OGH 1Ob35/15a

OGH1Ob35/15a19.3.2015

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten Hon.‑Prof. Dr. Sailer als Vorsitzenden sowie die Hofräte Univ.‑Prof. Dr. Bydlinski, Mag. Wurzer, Mag. Dr. Wurdinger und die Hofrätin Dr. Hofer‑Zeni‑Rennhofer als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden und gefährdeten Partei Dr. G***** R*****, vertreten durch Dr. Agnes‑Maria Kienast, Rechtsanwältin in Korneuburg, gegen die beklagten Parteien und Gegner der gefährdeten Partei 1. Ärztekammer für Wien, *****, vertreten durch die Backhausen Rechtsanwalts GmbH, Wien, und 2. Wiener Gebietskrankenkasse, *****, vertreten durch die Preslmayr Rechtsanwälte OG, Wien, wegen Handlung und Unterlassung (hier: wegen einstweiliger Verfügung), über den Revisionsrekurs der erstbeklagten Partei und Erstgegnerin der gefährdeten Partei gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts Wien als Rekursgericht vom 7. Jänner 2015, GZ 16 R 231/14d‑16, mit dem der Beschluss des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Wien vom 14. November 2014, GZ 24 Cg 146/14p‑3, teilweise abgeändert wurde, den

Beschluss

gefasst:

 

Spruch:

Der Revisionsrekurs wird, soweit er sich gegen Punkt 2.c) des Beschlusses des Rekursgerichts richtet, zurückgewiesen. Im Übrigen wird ihm nicht Folge gegeben.

Die klagende und gefährdete Partei hat die Kosten ihrer Revisionsrekursbeantwortung vorläufig, die erstbeklagte Partei und Erstgegnerin der gefährdeten Partei die Kosten ihres Revisionsrekurses endgültig selbst zu tragen.

Begründung

Der Kläger und zugleich gefährdete Partei (im Folgenden: Kläger) ist seit Oktober 2007 Facharzt für Frauenheilkunde und Geburtshilfe. Er führt seit 17. 6. 2008 eine Ordination als Wahlarzt in Wien. Seit Jänner 2009 verfügt er über eine Stelle als Vertragsarzt in einem anderen Bundesland. Mit 17. 12. 2007 wurde er in die von der Ärztekammer für Wien, der Erstbeklagten und Erstgegnerin der gefährdeten Partei (im Folgenden: Erstbeklagte), geführte Interessentenliste für das Sonderfach Frauenheilkunde und Geburtshilfe eingetragen. Der Kläger bewarb sich seit Anfang 2008 um insgesamt 18 Stellen als Vertragsarzt der Wiener Gebietskrankenkasse, der Zweitbeklagten und Zweitgegnerin der gefährdeten Partei (im Folgenden: Zweitbeklagte), ohne einen dieser Verträge zu erhalten. Zuletzt erhielt er bei seinen erfolglosen Bewerbungen um eine Kassenplanstelle im Dezember 2013 und im Juli 2014 für seine Tätigkeit als Wahlarzt 1,5 Punkte.

Im Oktober 2014 bewarb sich der Kläger um zwei ausgeschriebene Kassenplanstellen als Facharzt für Frauenheilkunde und Geburtshilfe in Wien. Er verpflichtete sich im Fall seiner Invertragnahme, seine Stelle als Vertragsarzt im anderen Bundesland zurückzulegen. Die Sitzung des Niederlassungsausschusses zur Reihung für diese Kassenplanstellen war für den 13. 11. 2014 vorgesehen, die Sitzung des Vorstands der Erstbeklagten, in der der Beschluss über die Reihung gefällt werden sollte, war für den 18. 11. 2014 anberaumt. Der Invertragnahmeausschuss macht immer wieder von der Möglichkeit eines Umlaufbeschlusses Gebrauch.

Die Beklagten gehen bei der Auswahl und Invertragnahme von Vertragsfachärzten gemeinsam nach vereinbarten Kriterien vor (Präambel Abs 1 der „Richtlinien für die Auswahl und Invertragnahme von Vertragsärzten für Allgemeinmedizin und Vertragsfachärzten gemäß § 6 Abs 1 Gesamtvertrag vom 1. 1. 2011“ = Anlage 2 des Ärzte‑Gesamtvertrags, Verlautbarung Nr 114/2014, ver-öffentlicht auf www.avsv.at , im Folgenden: Richtlinien). In Abschnitt I. der dazugehörigen Anlage vereinbarten die Erstbeklagte und die Zweitbeklagte die Reihungskriterien nach einem bestimmten Punktesystem (im Folgenden: Reihungskriterien). Abschnitt I. Punkt 1. der Anlage lautet:

„I.

Reihungskriterien

Die Reihung der Bewerber erfolgt nach folgenden Kriterien:

1. Berufserfahrung ab Erlangung des ius practicandi als Arzt für Allgemeinmedizin oder als Facharzt.

1.1. Berufserfahrung als angestellter und/oder freiberuflicher Arzt. (...)

0,25 Punkte pro Monat, max. 9 Punkte

1.2. Berufserfahrung als hauptberuflich tätiger Wahlarzt.

Als hauptberuflich gilt eine Wahlarzttätigkeit, sofern nicht gleichzeitig Tätigkeiten in Anstellungsverhältnissen, deren Ausmaß mehr als 20 Wochenstunden betragen, ausgeübt werden. (...)

0,5 Punkte pro Monat, max. 5 Punkte

1.3. Berufserfahrung als Praxisvertreter in Ordinationen mit Verträgen mit Gebietskrankenkassen

1 Punkt pro 15 Vertretungstage, max. 16 Punkte. Vertretungstage in der ausgeschriebenen Planstelle werden mit 1 Punkt pro 10 Vertretungstage berechnet.

1.3.1. Berufserfahrung als Teilhaber eines geteilten Vertrags (Jobsharing) gemäß § 8 Gesamtvertrag (...)

2 Punkte pro Quartal

1.3.2. Berufserfahrung als Vertragsarzt oder Gesellschafter einer Vertragsgruppenpraxis einer Gebietskrankenkasse (...)

1 Punkt pro Quartal

Insgesamt können durch die Punkte 1.3, 1.3.1 und 1.3.2 maximal 16 Punkte erworben werden. (...)

1.4. Berufserfahrungen im Ärztefunkdienst bzw. in analogen Notarztsystemen.

Die Anrechnung erfolgt nur bei Bewerbungen um eine Vertragsarztstelle für Allgemeinmedizin. (...)

0,125 Punkte pro Dienst im Ärztefunkdienst oder einem analogen Notarztsystem, max. 5 Punkte

Nach den unter Abschnitt I. Punkt 1 Ziff. 1.1. bis 1.4. genannten Kriterien können insgesamt maximal 35 Punkte erworben werden.“

Der Kläger, der daneben ein weiteres Begehren stellt, begehrt von der Erstbeklagten die Unterlassung, bei der Reihung der BewerberInnen für die beiden ausgeschriebenen Kassenplanstellen (ua) Punkt 1. der Reihungskriterien insoweit anzuwenden, als er für seine Berufserfahrung als Praxisvertreter und als Vertragsarzt einer anderen Gebietskrankenkasse nur maximal 16 Punkte erwerben könne. Weiters begehrt er von der Zweitbeklagten die Unterlassung, einen Mitbewerber oder eine Mitbewerberin für eine der beiden ausgeschriebenen Kassenplanstellen aufgrund eines Reihungsvorschlags der Erstbeklagten in Vertrag zu nehmen, wenn die Erstbeklagte bei der Reihung der BewerberInnen ihm (ua) für seine Berufserfahrung als Praxisvertreter und als Vertragsarzt einer anderen Gebietskrankenkasse nur maximal 16 Punkte zugeteilt habe. Zur Sicherung der Unterlassungsansprüche beantragt er (soweit für das Revisionsrekursverfahren von Relevanz), der Erstbeklagten die Vornahme einer Reihung und der Zweitbeklagten den Abschluss eines Kassenvertrags unter Anwendung von Punkt 1. der Reihungskriterien, wonach er als Praxisvertreter und als Vertragsarzt nur maximal 16 Punkte erwerben könne, zu verbieten. Punkt 1. der Reihungskriterien zur Berufserfahrung enthalte eine unsachliche Differenzierung zwischen Wahl‑ und Vertragsärzten. Wahlärzte könnten bei einer Praxisvertretung in Ordinationen mit Kassenverträgen bis zu 21 Punkte erzielen, während Vertragsärzte mit 16 Punkten gedeckelt seien.

Das Erstgericht wies ‑ ohne Anhörung der Beklagten ‑ (soweit für das Revisionsrekursverfahren von Bedeutung) den Sicherungsantrag gegen die Beklagten ab, soweit dieser das Reihungskriterium Punkt 1. betrifft. Auch wenn in Punkt 1. der Reihungskriterien bei der Berufserfahrung Wahlärzte gegenüber Kassenärzten benachteiligt würden, könne dies nicht dazu führen, dass der Kläger mehr als eine bestimmte Punkteanzahl erhalten müsse. Denkbar wäre eine Lösung (etwa durch Einbeziehung von Z 1.2. in die Deckelung mit maximal 16 Punkten), wodurch weder einem Wahl‑ noch einem Vertragsarzt mehr Punkte zukommen dürften.

Das Rekursgericht gab dem dagegen erhobenen Rekurs des Klägers insoweit Folge. Zur Sicherung des Unterlassungsanspruchs des Klägers verbot es der Erstbeklagten, eine Reihung der Bewerber und Bewerberinnen für die ausgeschriebenen Kassenplanstellen vorzunehmen, bei der sie Punkt 1. der Reihungskriterien insoweit anwende, als der Kläger für seine Berufserfahrung einerseits als Praxisvertreter, andererseits als Vertragsarzt einer anderen Gebietskrankenkasse nur maximal 16 Punkte erwerben könne, während gleichzeitig hauptberufliche Wahlärzte für diese Tätigkeit bis zu 5 weitere Punkte zusätzlich zur Tätigkeit der Praxisvertretung erwerben könnten, und verbot der Erstbeklagten diesen Reihungsvorschlag zu beschließen und der Zweitbeklagten für die Invertragnahme vorzuschlagen (Punkt 1.c). Es erließ in Punkt 2.c) auch das beantragte Verbot betreffend Punkt 1. der Reihungskriterien (Differenzierung Wahl‑ und Vertragsarzt) gegenüber der Zweitbeklagten. Rechtlich führte es unter Bezugnahme auf § 343 ASVG, die Reihungskriterien‑Verordnung und die zwischen den Beklagten vereinbarten Reihungskriterien aus, unter dem Aspekt „Berufserfahrung“ lasse sich nicht nachvollziehen, dass nach den Reihungskriterien die Berufserfahrung als hauptberuflich tätiger Wahlarzt (Z 1.2.) gesondert mit maximal 5 Punkten bewertet, aber in die Deckelung mit 16 Punkten nicht einbezogen werde. Die Tätigkeit als Wahlarzt mit Praxisvertretung werde insgesamt höher bewertet als eine solche eines Vertragsarztes, selbst wenn dieser Praxisvertretungstätigkeit ausübe. Zudem sei die Tätigkeit eines Wahlarztes mit Praxisvertretung gegenüber einem Vertragsarzt ohnehin höher gewichtet, was sich aus dem Verhältnis der vergebenen Punkte pro Tätigkeitsmonat ergebe. Die Tätigkeit eines Wahlarztes von der Deckelung mit 16 Punkten auszunehmen, sei sachlich nicht gerechtfertigt. Das bedeute, dass Wahlärzten mit Praxisvertretung mehr Berufserfahrung zugestanden werde als Vertragsärzten, selbst wenn diese Praxisvertretungen ausübten. Die Wahlarzttätigkeit sei in die Deckelung mit 16 Punkten einzubeziehen. Das führe dazu, dass weder die frühere Wahlarzttätigkeit des Klägers (mit 1,5 Punkten bewertet), noch die aktuelle, neben der Kassenpraxis ausgeübte Wahlarzttätigkeit zu bewerten sei, weil der Kläger bereits als Vertragsarzt die Höchstpunktezahl von 16 erreicht habe.

Das Rekursgericht sprach aus, dass der Wert des Entscheidungsgegenstands 5.000 EUR, nicht aber 30.000 EUR übersteige und der ordentliche Revisionsrekurs zulässig sei, weil speziell zur sachlichen Rechtfertigung der Differenzierung zwischen Wahl‑ und Vertragsärzten bei der Besetzung von Kassenplanstellen Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs fehle.

Rechtliche Beurteilung

Der vom Kläger beantwortete Revisionsrekurs der Erstbeklagten, mit dem sie die „ersatzlose Aufhebung“ der vom Rekursgericht in Punkt 1.c) und 2.c) erlassenen einstweiligen Verfügung anstrebt, ist hinsichtlich des gegenüber der Zweitbeklagten erlassenen Verbots (Punkt 2.c) unzulässig. Im Übrigen (hinsichtlich der Bekämpfung von Punkt 1.c) ist der Revisionsrekurs aus dem vom Rekursgericht genannten Grund zulässig, aber nicht berechtigt.

1. Das Rekursgericht hat der Zweitbeklagten (von dieser nicht bekämpft) verboten, einen Mitbewerber des Klägers aufgrund eines Reihungsvorschlags der Erstbeklagten in Vertrag zu nehmen, wenn die Erstbeklagte bei Reihung der Bewerber dem Kläger für seine Berufserfahrung als Praxisvertreter und als Vertragsarzt einer anderen Gebietskrankenkasse nur maximal 16 Punkte zugeteilt habe, während sie für hauptberufliche Wahlarzt‑ und Praxisvertretungstätigkeit insgesamt mehr als 16 Punkte zugeteilt habe. Dieses Verbot in Punkt 2.c) des zweitinstanzlichen Beschlusses richtet sich nur an die Zweitbeklagte und nicht an die Erstbeklagte, sodass deren Revisionsrekurs insofern mangels Beschwer zurückzuweisen ist. Die Erstbeklagte zeigt auch nicht auf, dass dadurch ihre rechtlichen Interessen berührt sein könnten.

2. Nach § 343 Abs 1 ASVG erfolgen die Auswahl der Vertragsärzte und ‑ärztinnen der Abschluss der Einzelverträge zwischen dem zuständigen Träger der Krankenversicherung und dem Arzt (die Nennung der weiblichen Form unterbleibt in der Folge, schon im Hinblick auf das Geschlecht des Klägers) nach den Bestimmungen des Gesamtvertrags und im Einvernehmen mit der zuständigen Ärztekammer. Zu diesem Zweck sind gemäß § 343 Abs 1a ASVG auf Vorschlag der Österreichischen Ärztekammer durch Verordnung der Bundesministers für Gesundheit verbindliche Kriterien für die Reihung der Bewerber um Einzelverträge festzulegen. Die ‑ gestützt auf diese Bestimmung erlassene ‑ Reihungskriterien‑Verordnung, BGBl II 2002/487 idF BGBl II 2009/239, schreibt in § 2 Abs 1 Z 1 unter anderem als maßgebliches Auswahlkriterium die fachliche Eignung vor, die aufgrund der Berufserfahrung als Arzt zu beurteilen ist. Dabei sind jedenfalls Tätigkeiten als niedergelassener Arzt, als Praxisvertreter sowie als angestellter Arzt zu berücksichtigen. Zusätzlich können Tätigkeiten als Notarzt oder als Arzt im Bereitschaftsdienst oder eine Tätigkeit im Rahmen einer Lehrpraxis berücksichtigt werden. Nach dem in § 3 Abs 1 Reihungskriterien‑Verordnung festgelegten Punktesystem entfallen auf die fachliche Eignung zwischen 15 und 35 Punkte.

§ 6 Abs 1 des zwischen dem Hauptverband der österreichischen Sozialversicherungsträger (insbesondere für die Zweitbeklagte) und der Erstbeklagten abgeschlossenen Ärzte‑Gesamtvertrags, Verlautbarung Nr 114/2014, ver-öffentlicht auf www.avsv.at , hält fest, dass die Richtlinien für die Auswahl und Invertragnahme von Ärzten für Allgemeinmedizin und Fachärzten Anlage 2 (im Folgenden: Richtlinien) die Ausschreibung freier Vertragsarztstellen, die Auswahl der Bewerber und die Kriterien für die Invertragnahme von Vertragsärzten regeln. Nach § 9 Abs 2 der Richtlinien erfolgt die Reihung der Bewerbungen nach dem unter Berücksichtigung der Reihungskriterien‑Verordnung erstellten Punkteschema gemäß der Anlage zu dieser Vereinbarung. Abschnitt I. Punkt 1. der dazugehörigen Anlage legt die Reihungskriterien für die „Berufserfahrung“ mit den zu vergebenden Punkten fest.

3. Die Reihungsbestimmungen für die Vergabe eines Kassenvertrags dienen den Interessen der Versicherten und dem Schutz der Bewerber mit dem Ziel, dass möglichst der fachlich Bestqualifizierte zum Zug kommen soll (RIS‑Justiz RS0115622 [T2]).

Der Anspruch des Klägers gegenüber der Erstbeklagten und seine Gefährdung sind im Revisionsrekursverfahren kein Streitthema. Strittig ist (allein) die unterschiedliche Punktevergabe für die Tätigkeit als hauptberuflicher Wahlarzt und als Vertragsarzt. Die Erstbeklagte argumentiert, dass es sich dabei um zwei verschiedene Formen der Berufserfahrung handle und die beiden Tätigkeiten nicht vergleichbar seien. Der Vertragsarzt sei unter anderem verpflichtet, das preisgünstigste Medikament zu verschreiben, während der Wahlarzt ein teureres Medikament verordnen könne, mit dem der erhoffte Behandlungserfolg aber vielleicht schneller und mitunter unter besonderer Schonung des Patienten zu erreichen sei. Der Wahlarzt müsse sich um Patienten noch mehr bemühen, bezahlten doch diese seine Leistungen.

Der Kläger hält diesen Argumenten entgegen, dass die Reihungskriterien‑Verordnung nicht zwischen Vertragsarzt‑ und Wahlarzttätigkeit unterscheide. Deren § 2 Abs 1 (Z 1) stelle lediglich auf die fachliche Eignung ab, die aufgrund der Berufserfahrung als Arzt zu beurteilen sei. Die in der Revision angeführten Unterschiede beträfen nicht die fachliche Eignung eines Bewerbers. Die Reihungskriterien unterschieden unsachlich zwischen Wahl‑ und Vertragsärzten.

Dazu hat der Oberste Gerichtshof erwogen:

4.1. Die vom Hauptverband der österreichischen Sozialversicherungsträger mit den örtlich zuständigen Ärztekammern abgeschlossenen Gesamtverträge (§ 341 ASVG) sind samt ihren Zusatzvereinbarungen als Rechtsquellen sui generis anzusehen, deren Zustandekommen zwar nach privatrechtlichen Grundsätzen zu beurteilen ist, die ihrem Inhalt nach jedoch Gesetzen im materiellen Sinn gleichzuhalten sind (RIS‑Justiz RS0115620 [T3]). Soweit Gesamtverträge nach § 341 ASVG die einzelnen Adressaten ohne ihre Zustimmung wie ein Gesetz berechtigen und verpflichten, wirken sie normativ und sind insoweit wie Gesetze nach den Grundsätzen der §§ 6, 7 ABGB auszulegen. In ihrem schuldrechtlichen Teil erfolgt die Auslegung jedoch wie bei einem Vertrag, also nach den Regeln der §§ 914 f ABGB (2 Ob 48/08k; 1 Ob 126/14g, jeweils mwN; RIS‑Justiz RS0124647).

4.2. Mosler (Auswahl der Vertragsärzte und Ärztegesamtvertrag, in Grillberger/Mosler [Hrsg], Europäisches Wirtschaftsrecht und soziale Krankenversicherung [2003], 397 [407]) vertritt die Auffassung, dass die Vorschriften über den Stellenplan und die Vertragsarztauswahl generell zum schuldrechtlichen Teil des Gesamtvertrags zählen. Dieser unterliege ‑ im Unterschied zum normativen Teil ‑ nicht unmittelbar dem aus dem verfassungsrechtlichen Gleichheitssatz abgeleiteten Sachlichkeitsgebot. Wie jeder Vertrag sei der schuldrechtliche Teil des Gesamtvertrags aber am Maßstab des § 879 ABGB zu messen. Gesetz‑ und sittenwidrige Auswahlkriterien in gesamtvertraglich vereinbarten Richtlinien wären daher nichtig. Unabhängig davon, ob man dieser Rechtsansicht folgt oder der Rechtsprechung (RIS‑Justiz RS0115621), wonach die erstbeklagte Ärztekammer an die Grundrechte, insbesondere an den Gleichheitsgrundsatz, gebunden ist und die Vergabe eines Kassenvertrags, die dazu ergehenden Besetzungsvorschläge und die zugrunde liegenden Richtlinien auf objektiven und nachprüfbaren Erwägungen beruhen müssen, die transparent und sachlich gerechtfertigt sind, kommt man zum selben Ergebnis.

4.3. Zentrale Auswahlkriterien müssen jene der persönlichen und fachlichen Kompetenz des Stellenbewerbers sein, weil nur das der Absicht des Gesetzgebers, im Interesse der bestmöglichen Versorgung der Versicherten den bestqualifizierten Bewerber auszuwählen, entspricht (6 Ob 221/13p mwN). Nach § 2 Abs 1 Z 1 Reihungskriterien‑Verordnung ist die fachliche Eignung aufgrund der Berufserfahrung als Arzt zu beurteilen, wobei jedenfalls ‑ ohne Wertung genannt ‑ Tätigkeiten als niedergelassener Arzt, als Praxisvertreter sowie als angestellter Arzt zu berücksichtigen sind. Generell zulässig als Kriterien, die die Qualifikation des Bewerbers in den Vordergrund stellen, sind insbesondere Zeiten ärztlicher Tätigkeit nach der Promotion (zB im Krankenhaus), Zeiten der Vertretung eines Vertragsarztes und Wahlarzttätigkeiten ( Mosler aaO 411; Grillberger/Mosler , Ärztliches Vertragspartnerrecht [2012], 136, jeweils unter Bezugnahme auf den Bescheid der Bundesschiedskommission R 2‑BSK/00 = SSV‑NF 14/A 1).

Abgesehen davon, dass nach Abschnitt I. Punkt 1. der Reihungskriterien die Tätigkeit ausschließlich als hauptberuflich tätiger Wahlarzt mit 5 Punkten gedeckelt ist (Z 1.2.), während als Praxisvertreter (Z 1.3.) oder als Vertragsarzt (Z 1.3.2.) insgesamt maximal 16 Punkte erworben werden können, ohne dass die Berufserfahrung als hauptberuflicher Wahlarzt gegenüber den genannten Tätigkeiten Unterschiede im Tatsächlichen aufwiese, ist es auch unsachlich, dass die Erfahrungen von Wahlärzten mit Praxisvertretung insgesamt höher bewertet werden (maximal 21 Punkte) als die Tätigkeit eines Vertragsarztes, selbst wenn dieser ebenfalls Praxisvertretungstätigkeiten ausübt. Die Erstbeklagte vermag im Hinblick auf die Berufserfahrung auch keine objektiven Unterschiede im Verhältnis hauptberuflicher Wahlarzt und Vertragsarzt zu nennen. Wenn sie eine bessere medizinische Versorgung der Patienten beim hauptberuflichen Wahlarzt in den Raum stellt, ist nicht verständlich, warum dieser für seine Tätigkeit nur maximal 5 Punkte erhalten kann. Der Verordnungsgeber geht erkennbar von der Gleichwertigkeit der in § 2 Abs 1 Z 1 Reihungskriterien‑Verordnung genannten Tätigkeiten aus, ohne zwischen Vertrags‑ und Wahlärzten zu differenzieren. Die insofern in Abschnitt I. Punkt 1. der Anlage (Reihungskriterien) vorgenommene Differenzierung verletzt dieses Prinzip und ist somit sachlich nicht gerechtfertigt. Die Erstbeklagte verstößt mit den von ihr angewendeten Regeln der Punktevergabe entweder gegen § 879 Abs 1 ABGB oder gegen den Gleichheitsgrundsatz, sodass das Rekursgericht zutreffend insoweit dem Sicherungsbegehren ihr gegenüber stattgab. Auf dessen Überlegungen zur Einbeziehung der Wahlarzttätigkeit in die Deckelung mit 16 Punkten braucht mangels Relevanz für das Sicherungsverfahren nicht eingegangen werden.

5. Dem Revisionsrekurs ist daher ein Erfolg zu versagen.

Die Entscheidung über die Kosten des Revisionsrekursverfahrens beruht auf § 393 Abs 1 EO iVm §§ 40 ff ZPO.

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