gegen diese Entscheidung erhobene Revision strebt die beklagte Partei vorrangig die Aufhebung des Berufungsurteils als nichtig, in eventu dessen Abänderung in eine gänzliche Klagsabweisung an. Eine Anwendung der differenzierten Ermessensklausel sei angesichts der Unverwertbarkeit der Zeugenaussage des Opfers indiziert. § 5 StEG 2005 idF BBG 2011 sei auf die Zweite der Haftzeiten anzuwenden, weil diese nach dem 31. 12. 2010 begonnen habe.
Der Kläger beantragt in seiner Revisionsbeantwortung die Revision zurück‑ bzw abzuweisen und verweist darauf, dass ein Anwendungsfall des § 3 Abs 2 StEG 2005 nicht gegeben sei.
Rechtliche Beurteilung
Die Revision ist wegen der Teilen des Verfahrens und der Vorentscheidungen anhaftenden Nichtigkeit zulässig und in diesem Umfang berechtigt.
1. Zur Nichtigkeit:
1.1. Nach § 9 Abs 4 AHG hat das übergeordnete Gericht ein anderes Gericht gleicher Gattung zur Verhandlung und Entscheidung der Rechtssache zu bestimmen, wenn der Ersatzanspruch unter anderem aus einer Entscheidung eines Oberlandesgerichts abgeleitet wird, das nach den Bestimmungen dieses Bundesgesetzes unmittelbar oder im Instanzenzug zuständig wäre. Dieser Delegierungstatbestand gilt nach § 12 Abs 1 StEG 2005 auch für nach diesem Gesetz erhobene Ansprüche.
Zweck des § 9 Abs 4 AHG ist es, dass alle im Zusammenhang betroffenen Gerichte, aus deren Entscheidungen ein Amtshaftungsanspruch abgeleitet wird, von der Entscheidung über diesen Anspruch (und dessen allfällige verfahrensrechtliche Voraussetzungen) ausgeschlossen sein sollen (RIS‑Justiz RS0056449; vgl zum StEG 2005 [T31]). Im Rahmen der Geltendmachung des Ersatzanspruchs wegen ungerechtfertigter Haft nach dem StEG genügt – weil ein darauf gegründeter Anspruch den Vorwurf eines schuldhaften Handelns nicht voraussetzt – die für einen Freiheitsentzug wirksame Beteiligung (auch) des (Rechtsmittel‑)Gerichts.
Es liegt die Delegierungsvoraussetzung nach dieser Bestimmung etwa auch dann vor, wenn eine vom Landesgericht über den Kläger verhängte Freiheitsstrafe vom Oberlandesgericht reduziert wurde und dieser Ersatzansprüche nicht bloß auf die die reduzierte Strafe übersteigende tatsächlich verbüßte Haft stützt, sondern pauschal auf die „ungerechtfertigte Verurteilung“, womit er sich offensichtlich auch gegen die Entscheidung des Oberlandesgerichts wendet (vgl 1 Nc 43/08a = RIS‑Justiz RS0122240 [T5]).
Entscheiden Gerichte entgegen § 9 Abs 4 AHG über eine auf das AHG oder StEG gegründete Klage, so ist deren Entscheidung und das dieser vorangegangene Verfahren in sinngemäßer Anwendung des § 477 Abs 1 Z 1 ZPO nichtig, sodass die Klage an das gleichzeitig gemäß § 9 Abs 4 AHG zu bestimmende Gericht zu überweisen ist (1 Ob 356/97b; RIS‑Justiz RS0108952). Wenn ein Oberlandesgericht ausgeschlossen ist, ist ein außerhalb dieses Oberlandesgerichtssprengels gelegener Gerichtshof erster Instanz zur Verhandlung und Entscheidung der Rechtssache vom Obersten Gerichtshof zu bestimmen (RIS‑Justiz RS0122240).
1.3. Der Kläger leitet Ersatzansprüche aus dem Entzug seiner persönlichen Freiheit zum Zwecke der Strafrechtspflege und durch eine strafgerichtliche Verurteilung ab. Die dazu führenden Entscheidungen waren aber nicht für die gesamte Dauer allein solche des Landesgerichts für Strafsachen Graz.
Im vorliegenden Fall liegen zwei Perioden des Freiheitsentzugs vor: Von 29. April 2010 bis 27. Oktober 2010 einerseits und von 12. Juni 2012 bis 7. März 2014 andererseits. Am Entzug der Freiheit des Klägers im Jahr 2010 hatte das Oberlandesgericht Graz nicht – jedenfalls nicht zu Lasten des Klägers – mitgewirkt. Vielmehr war er aufgrund dessen Entscheidung wegen Wegfalls des dringlichen Tatverdachts enthaftet, dh wieder in Freiheit gesetzt worden. Die in der Zeit von 29. April 2010 bis 27. Oktober 2010 erlittene Freiheitsbeschränkung wurde damit allein durch Entscheidungen des Landesgerichts für Strafsachen Graz verursacht, sodass das Oberlandesgericht Graz von der Entscheidung des darauf beruhenden Entschädigungsanspruchs nicht ausgeschlossen war. Die von der Beklagten – trotz offenbarer Kenntnis des Ablaufs des Strafverfahrens, wie sich schon aus der Klagebeantwortung ergibt – erstmals in der Revision relevierte Nichtigkeit liegt damit für den für diese Periode geltend gemachten Teil des Klagebegehrens nicht vor.
1.5. Als der Kläger am 12. Juni 2012 festgenommen und am 14. Juni 2012 (wiederum) Untersuchungshaft über ihn verhängt worden war, hatte ein neuerlicher Entzug der persönlichen Freiheit (über die der Kläger ja zwischen seiner Enthaftung im Oktober 2010 bis dahin wiederum verfügt hatte) begonnen. An diesem (zweiten) durchgehenden Freiheitsentzug wirkte das Oberlandesgericht Graz insofern mit seiner Entscheidung vom 8. August 2012 mit, als es der Berufung des Klägers nicht, wohl aber jener der Staatsanwaltschaft stattgab und die Freiheitsstrafe auf vier Jahre anhob, woraufhin der Kläger noch am gleichen Tag in die Strafhaft übernommen wurde. Es sprach zwar nicht über die Verurteilung dem Grunde nach ab, wohl aber über die Dauer seiner Haft. Damit ist auch seine Entscheidung Grundlage des Freiheitsentzugs, womit das Berufungsgericht und daher auch das diesem untergeordnete Landesgericht für Zivilrechtssachen Graz von einer Entscheidung gemäß § 12 StEG iVm § 9 Abs 4 AHG für diese Periode ausgeschlossen waren.
Demnach sind die Urteile der Vorinstanzen und das diesen vorangegangene Verfahren einschließlich der Klagszustellung im Umfang des noch strittigen Begehrens von 60.400 EUR sA (wegen der im Zeitraum von 12. Juni 2012 bis 7. März 2014 erlittenen Haft) als nichtig aufzuheben. Die Klage ist insoweit an ein Landesgericht außerhalb des Sprengels des Oberlandesgerichts Wien, hier das Landesgericht Innsbruck, zu überweisen. Die auch teilweise jene Periode betreffende Abweisung des Klagebegehrens bleibt wegen der insoweit eingetretenen Rechtskraft des Ersturteils aufrecht (RIS‑Justiz RS0007095; RS0041942).
Auf die vom Berufungsgericht aufgeworfene Fragestellung der Anwendbarkeit des § 5 Abs 2 StEG idF des BBG 2011 (BGBl I 2010/111) kann daher nicht eingegangen werden.
2. Zur Bestätigung des Zuspruchs im Umfang von 4.600 EUR sA und zur Anwendung der differenzierten Ermessensklausel nach § 3 Abs 2 StEG 2005:
2.1. Für die in der Zeit von 29. April 2010 bis 27. Oktober 2010 erlittene Untersuchungshaft ging das Erstgericht von einem Ersatzanspruch des Klägers in Höhe von 100 EUR pro Tag (das ergibt für nach Anrechnung der dreimonatigen Freiheitsstrafe verbliebene 92 Tage 9.200 EUR) aus und minderte ihn nach § 3 Abs 2 StEG um 50 %; das Berufungsgericht bestätigte, wie dargelegt, auch den Zuspruch im Umfang von 4.600 EUR sA.
Die Beklagte steht weiterhin auf dem Standpunkt, bei einer im Hinblick auf die Unverwertbarkeit der Zeugenaussage der C***** J***** indizierten richtigen Anwendung der differenzierten Ermessensklausel nach § 3 Abs 2 StEG auf die nicht von der Haftanrechnung betroffenen Haftzeiten (die sogenannte „Überhaft“) habe eine Haftung des Bundes überhaupt zur Gänze zu entfallen. Da deren Aussage erst im Laufe des Strafverfahrens für die Staatsanwaltschaft unverwertbar geworden sei, sei einer der in den Erläuterungen zum StEG 2005 ausdrücklich genannten Anwendungsfälle vorgelegen. Die differenzierte Ermessensklausel könne überdies auch auf die Strafhaft angewendet werden, weil das Gesetz nicht zwischen den einzelnen Gründen für die Haft unterscheide. Zudem sei die Haftung des Bundes schon deshalb unangemessen, weil der Kläger letztlich als Straftäter wegen des Vergehens der Körperverletzung verurteilt worden sei. Der Kläger erwiderte, ein Anwendungsfall des § 3 Abs 2 StEG 2005 sei nicht gegeben.
2.2. Nach § 3 Abs 2 Satz 1 StEG 2005 kann das Gericht im Fall der ungerechtfertigten Haft die Haftung des Bundes mindern oder ganz ausschließen, wenn ein Ersatz unter Bedachtnahme auf die Verdachtslage zur Zeit der Festnahme oder Anhaltung, auf die Haftgründe und auf die Gründe, die zum Freispruch oder zur Einstellung des Verfahrens geführt haben, unangemessen wäre. Die Verdachtslage kann dabei jedoch nach Satz 2 leg cit im Fall eines Freispruchs nach § 259 Z 3 StPO nicht berücksichtigt werden.
Mit der in dieser Bestimmung enthaltenen „differenzierten Ermessensklausel“ soll gänzlich unangemessenen und unbilligen Ergebnissen, bei denen die uneingeschränkte Zuerkennung einer Ersatzleistung – etwa im Hinblick auf eine zunächst erdrückende Beweislage oder bei Vorliegen schwerwiegender Haftgründe – unverständlich wäre, begegnet werden (RIS‑Justiz RS0122966). Die Haftgründe können aber für sich genommen nicht zu einer Mäßigung der Entschädigung nach einem im Sinn des § 3 Abs 2 StEG „qualifizierten“ Freispruch gemäß § 259 Z 3 StPO führen (RIS‑Justiz RS0122966 [T1]; RS0123972). Auch der Schutz der Allgemeinheit durch die verhängte Untersuchungshaft ist kein von der Verdachtslage unabhängiger Grund für die Minderung (1 Ob 257/07m = SZ 2008/58; 1 Ob 263/07v).
Der erste Senat nahm in der Entscheidung 1 Ob 174/10k zur Ermessensklausel ausführlich Stellung und legte dar, dass mit ihr der Judikatur des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR), der die in § 2 Abs 1 lit b StEG 1969 als Voraussetzung für eine Entschädigung geforderte Verdachtsent‑ kräftung als Verstoß gegen die Unschuldsvermutung des Art 6 Abs 2 EMRK kritisiert hatte, Rechnung getragen werden sollte (ErläutRV 618BlgNR XXII. GP 3 ff, 8 f; AB 636 BlgNR XXII. GP 1 ff; Kodek/Leupold in Höpfel/Ratz , WK StGB² § 3 StEG Rz 16; Heissenberger , Haftentschädigung, 166; Eder‑Rieder , StEG 2005, 53). Die Bestimmung unterscheidet dabei nicht zwischen Freisprüchen wegen erwiesener Unschuld und jenen im Zweifel, aber auch nicht zwischen materiellen und formellen Gründen, weil auch der Freispruch für den Fall, dass die der Anklage zugrunde liegende Tat vom Gesetz nicht mit Strafe bedroht ist, umfasst ist. Mit dem in Geltung stehenden Gesetzeswortlaut hatte sich der Gesetzgeber bei der Reformierung des StEG zur Gewährung eines Ersatzanspruchs für ungerechtfertigte Haft (auch) nach einem Freispruch entschlossen, obwohl die EMRK nach der Judikatur des EGMR in solchen Fällen eine Entschädigung gar nicht forderte (ErläuRV aaO 3; Kodek/Leupold aaO Rz 25; Heissenberger aaO 166 f). Während die Rechtsprechung des EGMR nur die Berufung auf die fortbestehende Verdachtslage („ex nunc“) als Verstoß gegen die Unschuldsvermutung beurteilt, stellen die Materialien (ErläutRV aaO 9) ausdrücklich klar, dass bei Freisprüchen nach § 259 Z 3 StPO weder der fortbestehende noch der seinerzeitige Tatverdacht berücksichtigt werden darf. Das muss notwendigerweise auch auf die Gründe, die zum Freispruch nach § 259 Z 3 StPO führten, durchschlagen. Der Gesetzgeber hat damit für einen solchen Freispruch die Berücksichtigung der Verdachtslage stärker eingeschränkt, als es der EGMR in seiner ständigen Judikatur zur Unschuldsvermutung des Art 6 Abs 2 EMRK verlangt (1 Ob 174/10k mwN).
Andererseits sollte nach den Erläuterungen ein Entschädigungsautomatismus bei jedem Freispruch oder [Hervorhebung durch den erkennenden Senat] einer Verfahrenseinstellung vermieden werden. Eine Automatik könne im Einzelfall zu durchaus unangemessenen Ergebnissen führen, etwa dann, wenn ein Freispruch darauf zurückzuführen sei, dass der Verwertung einer Aussage ein nachträgliches Beweisverwertungsverbot entgegenstehe, wenn beispielsweise die geschlagene und verletzte Frau im Strafverfahren gegen ihren Partner wegen des Verdachts der Körperverletzung ihre Aussage zurückziehe, um den Familienfrieden zu retten, wenn ursprünglich vorhandene Beweismittel verloren gingen oder wenn ein Freispruch oder eine Verfahrenseinstellung allein aus formalen Gründen erfolge (ErläutRV aaO 9).
2.3. Der im § 3 Abs 2 StEG 2005 vom Gesetzgeber angeordnete Ausschluss der Berücksichtigung der Verdachtslage (nur dann), wenn die geschädigte Person in einem Strafverfahren gemäß § 259 Z 3 StPO freigesprochen wird, wurde in der Literatur bereits mehrfach kritisiert.
Aufner (Strafrechtliche Entschädigung und ihre mögliche zivilrechtliche Neuordnung – der Entwurf für ein Strafrechtliches Entschädigungsgesetz 2004, in BMJ [Hrsg], Haftung für staatliches Handeln – Richterwoche 2003, 377 [388]) hatte in diesem Zusammenhang schon anlässlich des Entwurfs zum StEG 2005 die „Aufweichung“ der bisher vom StEG angenommenen grundsätzlichen Gleichwertigkeit der verschiedenen Formen der Verfahrensbeendigung (Freispruch oder Außerverfolgungssetzung) betont. Auch Pilnacek (Erläuterungen zum Reformbedarf des Strafrechtlichen Entschädigungsgesetzes, in BMJ [Hrsg], Haftung für staatliches Handeln – Richterwoche 2003, aaO 329 [369]) hielt die Differenzierung zwischen Einstellung und Freispruch vor dem Hintergrund der materiellen Rechtskraftwirkung beider Verfahrensbeendigungen für unsachlich und damit gleichheitsrechtlich bedenklich. Dem stimmen sowohl Lukasch/Schwab ([Zuviel?] Neues zum StEG, RZ 2003, 147 f) als auch Heissenberger (aaO 171 f) zu. Letzterer plädiert dafür, generell nicht auf die Art (Freispruch oder Einstellung), sondern die Gründe (materiell oder formell) der Verfahrensbeendigung abzustellen. Moos hatte schon 1997 (Reformbedürftigkeit des Strafrechtlichen Entschädigungsgesetzes? RZ 1997, 122 ff) eingeräumt, dass der EGMR dem Freispruch eine besondere Wirkung zuerkenne („dass ein förmlicher, rechtskräftiger Freispruch die Unschuld positiv und unwiderleglich feststellt“), eine Differenzierung zwischen Einstellung und Freispruch aber nicht für gerechtfertigt empfunden. Bertel (Zum Strafrechtlichen Entschädigungsgesetz, in Moos/Jesionek/Müller, Strafprozessrecht im Wandel – FS Miklau [2006] 41 [43 f]) spricht sich dementsprechend angesichts des Gleichheitsgrundsatzes für eine verfassungskonforme Auslegung des § 3 Abs 2 Satz 1 StEG aus. Da der Tatverdacht allein ohnehin nicht zu einer Minderung der Haftung führen könne, nähere die verfassungskonforme Auslegung des ersten Satzes die Rechtsstellung des außer Verfolgung Gesetzten jener des Freigesprochenen an. Eine Minderung der Bundeshaftung komme nur in Frage, wenn der Beschuldigte selbst durch sozial inadäquates Verhalten dazu beigetragen habe, dass er in den Verdacht der Straftat geraten sei oder dass ein Haftgrund angenommen worden sei. Der Beschuldigte trage in sozial inadäquater Weise zu seiner Verhaftung bei, wenn er die Tat begangen habe. Bei einem Freispruch dürften die Zivilgerichte im Entschädigungsverfahren nicht mehr prüfen, ob der Ersatzwerber der Täter sei; anders sei dies aber im Fall der Einstellung des Verfahrens, dann sei dem Zivilgericht die Prüfung der Täterschaft nicht verwehrt.
2.4. Ausgehend von diesen Erwägungen kommt ein Ausschluss des Ersatzanspruchs hier nicht in Betracht. Anders als die Beklagte behauptet, wurde kein Beweismittel im Laufe des Verfahrens „unverwertbar“, vielmehr erwies sich die Aussage der Belastungszeugin als nicht mehr glaubwürdig. Ein mit den in den Erläuterungen aufgezählten Fällen wertungsmäßig vergleichbarer Vorgang lag damit nicht vor. Der Kläger wurde nach der Wiederaufnahme von der Staatsanwaltschaft zum Vorwurf der Begehung des Verbrechens der Vergewaltigung und der Vergehen der gefährlichen Drohung, der Nötigung sowie der versuchten Nötigung außer Verfolgung gesetzt, weil nach der Verurteilung der Zeugin und den daraufhin eingeholten weiteren Gutachten der Tatverdacht in einem solchen Ausmaß entkräftet war, dass die Staatsanwaltschaft eine Verurteilung für so unwahrscheinlich hielt, dass es nicht einmal mehr zu einer Anklage kam. Es kann aber dem Regelungszweck der differenzierten Ermessensklausel nicht unterstellt werden, dass sie für einen solchen Fall einen Ersatzwerber schlechter stellen wollte, als in dem Fall, in dem zwar der Tatverdacht immer noch so hoch einzustufen wäre, dass es zu einer Anklage (mit einem dessen ungeachtet nachfolgenden Freispruch) kommt. Sieht daher die Staatsanwaltschaft von der Verfolgung ab, weil mit einer Verurteilung nicht mehr zu rechnen ist, kann es umso weniger zur Berücksichtigung des Tatverdachts kommen.
2.5. Auch die Verurteilung wegen eines anderen Delikts führt nicht zu einer Verminderung der Haftung des Bundes, hat sich doch der Kläger die deswegen auch schon verbüßte Haft ohnehin angerechnet. Die von ihm für den Ersatzanspruch herangezogenen Zeiträume der Freiheitsbeschränkung beruhen allein auf einem Tatvorwurf, zu dem er später außer Verfolgung gesetzt wurde.
2.6. Damit bleibt es beim Zuspruch der für den Zeitraum von 29. April 2010 bis 27. Oktober 2010 zuerkannten Entschädigung von 4.600 EUR sA.
3. Der Kostenvorbehalt beruht zum Teilurteil auf § 50 Abs 1 ZPO und § 52 ZPO, im Übrigen auf § 51 Abs 2 ZPO. Sowohl dem Kläger, als auch der Beklagten waren – wie deren Vorbringen im Verfahren erkennen lassen – die Entscheidungen des Oberlandesgerichts Graz im Strafverfahren bekannt; beide Seiten hätten schon früher auf die für die zweite Periode vorliegende Ausgeschlossenheit hinweisen können (vgl Fucik in Rechberger 4 Rz 4 zu § 51 ZPO; M. Bydlinski in Fasching/Konecny³ § 51 ZPO Rz 10).
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