OGH 7Ob33/14z

OGH7Ob33/14z19.3.2014

Der Oberste Gerichtshof hat durch die Vizepräsidentin Dr. Huber als Vorsitzende und durch die Hofrätinnen und Hofräte Dr. Hoch, Dr. Kalivoda, Mag. Dr. Wurdinger und Mag. Malesich als weitere Richter in der Heimaufenthaltssache der Bewohnerin E***** H*****, vertreten durch die Vorsorgebevollmächtigte C***** H*****, und durch den Bewohnervertreter VetretungsNetz ‑ Sachwalterschaft, Patientenanwaltschaft, Bewohnervertretung, 4020 Linz, Hasnerstraße 4 (Mag. A***** W*****), dieser vertreten durch Mag. Nikolaus Weiser, Rechtsanwalt in Wien, Einrichtungsleiterin: Mag. (FH) A***** A*****, wegen freiheitsbeschränkenden Maßnahmen, über den Revisionsrekurs des Bewohnervertreters gegen den Beschluss des Landesgerichts Linz als Rekursgericht vom 13. Jänner 2014, GZ 15 R 7/14a‑17, womit der Beschluss des Bezirksgerichts Linz vom 5. November 2013, GZ 42 HA 3/13t‑14, bestätigt wurde, den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2014:0070OB00033.14Z.0319.000

 

Spruch:

Dem Revisionsrekurs wird Folge gegeben. Die Beschlüsse der Vorinstanzen werden dahin abgeändert, dass sie wie folgt zu lauten haben:

„Die Freiheitsbeschränkung der Bewohnerin E***** H***** durch Versperren der Zimmertür, beginnend mit 12. Februar 2013, jeweils von 19:00 Uhr bis 07:30 Uhr des nächsten Tages, wird für unzulässig erklärt.“

 

Begründung:

Die Bewohnerin bewohnt einen Wohnbereich im zweiten Stock einer Einrichtung im Sinne des § 2 Abs 1 HeimAufG. In diesem Wohnbereich lebt auch ein dementer Mann, der nachts häufig fremde Zimmer betritt und sich schon zu anderen Heimbewohnern ins Bett gelegt hat. Seit 12. Februar 2013 wird jeweils um ca 19:00 Uhr die Zimmertür der Bewohnerin versperrt und bis zum nächsten Tag um 07:30 Uhr verschlossen gehalten, um den Mitbewohner am Betreten des Zimmers zu hindern. Das Zimmer wird nur während der Kontrollgänge durch das Pflegepersonal kurz aufgeschlossen und nach Beendigung des Kontrollbesuchs wieder verschlossen.

Die Bewohnerin erlitt am 17. Juli 2012 eine Gehirnblutung. Sie ist außer Stande aufzustehen und sich fortzubewegen. Vielmehr liegt sie regungslos in ihrem Bett, lediglich mit den Armen, insbesondere mit dem linken Arm, macht sie Bewegungen. Sie nestelt nahezu unablässig an ihrer Kleidung oder dem Bettzeug, manchmal fährt sie sich mit der Hand ins Gesicht. Sie wird immer wieder aus dem Bett gehoben und in den Garten oder den Gemeinschaftsraum gebracht, wozu sie in einen sogenannten Mobi‑Sessel gesetzt wird. Die Bewohnerin lässt sämtliche Pflege‑ und Betreuungshandlungen von Worten oder Bewegungen unkommentiert über sich ergehen. Sie ist aber ansprechbar, wenn auch nicht in der Lage, ein Gespräch zu führen oder auf Fragen zu antworten. Manchmal gibt sie unverständliche Worte oder Laute von sich, teilweise sind die Worte und Sätze verständlich, sie sind aber zusammenhanglos.

Am 5. August 2013 beantragte die Einrichtungsleiterin die gerichtliche Überprüfung von freiheitsbeschränkenden Maßnahmen, nämlich des Versperrens der Zimmertür der E***** H*****. Die Bewohnerin könne sich wegen ihres körperlichen und geistigen Zustands nicht ohne fremde Hilfe fortbewegen oder ihren Willen adäquat äußern. Das Versperren der Zimmertür sei die einzige Möglichkeit, sie vor eventuellen nächtlichen Besuchern zu schützen.

Das Erstgericht wies den Antrag auf Überprüfung der Maßnahme ab. Die Bewohnerin sei zu keiner sinnvollen sprachlichen, gestischen oder mimischen Äußerung in der Lage. Sie sei zur selbständigen Ortsveränderung außer Stande und lasse bei Ortsveränderungen keinerlei Reaktionen erkennen. Es gebe keine Anhaltspunkte dafür, dass die Bewohnerin in der Lage sei, einen Fortbewegungswillen zu entwickeln. Sie sei bei ihrer Pflege, Ernährung und Ortsveränderung zu 100 % von Handlungen ihrer Umgebung abhängig. Die Bewegungen der Bewohnerin würden nicht darauf schließen lassen, dass sie vom Willen getragen seien, sondern seien unkontrollierte unwillkürliche Handlungsschablonen, im Ergebnis spastischen Bewegungen gleichzusetzen. Mangels Anzeichen dafür, dass die Bewohnerin noch grundsätzlich über die Möglichkeit zur willkürlichen körperlichen (Fort‑)Bewegung mit Ortsveränderung verfüge, sei das Versperren der Zimmertür keine Freiheitsbeschränkung im Sinn des Heimaufenthaltsgesetzes.

Das Rekursgericht bestätigte diese Entscheidung. Hier liege nicht der Fall vor, dass ein psychisch kranker oder geistig behinderter Bewohner trotz seiner nicht mehr vorhandenen Einsichtsfähigkeit noch in der Lage sei, auf das Verlassen des Bettes gerichtete (willkürliche) Bewegungen auszuführen. Vielmehr sei die Bewohnerin zu derartigen willkürlichen Bewegungen und auch zu einer auf die (Fort‑)Bewegung gerichteten Willensbildung unfähig. Die dem Versperren der Zimmertür immanente Freiheitsbeschränkung bei zu willkürlichen Bewegungen unfähigen Personen bedürfe keiner gerichtlichen Kontrolle. Zutreffend habe das Erstgericht den Antrag auf Prüfung der Zulässigkeit von freiheitsbeschränkenden Maßnahmen abgewiesen. Das Rekursgericht sprach aus, dass gemäß § 62 Abs 1 AußStrG der ordentliche Revisionsrekurs nicht zulässig sei, weil es sich um eine Einzelfallentscheidung handle und keine Rechtsfragen von erheblicher Bedeutung zu lösen seien.

Dagegen richtet sich der außerordentliche Revisionsrekurs der Bewohnervertreterin mit einem Abänderungsantrag, hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.

Rechtliche Beurteilung

Der Revisionsrekurs ist entgegen dem ‑ den Obersten Gerichtshof nicht bindenden ‑ Ausspruch des Rekursgerichts zulässig, er ist auch berechtigt.

1. Vorweg ist festzuhalten, dass der Revisionsrekurs hier ein einseitiges Rechtsmittel ist (RIS‑Justiz RS0121226). Das Recht zur Erstattung einer Rekurs‑ oder Revisionsrekursbeantwortung steht nur dem Bewohner, seinem Vertreter und seiner Vertrauensperson gegen Rechtsmittel des Leiters der Einrichtung zu.

2.1 Nach § 3 Abs 1 HeimAufG liegt eine Freiheitsbeschränkung vor, wenn eine Ortsveränderung einer betreuten oder gepflegten Person gegen oder ohne ihren Willen mit physischen Mitteln, insbesondere durch mechanische, elektronische oder medikamentöse Maßnahmen, oder durch deren Androhung unterbunden wird.

§ 4 HeimAufG normiert, dass eine Freiheitsbeschränkung nur vorgenommen werden darf, wenn 1. der Bewohner psychisch krank oder geistig behindert ist und im Zusammenhang damit sein Leben oder seine Gesundheit oder das Leben und die Gesundheit anderer ernstlich und erheblich gefährdet, 2. sie zur Abwehr dieser Gefahr unerlässlich und geeignet sowie in ihrer Dauer und Intensität im Verhältnis zur Gefahr angemessen ist sowie 3. diese Gefahr nicht durch andere Maßnahmen, insbesondere schonendere Betreuungs‑ und Pflegemaßnahmen, abgewendet werden kann.

2.2 Bei der Prüfung, ob eine Freiheitsbeschränkung im Sinn des Heimaufenthaltsgesetzes vorliegt, ist zunächst die Beschränkung der Bewegungsfreiheit auf einen bestimmten räumlich abgegrenzten Bereich wesentlich ( Barth/Engel Heimrecht, § 3 Anm 2). Der räumliche Umfang der Beschränkung spielt für die Freiheitsbeschränkung keine Rolle. Auch die Bewegungsbeschränkung auf die Einrichtung in ihrer Gesamtheit unter Wahrung freier Bewegungsmöglichkeiten innerhalb des Areals der Einrichtung ist daher eine Freiheitsbeschränkung ( Barth/Engel aaO Anm 10; RIS‑Justiz RS0121662).

2.3 Nach den ErläutRV (353 BlgNr 22. GP  8 ff) liege keine Freiheitsbeschränkung vor, wenn sich die betreute oder gepflegte Person auch ohne die Maßnahme nicht fortbewegen könne. So sei die Anbringung eines Sitzgurts, die den drohenden Sturz eines gelähmten Menschen aus dem Rollstuhl verhindern solle, nicht als Freiheitsbeschränkung zu qualifizieren, wenn die Anbringung des Gurts in einer notwendigen Gesamtbetrachtung in Wahrheit seinen Bewegungs‑ und Handlungsspielraum (zB durch Einnahme der Mahlzeiten im Speisesaal) erhöhe. Wenn weiter einem Bewohner ‑ namentlich bei Bewusstlosigkeit ‑ überhaupt die Möglichkeit einer willkürlichen körperlichen Bewegung fehle, könne ebenfalls nicht von einer Freiheitsbeschränkung gesprochen werden. Schutzgitter, die an einem Bett angebracht würden, um das Herausfallen durch unwillkürliche Bewegungen des Betroffenen (zB spastische Bewegungen oder unwillkürliche Bewegungen im Schlaf) zu verhindern, seien also keine freiheitsentziehenden Maßnahmen. Und schließlich sei auch bei einem durch die Folgen einer Operation und der damit verbundenen Anästhesie geistig noch beeinträchtigten Patienten, der zu seinem Schutz „fixiert“ werde, keine Freiheitsbeschränkung anzunehmen.

Dem Willen des Gesetzgebers entsprechend kann eine Freiheitsbeschränkung im Sinn des Heimaufenthaltsgesetzes also nur an jemandem vorgenommen werden, der grundsätzlich (noch) über die Möglichkeit zur willkürlichen körperlichen (Fort‑)Bewegung (mit Ortsveränderung) verfügt (7 Ob 226/06w, 7 Ob 144/06m: Barth/Engel aaO § 3 HeimAufG, Anm 12; Laimer/Rosegger/Thiele HVerG und HeimAufG, 20; Zierl, Heimrecht, 110). Auf die Bildung eines (vernünftigen) Fortbewegungswillens und darauf, ob sich der betroffene Bewohner der Einschränkung seiner Bewegungsfreiheit bewusst ist, kommt es hingegen nicht an (7 Ob 144/06m, 7 Ob 226/06w; Barth/Engel aaO; dieselben in Das HeimAufG: Die neuen gesetzlichen Regeln über freiheitsbeschränkende Maßnahmen in Heimen oder ähnlichen Einrichtungen, ÖJZ 2005/23, 401 ff [405] FN 40; Klaushofer, HeimAufG: Ein erster Überblick, ZfV 2004/1229, FN 61). Außerdem kann die Bewegungsfreiheit nicht selbstständig, sondern auch mit fremder Hilfe (zB durch Schieben eines Rollstuhls) in Anspruch genommen werden. Die Freiheitsentziehung kann daher gegenüber jedermann erfolgen, der ‑ sei es durch die Hilfe Dritter ‑ die Möglichkeit körperlicher Bewegung und Ortsveränderung hat (7 Ob 144/06m, 7 Ob 226/06w, 7 Ob 19/07f mwN).

Eine Freiheitsbeschränkung im Sinn des Heimaufenthaltsgesetzes kann demnach nur an jemandem nicht vorgenommen werden, der überhaupt keine Möglichkeit zur willkürlichen Bewegungssteuerung mehr hat, das heißt, dem die Fortbewegungsfähigkeit völlig fehlt und der auch keinen Fortbewegungswillen bilden kann.

2.4 Demgemäß wendet sich der Revisionsrekurs zu Recht dagegen, dass die Vorinstanzen (schon deshalb) den Überprüfungsantrag der Anstaltsleiterin abgewiesen haben, weil hier ‑ infolge Verlusts der Fähigkeit, sich fortzubewegen ‑ keine dem Bewohner noch mögliche „Orts‑ bzw Lageveränderung“ unterbunden werde, sodass dem Versperren des Zimmers während der Nachtstunden die Qualifikation einer freiheitsbeschränkenden bzw ‑entziehenden Maßnahme im Sinne des § 3 Abs 1 HeimAufG fehle.

Aus dem festgestellten Sachverhalt ergibt sich zwar ein äußerst schlechter gesundheitlicher Zustand der Bewohnerin, sie kann aber in einem „Mobi‑Sessel“ fortbewegt werden. Auch ist sie ansprechbar und im Stande, Worte und Sätze zu formulieren. Mögen auch durchaus Anzeichen dafür vorliegen, so steht damit aber doch nicht fest, dass der Bewohnerin das Fassen und auch die Artikulation eines Fortbewegungswillens gänzlich unmöglich ist. Für die Beurteilung, dass eine der Überprüfung nach dem Heimaufenthaltsgesetz gar nicht unterliegende Maßnahme vorliegt, kann es schon zum Schutz des Bewohners nicht auf die (Un‑)Wahrscheinlichkeit der Äußerung eines Fortbewegungswillens ankommen; vielmehr steht die ‑ wie hier ‑ nicht völlig ausgeschlossene Möglichkeit dazu einer solchen Annahme entgegen.

Das Versperren der Zimmertür während der Nachtstunden ist demnach als Freiheitsbeschränkung zu qualifizieren. Da die Voraussetzungen des § 4 HeimAufG nicht vorliegen, ist die Unzulässigkeit dieser Freiheitsbeschränkung auszusprechen.

3. Die von der Rekurswerberin als Verfahrensmangel geltend gemachte Verletzung der Verpflichtung, der mündlichen Verhandlung einen Sachverständigen beizuziehen (§ 14 Abs 3 HeimAufG), muss nicht geprüft werden, weil bereits auf Grund des festgestellten Sachverhalts die Unzulässigkeit der freiheitsbeschränkenden Maßnahme auszusprechen ist.

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