OGH 11Os135/14h

OGH11Os135/14h9.12.2014

Der Oberste Gerichtshof hat am 9. Dezember 2014 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Schwab als Vorsitzenden sowie die Hofrätinnen des Obersten Gerichtshofs Dr. Bachner‑Foregger, Mag. Michel und Mag. Fürnkranz und den Hofrat des Obersten Gerichtshofs Dr. Oberressl als weitere Richter in Gegenwart der Richteramtsanwärterin Mag. Krampl als Schriftführerin in der Strafsache gegen Ralph‑Günter R***** und Roald R***** wegen des Verbrechens des gewerbsmäßigen schweren Betruges nach §§ 146, 147 Abs 3, 148 zweiter Fall StGB, AZ 4 Hv 38/14x des Landesgerichts Wels, über die von der Generalprokuratur gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts Linz vom 12. September 2014, AZ 9 Bs 260/14w, 9 Bs 267/14z (ON 22 der Hv‑Akten), erhobene Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes nach öffentlicher Verhandlung in Anwesenheit der Vertreterin der Generalprokuratur, Generalanwältin Mag. Wachberger, sowie des Verteidigers beider Angeklagter, Dr. Heigenhauser, zu Recht erkannt:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2014:0110OS00135.14H.1209.000

 

Spruch:

Im Verfahren AZ 4 Hv 38/14x des Landesgerichts Wels verletzt der Beschluss des Oberlandesgerichts Linz vom 12. September 2014, AZ 9 Bs 260/14w, 9 Bs 267/14z (ON 22 der Hv‑Akten), § 364 Abs 1 Z 1 StPO.

Dieser Beschluss wird aufgehoben und den Angeklagten Ralph‑Günter R***** und Roald R***** die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Frist zur Erhebung des Einspruchs gegen die Anklageschrift der Staatsanwaltschaft Wels vom 11. Juni 2014, AZ 2 St 214/08b (ON 11 der Hv-Akten), bewilligt.

Dem Oberlandesgericht Linz wird die (neuerliche) Entscheidung über die Einsprüche der Genannten gegen die Anklageschrift aufgetragen.

Gründe:

In der Strafsache gegen Ralph‑Günter R***** und Roald R***** wegen des Verbrechens des gewerbsmäßigen schweren Betruges nach §§ 146, 147 Abs 3, 148 zweiter Fall StGB, AZ 4 Hv 38/14x des Landesgerichts Wels, wurde die Anklageschrift der Staatsanwaltschaft Wels vom 11. Juni 2014, AZ 2 St 214/08b (ON 11), - aufgrund einer Verfügung der Vorsitzenden vom 13. Juni 2014 (ON 1 S 9 verso) - am 16. Juni 2014 dem (gemeinsamen) Verteidiger der ‑ nicht in Haft befindlichen ‑ Angeklagten (mit Zustellnachweis) und am 24. Juni 2014 auch diesen selbst (zu eigenen Handen) zugestellt. Die jeweils angeschlossene Rechtsbelehrung enthielt unter Punkt 4./ den Hinweis, dass die Anklageschrift auch dem Verteidiger zugestellt werde und sich die ‑ 14‑tägige (§ 213 Abs 2 StPO) ‑ Frist zur Erhebung des Einspruchs nach der zuletzt bewirkten Zustellung richte.

Mit Beschluss vom 6. August 2014, AZ 9 Bs 201/14v (ON 17), wies das Oberlandesgericht die am 7. Juli 2014 eingebrachten Einsprüche der Angeklagten (ON 12) als (verspätet und daher) unzulässig zurück und stellte zugleich (anstatt dies im Sinne der §§ 215 Abs 1, 213 Abs 4 StPO der Vorsitzenden des Schöffengerichts zu überlassen; vgl Birklbauer/Mayrhofer , WK-StPO § 215 Rz 7; vgl auch § 215 Abs 6 StPO) die Rechtswirksamkeit der Anklageschrift fest. Maßgeblich für den Lauf der (daher zum Zeitpunkt der Einbringung der Rechtsbehelfe bereits verstrichenen) Einspruchsfrist sei nur der (hier: frühere) Zeitpunkt der Zustellung der Anklageschrift an den Verteidiger (§ 83 Abs 4 erster Satz StPO); der (überflüssigerweise zusätzlich vorgenommenen) Zustellung an die Angeklagten selbst komme keine fristauslösende Wirkung zu.

In ihren am 8. August 2014 gegen diese Fristversäumnis eingebrachten Anträgen auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand, mit welchen die Einsprüche gegen die Anklageschrift (entbehrlicherweise: Lewisch in WK-StPO § 364 Rz 45; vgl EvBl 1949/245) wiederholt wurden, brachten die Angeklagten vor, ihr Verteidiger habe sich auf die (allen drei Zustellempfängern gleichlautend) erteilte Rechtsbelehrung über den Beginn des Laufes der Einspruchsfrist verlassen. Nach Zustellung der Anklageschrift an den Verteidiger am 16. Juni 2014 habe dessen Kanzleikraft zunächst den 30. Juni 2014 für die Einbringung des Einspruchs im Fristenkalender vorgemerkt; nachdem der Verteidiger von der am 24. Juni 2014 bewirkten Zustellung an die Angeklagten selbst Kenntnis erlangt gehabt habe, sei (auf seine Veranlassung) der Eintrag des letzten Tages der Frist auf den 8. Juli 2014 abgeändert worden. Am 7. August 2014 schließlich sei er vonseiten des Oberlandesgerichts Linz telefonisch darüber unterrichtet worden, dass der - innerhalb einer ab der späteren, nämlich am 24. Juni 2014 (an die Angeklagten selbst), aber nach Ablauf einer ab der früheren, nämlich am 16. Juni 2014 (an den Verteidiger) vorgenommenen Zustellung der Anklageschrift berechneten Frist von 14 Tagen eingebrachte ‑ Rechtsbehelf als verspätet zurückgewiesen worden sei (ON 18).

Mit Beschluss vom 12. September 2014, AZ 9 Bs 260/14w, 9 Bs 267/14z (ON 22), verweigerte das Oberlandesgericht Linz den Angeklagten die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen das Versäumen der Frist zur Erhebung des Einspruchs gegen die Anklageschrift der Staatsanwaltschaft (richtig:) Wels vom 11. Juni 2014, AZ 2 St 214/08b, und wies die dagegen erhobenen Einsprüche ‑ obwohl über diese bereits vor der Einbringung der Restitutionsanträge formell abgesprochen worden war (vgl 9 Os 40/79; RIS-Justiz RS0100229 [T3]) ‑ neuerlich als unzulässig zurück.

Ausgehend von der Richtigkeit des Antragsvorbringens (BS 2 f) folgerte das Oberlandesgericht in rechtlicher Hinsicht, anders als einem unvertretenen Angeklagten (vgl § 213 Abs 2 zweiter Satz StPO) sei dem Verteidiger mit der Anklageschrift keine Rechtsbelehrung zuzustellen. Dieser hätte sich bei der Berechnung der Einspruchsfrist vielmehr ausschließlich am Gesetz (§ 83 Abs 4 erster Satz iVm § 213 Abs 2 erster Satz StPO) und nicht an der vorliegend dennoch (offenbar irrtümlich) übermittelten Rechtsbelehrung zu orientieren gehabt, deren (unrichtigen) Inhalt er zudem bei Gericht hätte hinterfragen können. Da dem Verteidiger die Kenntnis der genannten Bestimmungen zumutbar sei, liege kein unabwendbares oder unvorhergesehenes Ereignis vor, das es ihm unmöglich gemacht hätte, die Frist zur Erhebung des Rechtsbehelfs einzuhalten.

Wie die Generalprokuratur in ihrer zur Wahrung des Gesetzes erhobenen Nichtigkeitsbeschwerde zutreffend ausführt, widerspricht der ‑ den alleinigen Anfechtungsgegenstand bildende (sodass weitere im Verfahren unterlaufene Rechtsfehler auf sich zu beruhen haben: Ratz , WK-StPO § 292 Rz 40; RIS-Justiz RS0122467, RS0120219, RS0123927) ‑ Beschluss des Oberlandesgerichts Linz vom 12. September 2014, AZ 9 Bs 260/14w, 9 Bs 267/14z (ON 22) dem Gesetz:

Rechtliche Beurteilung

Gemäß § 213 Abs 1 StPO hat das Gericht die Anklageschrift dem Angeklagten zuzustellen. Gemäß Abs 2 leg cit hat dieser das Recht, gegen die Anklageschrift binnen 14 Tagen Einspruch bei Gericht zu erheben; darüber ist er ebenso zu informieren wie über die seine Verteidigung betreffenden Vorschriften.

Ist der (hier:) Angeklagte durch einen Verteidiger oder durch eine andere Person vertreten, so ist - wenn keine Ausnahmen normiert sind (vgl § 83 Abs 4 zweiter Satz StPO) - gemäß § 83 Abs 4 erster Satz StPO nur diesem Verteidiger oder Vertreter zuzustellen; die Zustellung an den Angeklagten selbst entfaltet dann keine Rechtswirkungen (RIS-Justiz RS0097275; Fabrizy , StPO 11 § 83 Rz 5; Murschetz , WK-StPO § 83 Rz 2; vgl Achammer , WK-StPO § 58 Rz 19, 49).

Ebendies gilt auch für die Zustellung der Anklageschrift (13 Os 90/10z; Birklbauer/Mayrhofer , WK‑StPO § 213 Rz 8). Nur dann, wenn sich der Angeklagte zum Zeitpunkt deren Einbringens in Haft befindet oder zugleich verhaftet wird, ist gemäß § 213 Abs 3 StPO die Anklageschrift sogleich ihm auszufolgen und seinem Verteidiger zuzustellen; (ausschließlich) in diesem Fall richtet sich die Frist zur Erhebung des Einspruchs nach der zuletzt bewirkten Zustellung.

Die von der Vorsitzenden des angerufenen Schöffengerichts verfügte Zustellung der Anklageschrift an die beiden - auf freiem Fuß befindlichen - Angeklagten war daher ebenso verfehlt wie die diesen und ihrem Verteidiger erteilte Rechtsbelehrung.

Gemäß § 364 Abs 1 StPO ist - neben anderen, hier nicht aktuellen Fällen ‑ den Beteiligten des Verfahrens die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung einer Frist zur Erhebung eines Rechtsbehelfs zu bewilligen, sofern sie ‑ soweit hier relevant ‑ (Z 1) nachweisen, dass es ihnen durch unvorhersehbare oder unabwendbare Ereignisse unmöglich war, die Frist einzuhalten, es sei denn, dass ihnen oder ihren Vertretern ein Versehen nicht bloß minderen Grades zur Last liegt, und (Z 2) sie die Wiedereinsetzung innerhalb von 14 Tagen nach dem Aufhören des Hindernisses beantragen.

Mangelnde Rechtskenntnis des Verteidigers (als iSd § 364 Abs 1 Z 1 StPO „unvorhersehbarer“ oder „unabwendbarer“ Umstand) beruht ‑ angesichts der bei der Beurteilung des Grades der Sorgfaltswidrigkeit heranzuziehenden Maßfigur des gewissenhaften Rechtsanwalts ‑ grundsätzlich auf grober Fahrlässigkeit und bildet daher keinen tauglichen Wiedereinsetzungsgrund (RIS‑Justiz RS0101173; Lewisch , WK‑StPO § 364 Rz 27). Ausnahmsweise kann dies jedoch der Fall sein, wenn die zur Fristversäumnis führende unrichtige Rechtsansicht durch einen Fehler des Gerichts veranlasst wurde (RIS-Justiz RS0098989, RS0101415; Lewisch , WK‑StPO § 364 Rz 30, 33). Dann ist von einem Wegfall des Hindernisses erst zu jenem Zeitpunkt zu sprechen, zu dem der Irrtum entweder tatsächlich erkannt wurde oder ‑ ungeachtet des Gerichtsfehlers ‑ bei pflichtgemäßer Sorgfalt für den Verteidiger erkennbar gewesen wäre (13 Os 151/92; 11 Os 19/12x; 14 Os 17/13a).

Nach den - dem Antragsvorbringen folgenden (BS 2 f) - Sachverhaltsannahmen des Beschlusses wurde der das Versäumen der Einspruchsfrist verursachende Irrtum des Verteidigers über den Zeitpunkt deren Ablaufs durch eine Rechtsbelehrung des Gerichts veranlasst, die (nur) für den - hier jedoch nicht zutreffenden - Fall eines in Haft befindlichen oder festzunehmenden Angeklagten gilt. Da es demnach (immerhin) eine Konstellation gibt, für die das Gesetz den Beginn des Laufes der Einspruchsfrist genau im Sinne dieser ‑ entgegen der Rechtsansicht des Oberlandesgerichts keineswegs überflüssigen, sondern gemäß § 213 Abs 2 zweiter Satz StPO iVm § 83 Abs 4 erster Satz StPO anstelle des jeweiligen Angeklagten ‑ dem Verteidiger erteilten Rechtsbelehrung regelt, musste deren Unrichtigkeit auch einem Rechtskundigen nicht auf den ersten Blick ins Auge fallen (vgl auch die ‑ die Rechtzeitigkeit des Einspruchs nicht in Frage stellende, sondern auf dessen inhaltliche Erledigung antragende ‑ Stellungnahme der Ober-staatsanwaltschaft Linz vom 23. Juli 2014 in den Akten 9 Bs 201/14v). Dass er diesen Irrtum weder bei der Setzung des Fristenvormerks noch bei der Einbringung der Einsprüche erkannte, beruht daher auf einem Versehen bloß minderen Grades.

Erst die Aufklärung des Irrtums durch das Oberlandesgericht am 7. August 2014 konnte demnach die - mit der Antragseinbringung schon am folgenden Tag jedenfalls gewahrte - 14-tägige Frist des § 364 Abs 1 Z 2 StPO auslösen.

Damit lagen alle Voraussetzungen für die Bewilligung der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand vor. Deren Verweigerung mit Beschluss des Oberlandesgerichts Linz vom 12. September 2014, AZ 9 Bs 260/14w, 9 Bs 267/14z (ON 22), bedeutet eine Verletzung des § 364 Abs 1 Z 1 StPO, die den Angeklagten zum Nachteil gereicht. Daher sah sich der Oberste Gerichtshof veranlasst, ihre Feststellung mit konkreter Wirkung zu verknüpfen (§ 292 letzter Satz StPO), den angefochtenen Beschluss ‑ entsprechend dem Antrag der Generalprokuratur auch im Punkt der neuerlichen Zurückweisung der Einsprüche gegen die Anklageschrift ‑ aufzuheben und den Angeklagten die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen das Versäumen der Einspruchsfrist zu bewilligen.

Zu den damit beseitigten Folgen des Versäumnisses (§ 364 Abs 4 zweiter Satz StPO; Lewisch , WK-StPO § 364 Rz 62) zählt auch der ‑ die Rechtsbehelfe zurückweisende und die Rechtswirksamkeit der Anklageschrift feststellende ‑ Beschluss des Oberlandesgerichts Linz vom 6. August 2014, AZ 9 Bs 201/14v (ON 17), das daher über die Einsprüche der Angeklagten (inhaltlich) zu entscheiden haben wird.

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