OGH 9Ob70/14f

OGH9Ob70/14f6.10.2014

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsrekursgericht durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr.

 Hopf als Vorsitzenden, die Hofräte des Obersten Gerichtshofs Hon.‑Prof. Dr. Kuras und Mag. Ziegelbauer, die Hofrätin des Obersten Gerichtshofs Dr. Dehn und den Hofrat des Obersten Gerichtshofs Dr. Hargassner als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Parteien 1. S

***** K*****, 2. mj T***** K*****, 3. A***** K*****, 1. bis 3. wohnhaft in *****, 4. A***** K*****, 5. mj S*****  T*****, 6. mj A***** T*****, 7. mj. Z*****  T*****, 5. bis 7. wohnhaft in *****, alle vertreten durch Lansky Ganzger & Partner Rechtsanwälte GmbH in Wien, wider die beklagte Partei R***** A*****, vertreten durch Karasek Wietrzyk Rechtsanwälte GmbH in Wien, wegen Leistung und Feststellung (Gesamtstreitwert 315.364,36 EUR sA), über den Revisionsrekurs des Beklagten gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts Wien als Rekursgericht vom 26. Jänner 2012, GZ 12 R 160/11d‑55, mit dem der Beschluss des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Wien vom 30. August 2011, GZ 23 Cg 122/09v‑49, teilweise abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2014:0090OB00070.14F.1006.000

 

Spruch:

Dem Revisionsrekurs wird Folge gegeben.

Die Entscheidung des Rekursgerichts wird dahin abgeändert, dass die die Klage zurückweisende Entscheidung des Erstgerichts (Punkt 2) sowie dessen Kostenentscheidung wieder hergestellt werden.

Die klagenden Parteien haben die mit 25.811,35 EUR (darin enthalten 4.301,89 EUR an USt) bestimmten Kosten des Rekurs‑ und des Revisionsrekursverfahrens binnen 14 Tagen zu ersetzen.

 

Begründung:

Mit ihrer Klage begehren die Kläger/innen vom Beklagten Schadenersatz (Unterhalt, Schockschaden, Feststellungsbegehren) mit der Klagsbehauptung, dieser habe in Kasachstan ihre Ehemänner bzw Väter entführt und verschleppt. Zur Zuständigkeit der österreichischen Gerichte machen sie geltend, dass der Beklagte seinen ordentlichen Wohnsitz im Sprengel des angerufenen Gerichts habe. Nachdem sich bei Zustellungsversuchen ergab, dass der Beklagte an den Zustelladressen keinen Wohnsitz mehr hat, wurde nach verschiedenen Zwischenschritten über Antrag der Kläger mit Beschluss vom 27. 8. 2010 ein Abwesenheitskurator nach § 116 ZPO bestellt.

Dieser Abwesenheitskurator erstattete nach Zustellung der Klage eine Klagebeantwortung, in der er die Abweisung der Klage beantragte und zahlreiche inhaltliche Einwendungen erhob. Daraufhin gab der Beklagte bekannt, die nunmehr vertretende Rechtsanwaltskanzlei bevollmächtigt zu haben und ersuchte, in Zukunft alle Zustellungen an diese vorzunehmen. Nun wendete er auch die internationale Unzuständigkeit der österreichischen Gerichte ein. Der maßgebliche Sachverhalt habe sich in Kasachstan ereignet. Eine Heilung dieser Unzuständigkeit sei nicht eingetreten. Der Abwesenheitskurator habe mit ihm keinen Kontakt gehabt und habe auch keine Kenntnis von den maßgeblichen Umständen. Seinen Wohnsitz müsse der Beklagte wegen der Gefahr für sein Leben geheim halten. Er habe Österreich lange vor Klagseinbringung auf Dauer verlassen.

Das Erstgericht erklärte sich als international unzuständig und wies die Klage zurück. Es erachtete als bescheinigt, dass sich der Beklagte im Territorium der Republik Malta aufhält. Die Einlassung des Abwesenheitskurators stelle keine Streiteinlassung im Sinne des Art 24 EuGVVO dar.

Das Rekursgericht gab dem gegen diesen Beschluss erhobenen Rekurs der Kläger Folge, verwarf die Einrede der mangelnden internationalen Zuständigkeit und trug dem Erstgericht die Durchführung des Verfahrens unter Abstandnahme vom gebrauchten Zurückweisungsgrund auf. Im Ergebnis habe das Erstgericht als einzigen bekannten Aufenthaltsort die Republik Malta festgestellt (auch im Zeitpunkt der Gerichtsanhängigkeit). Die EuGVVO sehe eine Prüfpflicht des Gerichts nur bei Nichtteilnahme des Beklagten nach Art 26 EuGVVO vor. Die internationale Zuständigkeit sei über Einrede des Beklagten zu prüfen. Die Zuständigkeit sei hier durch „Einlassung“ in den Rechtsstreit durch den Abwesenheitskurator nach Art 24 EuGVVO begründet. Der Begriff der „Einlassung“ in Art 24 EuGVVO sei gemeinschaftsrechtlich autonom auszulegen. Innerhalb dieses Rahmens sei der Begriff aber durch das österreichische Zivilprozessrecht aufzufüllen. Der Prozesshandlung des zur Interessenwahrung verpflichteten Abwesenheitskurators komme nach österreichischem Recht dieselbe Rechtswirkung zu wie jener eines rechtsgeschäftlich Bevollmächtigten.

Rechtliche Beurteilung

Der gegen diesen Beschluss gerichtete Revisionsrekurs des Beklagten ist zulässig, weil die Frage der Wirkungen der Handlungen des Abwesenheitskurators für die Frage der „Einlassung“ noch nicht ausreichend geklärt war.

Es ist hier zugrundezulegen, dass der Beklagte in Malta einen Wohnsitz nach dem maßgeblichen Recht begründet hatte, und zwar entsprechend den Ausführungen der Vorinstanzen und des Beklagten auch schon im Zeitpunkt der Klagseinbringung. Damit wird eine Frage der internationalen Zuständigkeit der österreichischen Gerichte aufgeworfen, zu deren Lösung die EuGVVO zur Anwendung gelangen kann (EuGH 1. 3. 2005, Owusu C-281/02 , Rn 26).

Hier geht es um eine Zivil‑ und Handelssache, die entsprechend Art 1 der EuGVVO deren Regelungen unterliegt (vgl etwa RIS‑Justiz RS0122818 uva).

Art 2 EuGVVO bestimmt, dass vorbehaltlich der Vorschriften dieser Verordnung Personen, die ihren Wohnsitz im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats haben, ohne Rücksicht auf ihre Staatsangehörigkeit vor den Gerichten dieses Mitgliedstaats zu verklagen sind. In einem anderen Mitgliedstaat können sie nur entsprechend den Abschnitten 2 bis 7 im Kapitel II über die „Zuständigkeit“ verklagt werden (Art 3 EuGVVO).

Art 59 EuGVVO verweist zur Frage der Begründung eines Wohnsitzes auf das Recht des jeweiligen Mitgliedstaats. Danach konnte ein Wohnsitz in Österreich nicht festgestellt werden.

Art 24 EuGVVO (Abschnitt 7) zur Zuständigkeitsbegründung durch Einlassung des Beklagten in den Rechtsstreit sieht vor:

„Sofern das Gericht eines Mitgliedstaates nicht bereits nach anderen Vorschriften dieser Verordnung zuständig ist, wird es zuständig, wenn sich der Beklagte vor ihm auf das Verfahren einlässt. Dies gilt nicht, wenn der Beklagte sich einlässt, um den Mangel der Zuständigkeit geltend zu machen oder ein anderes Gericht aufgrund des Art 22 ausschließlich zuständig ist.“

 

Das Vorbringen des vom Erstgericht für den Beklagten bestellten Abwesenheitskurators enthält keine Einwendungen hinsichtlich der internationalen Zuständigkeit, sodass von einer „Einlassung“ im Sinne des Art 24 EuGVVO auszugehen wäre. Hingegen wird in dem ersten von einem vom Beklagten beauftragten Rechtsvertreter eingebrachten Schriftsatz die Einrede der fehlenden internationalen Zuständigkeit erhoben (zur Zulässigkeit der gleichzeitigen Geltendmachung EuGH 24. 6. 1981, Elefanten Schuh Rs 150/80; Slg 1981, 1671; RIS‑Justiz RS0111191).

Es stellt sich also die Frage, inwieweit dem Beklagten das Verhalten seines Abwesenheitskurators für die Frage der „Einlassung“ im Sinne des Art 24 EuGVVO zuzurechnen ist.

Regelungen zu allfälligen Prozess- Abwesenheitskuratoren finden sich in der EuGVVO nicht. § 116 ZPO sieht insoweit eine umfassende Vertretungsbefugnis im jeweiligen Verfahren vor (RIS‑Justiz RS0107115). Das EuGVVO‑System trifft also auf die Regelungen des österreichischen Zivilprozessrechts über den „Abwesenheitskurator“. Mangels eigener Regelungen der EuGVVO zur Vertretung der Beklagten im Falle der Abwesenheit sind diese beachtlich (vgl zu ähnlichen Fragestellungen einer bloß partiellen Regelung durch die EuGVVO etwa RIS‑Justiz RS0118240; RS0109437 uva; EuGH 17. 11. 2011, Hypoteční banka C‑327/10,Rn 37; 11. 6. 1985, Debaecker und Plouvier Rs 49/84, Slg 1985, 1779, Rn 10 ff).

Inwieweit nun auch die „Einlassung“ eines vom unzuständigen Gericht bestellten Abwesenheitskurators, der nach § 116 ZPO unbeschränkte Vertretungsbefugnis hat und damit eine „Einlassung“ im Sinne des Art 24 EuGVVO ohne unmittelbare Befassung des Beklagten bewirkt, unter Beachtung der Art 47 GRC (Art 6 EMRK) zulässig oder geboten ist, war nicht geklärt (vgl dazu auch EuGH Rs 17. 11. 2011, Hypoteční banka C‑327/10, Rn 18, 29; EuGH Rs Visser 15. 3. 2012 C-292/10).

Ausgehend davon hat der Oberste Gerichtshof mit seinem Beschluss vom 17. Dezember 2012, 9 Ob 15/12i, dem EuGH folgende Fragen zu Vorabentscheidung vorgelegt:

„II. Ist Art 47 GRC dahin auszulegen, dass er einer Verfahrensbestimmung entgegensteht, wonach ein international unzuständiges Gericht einen Abwesenheitskurator für eine Partei, deren Aufenthalt nicht festgestellt werden kann, bestellt und dieser dann durch seine „Einlassung“ verbindlich die internationale Zuständigkeit bewirken kann?

III. Ist Art 24 der Verordnung (EG) Nr 44/2001 des Rates vom 22. 12. 2000 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil‑ und Handelssachen (EuGVVO) dahin auszulegen, dass nur dann eine „Einlassung des Beklagten“ im Sinne dieser Bestimmung vorliegt, wenn die entsprechende Prozesshandlung durch den Beklagten selbst oder einen von ihm bevollmächtigten Rechtsvertreter gesetzt wurde oder gilt dies ohne Einschränkung auch bei einem nach dem Recht des jeweiligen Mitgliedstaates bestellten Abwesenheitskurator?“

 

Der EuGH hat diese Fragen in seiner Entscheidung vom 11. 9. 2014 zu C‑112/13 wie folgt beantwortet:

„Art. 24 der Verordnung (EG) Nr. 44/2001 ... ist im Licht von Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union dahin auszulegen, dass dann, wenn ein innerstaatliches Gericht für einen Beklagten, dessen Wohnsitz unbekannt ist und dem daher das verfahrenseinleitende Schriftstück nicht zugestellt worden ist, nach den innerstaatlichen Rechtsvorschriften einen Abwesenheitskurator bestellt hat und dieser sich auf das Verfahren einlässt, dies nicht einer Einlassung des Beklagten auf das Verfahren im Sinne von Art. 24 dieser Verordnung gleichkommt, die die internationale Zuständigkeit des innerstaatlichen Gerichts begründet.“

Damit hat der EuGH eindeutig die Begründung der internationalen Zuständigkeit durch die Verfahrenseinlassung des Abwesenheitskurators nach Art 24 EuGVVO allgemein verneint. Bei der Frage, inwieweit dies zur Wahrung des Grundrechts der Kläger zur Gewährung eines angemessenen und effektiven Rechtsbehelfs (Art 47 GRC; Art 6 EMRK) geboten wäre oder zur Wahrung des Grundrechts des Beklagten auf rechtliches Gehör (ebenfalls Art 47 GRC; Art 6 EMRK) unzulässig ist, wurde schon bei der Auslegung des Art 24 EuGVVO dem Grundrecht des rechtlichen Gehörs das größere Gewicht zugemessen. Die Frage einer allfälligen Verfassungswidrigkeit der Bestimmungen über den Abwesenheitskurator und der mangelnden Möglichkeit der Rechtsdurchsetzung stellt sich insoweit nicht mehr.

Der Revisionsrekurs des Beklagten erweist sich damit als berechtigt. Es war daher die erstgerichtliche Entscheidung über die Zurückweisung der Klage mangels internationaler Zuständigkeit wiederherzustellen.

Die Entscheidung über die Kosten des Revisionsrekursverfahrens ‑ einschließlich des als Zwischenstreit anzusehenden Verfahrens vor dem EuGH (RIS‑Justiz RS0109758) ‑ und des Rekursverfahrens gründet sich auf die §§ 41, 50 ZPO. Die nationalen Kostenbestimmungen sind anzuwenden (17 Ob 7/10v ua). Mangels abweichender Bestimmung sind daher die Kosten der Beteiligung der klagenden Partei am Verfahren vor dem EuGH nach TP 3C RATG zu bestimmen (4 Ob 98/09d mwN). Der Kostenzuspruch für Schriftsätze ergibt sich aus der Anwendung des (einfachen) Satzes nach TP 3C RATG. Nur für die Teilnahme an der Verhandlung vor dem Gerichtshof gebührt das zweifache Honorar nach TP 3C RATG (17 Ob 3/10f).

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