OGH 8ObA18/14a

OGH8ObA18/14a24.3.2014

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Spenling als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofs Hon.‑Prof. Dr. Kuras und Dr. Brenn sowie die fachkundigen Laienrichter Dr. Reinhard Drössler und Dr. Gerda Höhrhan‑Weiguni als weitere Richter in der Arbeitsrechtssache der klagenden Partei H***** S*****, vertreten durch die Freimüller Obereder Pilz & Partner Rechtsanwälte GmbH in Wien, gegen die beklagte Partei T***** GmbH, *****, vertreten durch Dr. Bernhard Steinbüchler und andere, Rechtsanwälte in St. Florian, wegen 6.032,06 EUR brutto sA, über die Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen vom 25. November 2013, GZ 10 Ra 77/13m‑16, mit dem das Urteil des Arbeits‑ und Sozialgerichts Wien vom 22. März 2013, GZ 39 Cga 152/12a‑12, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Der Revision wird nicht Folge gegeben.

Die klagende Partei ist schuldig, der beklagten Partei die mit 559,15 EUR (darin enthalten 93,19 EUR USt) bestimmten Kosten der Revisionsbeantwortung binnen 14 Tagen zu ersetzen.

Entscheidungsgründe:

Der Kläger war vom 16. 6. 2008 bis April 2013 beim beklagten Arbeitskräfteüberlassungsunternehmen als Angestellter beschäftigt. Auf das Arbeitsverhältnis gelangte der Kollektivvertrag für Angestellte in Handwerk und Gewerbe, in der Dienstleistung, in Information und Consulting zur Anwendung. Der Kläger war einem Unternehmen überlassen, auf dessen Dienstverhältnisse mit seinem (Angestellten‑)Stammpersonal der Kollektivvertrag für Angestellte des Metallgewerbes anzuwenden ist. Dieser Kollektivvertrag enthält drei Teile; Teil II enthält die Mindestgehaltsordnung und Teil III die Ist‑Gehaltsregelung für das jeweilige Kalenderjahr. Die Mindestgehälter werden jährlich in einem bestimmten prozentuellen Ausmaß erhöht, worauf am Beginn der Mindestgehaltsordnung hingewiesen wird. Es findet auch eine jährliche Erhöhung der Ist‑Gehälter statt, wobei das tatsächliche Monatsgehalt für Dezember des Vorjahres um einen bestimmten Prozentsatz zum 1. Jänner eines jeden Jahres erhöht wird; diese Regelung findet sich in Teil III des Beschäftiger‑Kollektivvertrags. Ab Jänner 2010 wandte sich der Kläger (mündlich) an die zuständigen Mitarbeiter der Beklagten und verlangte die Ist‑Lohn‑Erhöhungen nach dem Beschäftiger-Kollektivvertrag. Mit 1. 5. 2010 erreichte er eine Erhöhung seines Entgelts um 1,45 %. Auch ab 1. 1. 2011 erhielt er (rückwirkend) eine Ist‑Gehalts‑Erhöhung, die sich auf 75 % der kollektivvertraglichen Ist‑Gehalts‑Erhöhung belief. Eine derartige Erhöhung erhielt der Kläger auch ab 1. 1. 2012. Dabei nahm die Beklagte die Gehaltserhöhungen für den Kläger jeweils für jene Zeiträume vor, für die sie ihrerseits gegenüber dem Beschäftiger einen (entsprechend erhöhten) Stundensatz verrechnen konnte. Mit E‑Mail vom 19. 12. 2011 verlangte der Kläger von der Beklagten die seiner Ansicht nach ausstehenden Differenzbeträge auch in Textform. Das Klagebegehren steht der Höhe nach außer Streit.

Der Kläger begehrte 6.032,06 EUR brutto sA und brachte vor, dass auf sein Arbeitsverhältnis als überlassene Arbeitskraft sämtliche Entgeltregelungen des Beschäftiger‑Kollektivvertrags anzuwenden seien. Dazu gehöre auch die in diesem Kollektivvertrag vorgesehene Ist‑Gehalts‑Erhöhung. Die Beklagte habe die von ihm geforderten Gehaltserhöhungen in einem zu geringen Ausmaß und verspätet vorgenommen. Mit der vorliegenden Klage mache er ausschließlich seinen Anspruch auf die erwähnte Ist‑Gehalts‑Erhöhung geltend. Die Verjährungs‑ und Verfallsbestimmungen des Beschäftiger‑Kollektivvertrags seien auf sein Dienstverhältnis nicht anzuwenden.

Die Beklagte entgegnete, dass sich die maßgebende Entgeltvorschrift des § 10 Abs 1 Satz 3 AÜG lediglich auf die Mindestentgelte nach dem Beschäftiger‑Kollektivvertrag beziehe. Würde dem Kläger zusätzlich die Ist‑Gehalts‑Erhöhung gewährt, so würde er gegenüber den anderen Dienstnehmern unsachlich bevorzugt. Entgegen der Ansicht des Klägers seien auf seine Entgeltansprüche die Verjährungs‑ und Verfallsbestimmungen des Beschäftiger‑Kollektivvertrags anzuwenden. Die geltend gemachten Ansprüche seien daher auch verfallen.

Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab. Nach § 10 Abs 1 Satz 3 AÜG habe der Kläger nur Anspruch auf das kollektivvertragliche Mindestentgelt laut Kollektivvertrag des Beschäftigerbetriebs, sofern das Grundentgelt nicht höher sei. Im Beschäftigerbetrieb gezahlte überkollektivvertragliche Ist‑Gehälter hätten außer Betracht zu bleiben; die Ist‑Gehalts‑Erhöhung sei nicht von der Regel des § 10 Abs 1 Satz 3 AÜG erfasst. Schließlich seien die geltend gemachten Ansprüche auch verfallen. Der Kläger könne nicht die „Rosinentheorie“ für sich in Anspruch nehmen. Die Entgeltansprüche könnten auch nicht von den jeweils geltenden Verjährungs‑ und Verfallsbestimmungen des Kollektivvertrags getrennt werden. Entgegen der Ansicht des Klägers habe sie durch die dem Kläger gewährten Gehaltserhöhungen den von ihm geltend gemachten Anspruch auf jährliche Ist‑Gehalts‑Erhöhung nicht dem Grunde nach anerkannt.

Das Berufungsgericht bestätigte diese Entscheidung und verwies im Wesentlichen auf die rechtlichen Ausführungen des Erstgerichts. Auch unter dem Gesichtspunkt der Umsetzung der Leiharbeits-Richtlinie 2008/104/EG durch Novellierung des AÜG mit BGBl I 2012/98 (ab 1. 1. 2013) ergebe sich keine andere Beurteilung. Von dem in Art 5 Abs 1 der Richtlinie normierten Gleichbehandlungsgebot könnten die Mitgliedstaaten gemäß Abs 2 und Abs 3 leg cit abweichen. Nach den Gesetzesmaterialien stelle auch ein bestehender Überlasser‑Kollektivvertrag eine Abweichung nach Art 5 Abs 3 der Leiharbeits-Richtlinie dar. Der Frage, ob der zugrunde liegende Überlasser‑Kollektivvertrag als solche Abweichung in Betracht komme und den dafür erforderlichen Gesamtschutz der überlassenen Arbeitskräfte berücksichtige, komme im Anlassfall keine Bedeutung zu, weil sich der Kläger nur auf den für den Beschäftigerbetrieb geltenden Kollektivvertrag stütze. Zur Beurteilung des (bejahten) Verfalls könne ebenfalls auf die Ausführungen des Erstgerichts verwiesen werden. Die ordentliche Revision sei zulässig, weil zur Frage, ob § 10 Abs 1 AÜG einen Anspruch des überlassenen Arbeitnehmers auf im Beschäftiger‑Kollektivvertrag vorgesehene Ist‑Lohn-Erhöhungen vorsehe, höchstgerichtliche Rechtsprechung fehle.

Gegen diese Entscheidung richtet sich die Revision des Klägers, die auf eine Stattgebung des Klagebegehrens abzielt.

Mit ihrer Revisionsbeantwortung beantragt die Beklagte, das Rechtsmittel der Gegenseite zurückzuweisen, in eventu, diesem den Erfolg zu versagen.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist zulässig, weil eine Klarstellung der Rechtslage durch den Obersten Gerichtshof geboten erscheint. Die Revision ist aber nicht berechtigt.

1.1 Der Kläger macht ausschließlich einen Anspruch auf die ‑ seiner Ansicht nach zwingende ‑ jährliche Ist‑Gehalts‑Erhöhung nach dem Beschäftiger‑Kollektivvertrag geltend. Im Anlassfall geht es nicht um die Anpassung des vereinbarten Überlassungslohns an das Lohnniveau im Beschäftigerbetrieb oder an das Mindestentgelt nach dem Beschäftiger‑Kollektivvertrag. Nach dem Vorbringen des Klägers ist davon auszugehen, dass auch ohne die begehrte jährliche Ist‑Gehalts-Erhöhung das jeweilige Mindestentgelt nach dem Beschäftiger‑Kollektivvertrag (und ebenso das Grundentgelt nach dem Überlasser‑Kollektivvertrag) nicht unterschritten wird. Das Begehren bezieht sich somit nicht auf den kollektivvertraglichen Mindestlohnanspruch, sondern auf die jährliche Erhöhung der überkollektivvertraglichen Entlohnung.

1.2 Der Kläger steht auf dem Standpunkt, dass nach § 10 Abs 1 Satz 3 AÜG nicht nur kollektivvertragliche Mindestentgelte, sondern auch ortsübliche überkollektivvertragliche Ist‑Entgelte zu berücksichtigen seien und daher auch die jährliche Erhöhung des konkreten Ist‑Lohns (als kollektivvertraglicher Mindeststandard) unter den Begriff des „kollektivvertraglichen Entgelts“ falle.

Mit diesen Überlegungen ist der Kläger nicht im Recht.

2.1 § 10 AÜG regelt die Ansprüche der überlassenen Arbeitskraft. § 10 Abs 1 bezieht sich dabei auf das Entgelt. Mit Satz 1 und Satz 2 dieser Bestimmung wird der schon vor einer Überlassung zwischen Überlasser und Arbeitskraft zu vereinbarende Grundanspruch (das überlassungsunabhängige Grundentgelt) inhaltlich geregelt. Satz 3 trifft demgegenüber eine ergänzende Regelung für die Dauer der Überlassung (9 ObA 196/91).

Nach § 10 Abs 1 Satz 1 AÜG hat die Arbeitskraft Anspruch auf ein angemessenes, ortsübliches Entgelt, das mindestens einmal monatlich auszuzahlen und schriftlich abzurechnen ist. Nach § 10 Abs 1 Satz 2 AÜG bleiben Normen der kollektiven Rechtsgestaltung, denen der Überlasser unterworfen ist, unberührt. Mit der Wendung „angemessen, ortsüblich“ in Satz 1 werden die nur für den Fall des Fehlens einer kollektivvertraglichen Entgeltregelung heranzuziehenden Kriterien angesprochen. Für das Grundentgelt ist damit in erster Linie eine für den Überlasserbetrieb geltende kollektivvertragliche Regelung maßgebend. Dabei ist davon auszugehen, dass ein für den Überlasserbetrieb normativ geltender Kollektivvertrag die Angemessenheit des überlassungsunabhängigen Grundentgeltanspruchs der Arbeitskraft konkretisiert. Lediglich dann, wenn kein Kollektivvertrag für den Überlasserbetrieb besteht, ist der Grundanspruch nach Satz 1 zu bestimmen (9 ObA 196/91). Mit Satz 2 wird demnach ein Vorrang des normativ anzuwendenden Überlasser-Kollektivvertrags festgelegt (vgl 9 ObA 33/13p).

2.2 Wie schon angeführt, handelt es sich bei § 10 Abs 1 Satz 3 AÜG um eine ergänzende Regelung für das Entgelt für die Dauer der Überlassung. Nach dieser Bestimmung ist bei Beurteilungen der Angemessenheit für die Dauer der Überlassung auf das im Beschäftigerbetrieb vergleichbaren Arbeitnehmern für vergleichbare Tätigkeiten zu zahlende kollektivvertragliche (oder gesetzliche) Entgelt Bedacht zu nehmen. Nach dem durch BGBl I 2012/98 eingefügten letzten Satz in § 10 Abs 1 AÜG ist auch auf die im Beschäftigerbetrieb für vergleichbare Arbeitnehmer mit vergleichbaren Tätigkeiten geltenden sonstigen verbindlichen (Entgelt‑)Bestimmungen allgemeiner Art Bedacht zu nehmen, außer es besteht ein Überlasser‑Kollektivvertrag sowie eine kollektivvertragliche, gesetzliche oder durch Verordnung festgelegte Entgeltregelung für den Beschäftigerbetrieb (s dazu Schörghofer , Zur Umsetzung der Leiharbeits‑RL im AÜG, ZAS 2012/61, 336).

In Rechtsprechung und Literatur ist anerkannt, dass durch die in Rede stehende Bestimmung die Entgeltansprüche weitgehend jenen der Stammarbeitnehmer angepasst werden. Eine Angleichung an die im Beschäftigerbetrieb gezahlten überkollektivvertraglichen Ist‑Löhne für die Dauer der Beschäftigung sieht das Gesetz jedoch nicht vor. Eine gänzliche Harmonisierung des Lohnniveaus zwischen Überlasser und Beschäftiger ist im Bereich der Arbeitskräfteüberlassung somit nicht angeordnet (RIS‑Justiz RS0050789; 9 ObA 111/07z; Schindler in Zeller Kommentar 2 § 10 AÜG Rz 2 und 4; Tomandl , Arbeitskräfteüberlassung 86).

Im gegebenen Zusammenhang wurde zuletzt in der Entscheidung 9 ObA 33/13p ausgesprochen, dass nach § 10 Abs 1 Satz 3 AÜG für die Dauer der Überlassung auf das an Arbeitnehmer des Beschäftigerbetriebs für vergleichbare Arbeiten zu zahlende kollektivvertragliche Mindestentgelt Bedacht zu nehmen ist, sofern dieses höher ist als das Grundentgelt. Entgegen der Ansicht des Klägers ist unter „kollektivvertaglichem Entgelt“ somit ausschließlich das kollektivvertragliche Mindestentgelt zu verstehen. Dies entspricht der ständigen Rechtsprechung, wonach § 10 Abs 1 Satz 3 AÜG nach dem klaren Wortlaut unter Bedachtnahme auf die Gesetzesmaterialien für die Dauer der Überlassung keine Angleichung an die im Beschäftigerbetrieb gezahlten überkollektivvertraglichen Ist‑Löhne vorsieht (vgl RIS‑Justiz RS0050688).

2.3 Ausgehend von diesen Grundsätzen zum Schutz der Arbeitskraft für die Dauer der Überlassung ergibt sich für den Anlassfall, dass überkollektivvertragliche Ist‑Löhne im Beschäftigerbetrieb nicht in den Schutzbereich des § 10 Abs 1 Satz 3 AÜG fallen. Dies gilt gleichermaßen für periodische Ist‑Lohn‑Erhöhungen laut Beschäftiger‑Kollektivvertrag auf überkollektivvertragliche Entgelte. Dementsprechend hat der Kläger keinen Anspruch auf die jährliche Ist‑Gehalts‑Erhöhung nach Teil III des Beschäftiger‑Kollektivvertrags auf sein jeweils überkollektivvertragliches Gehalt.

2.4 Die vom Kläger zitierte Aussage in der Entscheidung 9 ObA 196/91, wonach „auch eine ortsübliche Überzahlung des kollektivvertraglichen Mindestentgelts zu berücksichtigen ist“, bezieht sich auf das Mindestentgelt in einem möglichst sacheinschlägigen, also ähnlichen Kollektivvertrag aufgrund des Umstands, dass ein normativ (unmittelbar) anzuwendender Überlasser‑Kollektivvertrag nicht besteht. Im Anlassfall geht es aber weder um die Festsetzung des Grundentgelts noch fehlt es an einem anzuwendenden Überlasser‑Kollektivvertrag. Der Kläger kann sich daher nicht auf die subsidiäre Regelung des Überlassungslohns nach § 10 Abs 1 Satz 1 AÜG stützen.

3.1 Auch unter dem Gesichtspunkt der Leiharbeits‑Richtlinie 2008/104/EG ergibt sich kein anderes Ergebnis.

Nach dem in Art 5 Abs 1 der Richtlinie normierten Gleichbehandlungsgebot sollen Leiharbeitskräfte in Bezug auf die wesentlichen Arbeits‑ und Beschäftigungsbedingungen so behandelt werden, wie Arbeitnehmer, die unmittelbar im Beschäftigerbetrieb eingestellt worden wären. Gemäß der Definition in Art 3 Abs 1 lit f der Richtlinie bezeichnet der Ausdruck „wesentliche Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen“ die Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen, die durch Gesetz, Verordnung, Verwaltungsvorschrift, Tarifvertrag und/oder sonstige verbindliche Bestimmungen allgemeiner Art, die im entleihenden Unternehmen gelten, festgesetzt sind und sich auf das Arbeitsentgelt beziehen. Darunter fallen zweifellos auch Entgeltregelungen für Stammarbeitnehmer nach dem Beschäftiger‑Kollektivvertrag.

3.2 Art 5 Abs 2 und vor allem Abs 3 der Leiharbeits‑Richtlinie sehen jedoch bestimmte Möglichkeiten für die Mitgliedstaaten vor, von dem in Art 5 Abs 1 normierten Gleichbehandlungsgebot abweichende Regelungen zu treffen.

Von der Möglichkeit zur Abweichung vom Gleichbehandlungsgebot durch Kollektivvertrag (Art 5 Abs 3 der Richtlinie) hat der österreichische Gesetzgeber in Bezug auf das Entgelt in § 10 Abs 1 letzter Satz AÜG (vgl auch Abs 3) Gebrauch gemacht. Eine solche Abweichung setzt einerseits einen Überlasser‑Kollektivvertrag und andererseits eine kollektivvertragliche, gesetzliche oder durch Verordnung festgelegte Regelung des Entgelts im Beschäftigerbetrieb voraus. In den Gesetzesmaterialien (RV 1903 BlgNR XXIV. GP 3) wird dazu Folgendes ausgeführt: „Ein Abweichen durch Kollektivvertrag entsprechend der gemäß Art 5 Abs 3 der Leiharbeits-Richtlinie zulässigen Öffnungsklausel ist jedoch möglich, sofern unter Beachtung des Art 5 Abs 5 weder der Gesamtschutz der überlassenen Arbeitskräfte noch die Situation der Arbeitnehmer/innen in den Beschäftigerbetrieben verschlechtert werden. Bestehende Überlasser‑Kollektivverträge gelten als solche Abweichung, sofern auch für den jeweiligen Beschäftiger eine normativ zwingende, überbetriebliche Entgeltregelung besteht.“

Nach den Materialien genügt auf Seiten des Überlassers somit jeder bestehende Überlasser-Kollektivvertrag für eine Abweichung. Auf sogenannte Referenzzuschläge (vgl aber Ercher‑Lederer, Neues aus der Gesetzgebung: Besserer Schutz für Leiharbeitskräfte ZAS 2013/19, 108) kommt es nicht zwingend an. Schörghofer (Zur Umsetzung der Leiharbeits RL im AÜG, ZAS 2012/61, 342) stellt im gegebenen Zusammenhang die Frage, ob andere Kollektivverträge als jener für das Gewerbe der Arbeitskräfteüberlassung die Voraussetzung der Beachtung des Gesamtschutzes der überlassenen Arbeitskraft erfüllen.

3.3 Auch bei der in Art 5 Abs 3 (vgl Erwägungsgrund 16) der Leiharbeits-Richtlinie angesprochenen Achtung des Gesamtschutzes der Leiharbeitnehmer kommt den Sozialpartnern ein großer Ermessensspielraum zu (vgl EuGH C‑141/11 Rn 32; C‑297/10 Rn 66). Schon aus Art 152 Abs 1 AEUV ergibt sich, dass die Union die Autonomie der Sozialpartner unter Berücksichtigung der Unterschiedlichkeit der nationalen Systeme achtet (EuGH C‑172/11 Rn 50; C‑271/08 Rn 39; 8 ObA 20/12t).

Der Anlassfall betrifft das Stadium während der Überlassung. Nach dem Konzept des AÜG kommt es in dieser Hinsicht für den Gesamtschutz nicht nur auf den Überlasser‑Kollektivvertrag, sondern zudem auf die Regelungen im Beschäftigerbetrieb an. Nach § 10 Abs 3 AÜG gelten in Bezug auf Arbeitszeit und Urlaub die für den Beschäftigerbetrieb maßgebenden allgemeinen Regelungen. In Bezug auf das Entgelt steht dem Leiharbeitnehmer jedenfalls das für den Beschäftigerbetrieb festgesetzte kollektivvertragliche Mindestentgelt zur Verfügung. Eine Missachtung des in der Leiharbeits‑Richtlinie nur allgemein beschriebenen Gesamtschutzes ist darin nicht zu erkennen. Auch der Kläger, der seine Argumentation in Wirklichkeit nur auf § 10 Abs 1 Satz 3 AÜG stützt, vermag Derartiges nicht darzulegen.

3.4 Im Anlassfall sind die in § 10 Abs 1 letzter Satz AÜG für eine Abweichung vom unionsrechtlichen Gleichbehandlungsgebot genannten Voraussetzungen erfüllt. Auch in der Leiharbeits‑Richtlinie bzw dem vom Kläger angesprochenen Gebot zur richtlinienkonformen Interpretation findet seine Argumentation somit keine Grundlage.

3.5 Die Anregung des Klägers auf Einleitung eines Vorabentscheidungsverfahrens beim Gerichtshof der Europäischen Union war nicht aufzugreifen. Die Auslegung von Bestimmungen des nationalen Rechts obliegt nicht dem Europäischen Gerichtshof. Dass die „wesentlichen Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen“ im Sinn der Leiharbeits‑Richtlinie auch die periodische Erhöhung der bestehenden Löhne bzw Gehälter im Beschäftiger‑Kollektivvertrag umfassen, ist nicht zu bezweifeln (vgl RIS‑Justiz RS0082949). Angesichts der Abweichklausel in Art 5 Abs 3 der Richtlinie ist diese Frage hier aber nicht wesentlich.

4.1 Zusammenfassend ergibt sich:

Unter „kollektivvertaglichem Entgelt“ nach § 10 Abs 1 Satz 3 AÜG ist nur das kollektivvertragliche Mindestentgelt zu verstehen. Diese Bestimmung sieht für die Dauer der Überlassung keine Angleichung an die im Beschäftigerbetrieb gezahlten überkollektivvertraglichen Ist‑Löhne vor. Aus diesem Grund fallen auch jährliche Ist‑Lohn‑Erhöhungen auf den überkollektivvertraglichen Lohn laut Beschäftiger‑Kollektivvertrag nicht in den Schutzbereich des § 10 Abs 1 Satz 3 AÜG.

4.2 Die Entscheidungen der Vorinstanzen stehen mit diesen Grundsätzen im Einklang. Der Revision des Klägers war damit der Erfolg zu versagen. Auf die von den Vorinstanzen bejahte Frage der Anwendbarkeit der Verfallsbestimmungen des Beschäftiger‑Kollektivvertrags kommt es nicht mehr an.

Die Kostenentscheidung gründet sich auf §§ 41, 50 ZPO iVm § 2 Abs 1 ASGG.

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