European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2016:0020OB00207.15B.0412.000
Spruch:
Dem Rekurs wird Folge gegeben.
Der angefochtene Beschluss wird aufgehoben und die Rechtssache an das Berufungsgericht zur neuerlichen Entscheidung zurückverwiesen.
Die Kosten des Rekursverfahrens beim Obersten Gerichtshof bilden weitere Kosten des Neuerungsverfahrens.
Begründung
Im Hauptverfahren , dessen Wiederaufnahme begehrt wird, behauptete die Wiederaufnahmsklägerin und dortige Beklagte die erfolgte Tilgung einer von einer Geschäftspartnerin an die dortige Klägerin und nunmehrige Wiederaufnahmsbeklagte im Rahmen einer Globalzession abgetretenen Forderung durch Aufrechnung mit der Zedentin. Im Beweisverfahren beschränkte sie sich allerdings auf die Vorlage eines diesen Vorgang ankündigenden E-Mails der Mitarbeiterin der Buchhaltung der zedierenden Gesellschaft, S***** S*****, vom 17. 12. 2009 und machte diese nicht auch als Zeugin zum Beweis für die verbuchte Aufrechnung namhaft. Da „in der OP‑Liste per 18. 12. 2009“ aber exakt der Klagsbetrag als Forderung zugunsten der Zedentin enthalten war, konnte das dortige Erstgericht letztlich den Vollzug der Aufrechnung nicht feststellen, weshalb es der Klage der Zessionarin mit Urteil vom 16. 11. 2012 stattgab. Das dortige Berufungsgericht bestätigte diese Entscheidung am 17. 4. 2013, die außerordentliche Revision wurde am 30. 7. 2013 zu 2 Ob 132/13w zurückgewiesen (ON 35, 41 und 44 des Voraktes).
Die Wiederaufnahmsklägerin begehrte mit der am 27. 8. 2013 eingebrachten Klage die Wiederaufnahme des Verfahrens mit der Begründung, sie sei in Kenntnis neuer Tatsachen gelangt bzw habe neue Beweismittel aufgefunden, deren Vorbringen bzw Benützung im Vorverfahren eine günstigere Entscheidung herbeigeführt hätte. Neben diversen Urkunden und der Zeugin S***** wurde auch S***** Sch***** als Zeugin für die tatsächlich erfolgte Aufrechnung namhaft gemacht.
Das Erstgericht bewilligte die Wiederaufnahme wegen der letztgenannten Zeugin, wohingegen es die anderen geltend gemachten Wiederaufnahmsgründe verwarf. Nachdem der Rechtsvertreter der Wiederaufnahmsklägerin das Berufungsurteil im Vorprozess am 23. 4. 2013 zugestellt erhalten habe, habe sich sein Mitarbeiter bei einem Mitarbeiter des Masseverwalters der Zedentin erkundigt, ob er direkt bei der Buchhalterin S***** S***** nachfragen könne, ob diese noch Unterlagen habe. Am 19. 7. 2013 habe er erstmals kurz mit S***** telefoniert und sie, nachdem er nichts mehr von ihr gehört hatte, am 30. 7. 2013 nochmals kontaktiert. S***** habe bekannt gegeben, dass sie noch keine Freigabe für die Übermittlung von Urkunden habe. Diese sei dann am 1. 8. 2013 erfolgt. Am 13. 8. 2013 anlässlich einer Befragung über den Ablauf der Gegenverrechnung habe der Rechtsvertreter der Wiederaufnahmsklägerin erstmals erfahren, dass nicht S***** S*****, sondern die ebenfalls dort arbeitende, aber der Wiederaufnahmsklägerin bis dahin unbekannte S***** Sch***** die konkret umstrittene Aufrechnung vereinbarungsgemäß durchgeführt und verbucht habe. Insoweit folgerte das Erstgericht, sei daher die Klagefrist des § 534 Abs 1 und Abs 2 Z 4 ZPO nicht abgelaufen.
Das Berufungsgericht hob mit dem angefochtenen Beschluss aus Anlass der Berufung der beklagten Partei das Urteil des Erstgerichts und das diesem vorangegangene Verfahren als nichtig auf und wies die Wiederaufnahmsklage zurück. Die Wiederaufnahmsklage sei verfristet. Die Wiederaufnahmsklägerin hätte die im Sommer 2013 stattgehabten Ermittlungen auch schon nach Erhalt des erstinstanzlichen, sie belastenden Urteils im Vorprozess ab November 2012 durchführen können, die Unterlassung sei eine grobe Verletzung der Diligenzpflicht. Es gäbe keinen Hinweis dafür, dass dann das Ergebnis der Ermittlungen anders ausgefallen wäre und der Wiederaufnahmsklägerin daher nicht ebenso innerhalb eines Monats dieselben Urkunden und die Kenntnis der Tätigkeit der Zeugin Sch***** zur Verfügung gestanden wären, weshalb die am 27. 8. 2013 eingebrachte Wiederaufnahmsklage verspätet und damit unzulässig sei.
Dagegen richtet sich der als „Vollrekurs“ bezeichnete Rekurs der Wiederaufnahmsklägerin an den Obersten Gerichtshof. Das Berufungsgericht vermische unzulässig die Diligenzpflicht nach § 530 Abs 2 ZPO und die die Notfrist regelnde Bestimmung des § 534 ZPO, der nur darauf abstelle, wann eine Partei imstande gewesen sei, die bekannt gewordenen Tatsachen und Beweismittel bei Gericht vorzubringen. Dies sei hier in Bezug auf die Zeugin Sch***** aber erst 14 Tage vor der Wiederaufnahmsklage der Fall gewesen. Im Übrigen sei die Zurückweisung der Klage ohne mündliche Verhandlung durch das Berufungsgericht nichtig und liege auch eine Diligenzpflichtverletzung nicht vor.
Die Wiederaufnahmsbeklagte strebt in ihrer Rekursbeantwortung die Bestätigung der berufungsgerichtlichen Entscheidung an.
Rechtliche Beurteilung
Der Rekurs der Wiederaufnahmsklägerin ist zulässig und berechtigt .
1. Wenn das Berufungsgericht unter Nichtigerklärung des erstinstanzlichen Verfahrens und des Urteils die Klage zurückweist, ist sein Beschluss gemäß § 519 Abs 1 Z 1 ZPO stets, also unabhängig vom Streitwert und vom Vorliegen einer erheblichen Rechtsfrage, anfechtbar ( E. Kodek in Rechberger ZPO 4 , § 519 Rz 8; Zechner in Fasching/Konecny ZPO³ IV/1 § 519 Rz 70; 4 Ob 166/09d, 7 Ob 3/10g jeweils mwN).
2. Grundsätzlich ist die Wiederaufnahmsklage ein außerordentliches Rechtsmittel, das den Parteien nicht zu dem Zweck an die Hand gegeben ist, von ihnen in der Prozessführung begangene Fehler im Wege der Wiederaufnahmsklage zu beheben (RIS-Justiz RS0044359, RS0044354). Auch reicht die Prüfung der gesetzlichen Voraussetzungen (Rechtzeitigkeit der Geltendmachung und gesetzliche Zulässigkeit des Anfechtungsgrundes) hinsichtlich eines von mehreren geltend gemachten Wiederaufnahmsgründen für die Entscheidung über die Bewilligung der Wiederaufnahme aus (RIS-Justiz RS0044668; 6 Ob 242/59; vgl auch 4 Ob 123/13m). Eine Wiederaufnahme wegen neu aufgefundener Beweismittel kommt weiters nur dort in Frage, wo im Hauptprozess eine bestimmte Tatsache zwar behauptet wurde, aber nicht bewiesen werden konnte, und die neu aufgefundenen Beweismittel eben den Beweis dieser Tatsache erbringen sollen (RIS-Justiz RS0040999).
Diese Voraussetzungen liegen hier vor, sodass weiter die Frage zu prüfen ist, ob in Bezug auf die Einhaltung der Klagefrist für Wiederaufnahmsklagen eine Diligenzpflicht besteht und ob diese allenfalls von der Wiederaufnahmsklägerin hier verletzt wurde:
3. Nach § 530 Abs 1 Z 7 ZPO kann ein Verfahren, das durch eine die Sache erledigende Entscheidung abgeschlossen worden ist, auf Antrag einer Partei wieder aufgenommen werden, wenn die Partei in Kenntnis von neuen Tatsachen gelangt oder Beweismittel auffindet oder zu benützen in den Stand gesetzt wird, deren Vorbringen und Benützung im früheren Verfahren eine ihr günstigere Entscheidung herbeigeführt haben würde. Nach Abs 2 leg cit ist ua wegen der in Z 7 angegebenen Umstände die Wiederaufnahme nur dann zulässig, wenn die Partei ohne ihr Verschulden außerstande war, die Rechtskraft der Entscheidung oder die neuen Tatsachen oder Beweismittel vor Schluss der mündlichen Verhandlung, auf welche die Entscheidung erster Instanz erging, geltend zu machen.
4. Gemäß § 534 Abs 1 und Abs 2 Z 4 ZPO ist die Wiederaufnahmsklage binnen der Notfrist von vier Wochen zu erheben, die von jenem Tag an zu berechnen ist, an welchem die Partei imstande war, die ihr bekannt gewordenen Tatsachen und Beweismittel bei Gericht vorzubringen.
Diese Bestimmung wird allerdings in Lehre und Rechtsprechung dahin eingeschränkt, dass die Frist erst zu laufen beginnt, wenn eine für den Wiederaufnahmskläger ungünstige Entscheidung ergangen ist (SZ 12/83; 1 Ob 61/07p; E. Kodek in Rechberger ZPO 4 § 534 Rz 5; Jelinek in Fasching/Konecny ZPO² IV/1 § 534 Rz 30 ua). Ist die Wiederaufnahmsklägerin bereits durch die erstinstanzliche Entscheidung im Vorverfahren beschwert, kann zwar weder aus dem Wortlaut des § 534 Abs 2 Z 4 ZPO noch aus dessen erkennbarem Zweck abgeleitet werden, dass die betreffende Partei die Entscheidung des Berufungsgerichts abwarten und erst im Anschluss daran die vierwöchige Frist in Anspruch nehmen könnte (SZ 12/83; 1 Ob 61/07p); dies setzt allerdings schon nach dem Gesetzeswortlaut voraus, dass die Wiederaufnahmsklägerin bereits in diesem früheren Zeitpunkt imstande war, die ihr bekannt gewordenen neuen Tatsachen und Beweismittel bei Gericht vorzubringen.
Die Frist des § 534 Abs 2 Z 4 ZPO nimmt ihren Anfang nämlich erst dann, wenn der Wiederaufnahmskläger die neuen Beweismittel so weit kennt, dass er ihre Eignung für ein allfälliges Verfahren auch prüfen kann (RIS‑Justiz RS0044635). Sie ist nicht von dem Bestehen eines Verdachts, sondern von der Kenntnis einer Tatsache an zu berechnen (RIS‑Justiz RS0044581).
5. Aus dem Fehlen einer dem § 530 Abs 2 ZPO entsprechenden Bestimmung im Zusammenhang mit der auf Kenntnis und nicht auf bloßes Kennenkönnen abstellenden Vorschrift des § 534 Abs 2 Z 4 ZPO folgt nach der Judikatur weiters, dass der Wiederaufnahmskläger nicht verpflichtet ist, nach Schluss der mündlichen Verhandlung im Vorprozess weitere Nachforschungen selbst bei Vorliegen vager, eine Wiederaufnahmsklage für sich nicht rechtfertigender Anhaltspunkte für das Vorliegen eines Wiederaufnahmsgrundes anzustellen (RIS‑Justiz RS0044626; 3 Ob 148/14g, 9 ObA 82/90). Ein Verschulden iSd § 530 Abs 2 ZPO ist somit nur soweit beachtlich, als es die Geltendmachung der Tatsache oder des Beweismittels im Hauptprozess verhinderte. Für den Beginn der Frist des § 534 Abs 2 Z 4 ZPO dagegen ist nur die tatsächliche Kenntnis der Partei maßgeblich ( Jelinek in Fasching/Konecny ZPO² IV/1 § 534 Rz 32). Die Bestimmung stellt nicht auf ein Kennenmüssen ab (RIS‑Justiz RS0044572 [T1]). Auch durch die grundsätzliche Verfügbarkeit eines neuen Beweismittels ändert sich der Kenntnisstand des Wiederaufnahmswerbers nicht in der nach § 534 Abs 2 Z 4 ZPO für den Fristbeginn vorausgesetzten Weise (RIS‑Justiz RS0044646 [T3]).
6. Wenn das Berufungsgericht daher hier meinte, dass die Wiederaufnahmsklägerin bei früheren Nachforschungen auch früher von der Existenz der Zeugin Sch***** erfahren hätte, ändert dies nichts an der Tatsache, dass in Bezug auf diese Zeugin nach der Aktenlage nicht einmal vage Anhaltspunkte bestanden, sondern deren Existenz tatsächlich erst Mitte August 2013 bekannt wurde (weil die Kenntnis des mit Prozessvollmacht ausgestatteten Parteienvertreters der Partei zuzurechnen ist: 10 ObS 371/01h, 4 Ob 123/13m; RIS‑Justiz RS0044790 [T2]), und die Wiederaufnahmsklägerin daher erst ab diesem Zeitpunkt iSd § 534 ZPO imstande war, dieses konkrete Beweismittel bei Gericht vorzubringen.
Mit dem Erstgericht ist daher davon auszugehen, dass insoweit die Wiederaufnahmsklage nicht verfristet ist, sodass die Zurückweisung der Klage durch das Berufungsgericht zu beheben war und dieses daher die Berufung unter Abstandnahme vom Zurückweisungsgrund inhaltlich zu behandeln haben wird.
7. Der Kostenvorbehalt gründet sich auf § 52 ZPO.
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