OGH 10ObS137/13i

OGH10ObS137/13i17.12.2013

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten Dr. Hradil als Vorsitzenden, die Hofräte Dr. Fellinger und Dr. Hoch sowie die fachkundigen Laienrichter Dr. Reinhard Drössler (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Mag. Robert Brunner (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei O*****, vertreten durch Mag. Martin Kranich, Rechtsanwalt in Wien, gegen die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt, 1021 Wien, Friedrich- Hillegeist-Straße 1, wegen Invaliditätspension, über die außerordentliche Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 24. Juli 2013, GZ 7 Rs 102/13s-43, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Arbeits- und Sozialgerichts Wien vom 1. März 2012, GZ 28 Cgs 49/10s-35, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

 

Spruch:

Der Revision wird Folge gegeben.

Die Urteile der Vorinstanzen werden aufgehoben. Die Sozialrechtssache wird zur neuerlichen Verhandlung und Entscheidung an das Erstgericht zurückverwiesen.

Die Kosten des Verfahrens bilden weitere Verfahrenskosten.

Text

Begründung

Der am 25. 3. 1958 geborene Kläger absolvierte im ehemaligen Jugoslawien eine dreijährige Ausbildung als Maschinenbauschlosser. In den Jahren 1983, 1988 und 1991 erwarb der Kläger im ehemaligen Jugoslawien auch Atteste für den Beruf Schweißer.

In den letzten 15 Jahren vor dem Stichtag (1. 8. 2006) erwarb der Kläger insgesamt 31 Beitragsmonate aufgrund einer Erwerbstätigkeit. So arbeitete er vom 1. 8. 1991 bis 1. 6. 1992 als Maschinenbauschlosser in einem staatlichen Elektrizitätsunternehmen im ehemaligen Jugoslawien und erwarb dadurch zehn Beitragsmonate. Zusätzlich arbeitete er bis 1992 auch als Volleyballtrainer im ehemaligen Jugoslawien. In der Zeit von 1993 bis 2000 erwarb er in Österreich weitere 21 Beitragsmonate der Pflichtversicherung aufgrund einer Erwerbstätigkeit. Er arbeitete bis 1997 als Tagelöhner bei der Stadt Wien (zehn Beitragsmonate). Vom 9. 8. 1999 bis 16. 9. 1999 und vom 20. 9. 2000 bis 30. 9. 2000 war der Kläger als Bauhelfer tätig (drei Beitragsmonate). Die restlichen acht Beitragsmonate war er als Schweißer bei zwei Unternehmen tätig.

Aufgrund des näher festgestellten medizinischen Leistungskalküls ist dem Kläger weder eine Tätigkeit als Maschinenbauschlosser (nunmehr: Maschinenbautechniker) oder als Universalschweißer noch sind ihm berufsschutzerhaltende Tätigkeiten in den beiden genannten Berufen möglich. Auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt kann der Kläger noch beispielsweise Verpackungs- und Sortierarbeiten in der Leichtwarenbranche verrichten.

Der Kläger bezog vom 1. 8. 2006 bis 31. 10. 2009 eine jeweils befristete Invaliditätspension. Mit Bescheid der beklagten Pensionsversicherungsanstalt vom 26. 1. 2010 wurde sein Antrag auf Weitergewährung der befristeten Invaliditätspension abgelehnt.

Das Erstgericht wies auch im zweiten Rechtsgang das vom Kläger dagegen rechtzeitig erhobene und auf die Weitergewährung der beantragten Leistung gerichtete Klagebegehren ab. Es traf über den bereits eingangs wiedergegebenen Sachverhalt hinaus die „Feststellung“, der Kläger habe „nicht jene wesentlichen Kenntnisse und die erforderlichen Fähigkeiten, die üblicherweise von einem ausgelernten Facharbeiter im Lehrberuf des Maschinenschlossers und des Universalschweißers in dessen auf dem Arbeitsmarkt gefragten Varianten erwartet bzw vorausgesetzt werden“.

In rechtlicher Hinsicht führte das Erstgericht im Wesentlichen aus, der Kläger habe den Beruf des Maschinenschlossers im ehemaligen Jugoslawien erlernt. Ein ausländischer Lehrabschluss erfülle nur bei erfolgter Gleichstellung nach § 27a BAG die Voraussetzungen für einen erlernten Beruf iSd § 255 Abs 1 ASVG. Eine solche Gleichstellung liege nicht vor. Da der Kläger auch nicht über die im Beruf des Maschinenschlossers und des Universalschweißers notwendigen Kenntnisse verfüge, genieße er keinen Berufsschutz iSd § 255 Abs 1 und 2 ASVG. Da er im maßgebenden Zeitraum ab 1. 11. 2009 auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt noch die festgestellte Verweisungstätigkeit als Verpackungs- und Sortierarbeiter in der Leichtwarenbranche verrichten könne, sei er auch nicht invalid im Sinne der für ihn maßgebenden Bestimmung des § 255 Abs 3 ASVG.

Das Berufungsgericht gab der Berufung des Klägers keine Folge. Den wesentlichen Ausführungen des Klägers in seiner Berufung, er habe im Verfahren vorgebracht, dass er auch aufgrund seiner Tätigkeit als Schweißer Berufsschutz genieße, das Erstgericht habe jedoch keine Feststellungen über die von ihm konkret ausgeübten Tätigkeiten getroffen und auch ein - vom Erstgericht unterlassener - Berufsqualifikationstest hätte ergeben, dass er sehr wohl über jene wesentlichen Kenntnisse und Fähigkeiten, die üblicherweise von einem angelernten Facharbeiter im Lehrberuf des Universalschweißers erwartet und vorausgesetzt werden, verfüge, hielt das Berufungsgericht im Wesentlichen entgegen, dass der im zweiten Rechtsgang qualifiziert vertretene Kläger im erstinstanzlichen Verfahren nicht vorgebracht habe, dass er auch eine Ausbildung zum Universalschweißer absolviert und abgeschlossen habe. Der Kläger habe lediglich vorgebracht, dass er im maßgebenden Beobachtungszeitraum als hochqualifizierter Schweißer tätig gewesen sei und deshalb Berufsschutz als Schweißer genieße. Für das Erstgericht habe sich nach Durchführung des Berufsqualifikationstests für den Lehrberuf des Maschinenschlossers weder aus dem Prozessvorbringen des Klägers noch aus der Aktenlage ein Hinweis dafür ergeben, dass der Kläger aufgrund seiner beruflichen Tätigkeiten über die erforderlichen Kenntnisse und Fähigkeiten verfüge, wie sie für den Lehrberuf Universalschweißer am Arbeitsmarkt gefordert werden. Es begründe daher keine Mangelhaftigkeit des Verfahrens erster Instanz, dass das Erstgericht nicht neuerlich - diesmal für den Lehrberuf Universalschweißer - einen Berufsqualifikationstest durchgeführt habe. Feststellungen über die vom Kläger konkret ausgeübten Tätigkeiten seien nicht erforderlich, weil sich mangels Berufsschutzes des Klägers als Maschinenschlosser oder als Universalschweißer gar nicht die Frage stellen könne, ob er berufsschutzerhaltende Tätigkeiten ausgeübt habe.

Das Berufungsgericht sprach aus, dass die ordentliche Revision mangels Vorliegens einer erheblichen Rechtsfrage nicht zulässig sei.

Gegen diese Entscheidung richtet sich die außerordentliche Revision des Klägers wegen Mangelhaftigkeit des Verfahrens und unrichtiger rechtlicher Beurteilung mit dem Antrag auf Abänderung im Sinn einer Stattgebung des Klagebegehrens. Hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.

Die beklagte Partei hat sich am Revisionsverfahren nicht beteiligt.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist zulässig, weil das Berufungsgericht von der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs abgewichen ist, und im Sinne der beschlossenen Aufhebung auch berechtigt.

Der Kläger macht als Mangelhaftigkeit des Berufungsverfahrens inhaltlich geltend, das Berufungsgericht habe die von ihm in der Berufung geltend gemachte Mangelhaftigkeit des erstinstanzlichen Verfahrens mit einer durch die Aktenlage nicht gedeckten Begründung verneint. So habe er bereits im erstinstanzlichen Verfahren ausdrücklich vorgebracht, er sei im maßgebenden Beobachtungszeitraum als hochqualifizierter Schweißer tätig gewesen und genieße deshalb Berufsschutz als Schweißer. Das Erstgericht hätte alle zur Frage des behaupteten Berufsschutzes als Schweißer notwendig erscheinenden Beweise, insbesondere auch einen entsprechenden Berufsqualifikationstest, von Amts wegen aufnehmen müssen. Da das Erstgericht dies nicht gemacht habe, sei sein Verfahren mangelhaft geblieben. Das Berufungsgericht habe zu Unrecht die Ansicht vertreten, der Kläger habe einen Berufsschutz als Schweißer nicht ausreichend geltend gemacht.

Dazu ist Folgendes auszuführen:

1. Wenngleich auch im Verfahren nach dem ASGG vom Berufungsgericht verneinte angebliche erstinstanzliche Verfahrensmängel grundsätzlich in der Revision nicht mehr geltend gemacht werden können, gilt dies dann nicht, wenn das Berufungsgericht die Mängelrüge mit einer durch die Aktenlage nicht gedeckten Begründung verworfen hat (vgl 10 ObS 355/02g, SSV-NF 16/131 ua; RIS-Justiz RS0043166).

2. Nach der auch bereits vom Berufungsgericht zitierten Bestimmung des § 87 Abs 1 ASGG hat das Gericht sämtliche notwendig erscheinenden Beweise von Amts wegen aufzunehmen. Die Verpflichtung zur amtswegigen Beweisaufnahme besteht jedoch nur hinsichtlich von Umständen, für deren Vorliegen sich aus den Ergebnissen des Verfahrens Anhaltspunkte ergeben. Nur dann, wenn sich aus dem Vorbringen der Parteien, aus Beweisergebnissen oder dem Inhalt des Aktes Hinweise auf das Vorliegen bestimmter entscheidungswesentlicher Tatumstände ergeben, ist das Gericht verpflichtet, diese in seine Überprüfung einzubeziehen (RIS-Justiz RS0086455).

2.1 Die Frage, ob ein Versicherter Berufsschutz genießt, ist in allen Fällen, in denen bei Bestehen eines solchen die Verweisbarkeit fraglich wäre, von Amts wegen zu prüfen. Die Klärung dieser Frage ist eine unabdingbare Entscheidungsvoraussetzung. Wenn nach dem Inhalt des Prozessvorbringens hierüber keine ausreichende Klarheit besteht und nach der Aktenlage nicht ohne weiteres der Schluss gezogen werden kann, dass der Versicherte nur als einfacher Hilfsarbeiter tätig war, hat das Gericht aufgrund der Bestimmung des § 87 Abs 1 ASGG diese Frage von Amts wegen zu prüfen und hierüber Feststellungen zu treffen (RIS-Justiz RS0084428).

3. Zutreffend weist der Kläger darauf hin, dass er in der Tagsatzung am 1. 3. 2012 (ON 34) ausdrücklich vorgebracht hat, dass er im maßgebenden Beobachtungszeitraum als hochqualifizierter Schweißer tätig gewesen sei und daher Berufsschutz als Schweißer genieße. Bei seiner Einvernahme in der Tagsatzung am 11. 10. 2011 (ON 25) gab der Kläger unter anderem an, er habe sämtliche Schweißerprüfungen in Bosnien abgelegt und dort mehrere Jahre als hochqualifizierter Schweißer gearbeitet. Der Kläger hat anschließend mit Schriftsatz vom 27. 10. 2011 (ON 29) zum Beweis seiner Fertigkeiten auf dem Gebiet der Schweißtechnik ein Konvolut von Urkunden in serbokroatischer Sprache vorgelegt. Er hat damit entgegen der Rechtsansicht des Berufungsgerichts den von ihm (auch) behaupteten Berufsschutz als Schweißer hinreichend dargetan. Es lagen somit jedenfalls ausreichende Anhaltspunkte vor, welche die Prüfung erfordert hätten, ob dem Kläger aufgrund seiner behaupteten Tätigkeit und Ausbildung ein Berufsschutz als (angelernter) Universalschweißer iSd § 255 Abs 2 ASVG zukommt. Das Berufungsgericht hat nämlich insoweit zutreffend darauf hingewiesen, dass mangels Vorliegens eines Gleichstellungsbescheids gemäß § 27a BAG ein Berufsschutz des Klägers nur über die Anlernqualifikation des § 255 Abs 2 ASVG in Betracht kommt.

4. Ein angelernter Beruf iSd § 255 Abs 2 ASVG liegt vor, wenn der Versicherte eine Tätigkeit ausübt, für die es erforderlich ist, durch praktische Arbeit qualifizierte Kenntnisse und Fähigkeiten zu erwerben, welche jenen in einem erlernten Beruf gleichzuhalten sind. Nach ständiger Rechtsprechung ist nicht der Nachweis des Vorliegens aller Kenntnisse und Fähigkeiten erforderlich, die nach den Ausbildungsvorschriften zum Berufsbild eines Lehrberufs zählen und daher einem Lehrling während der Lehrzeit zu vermitteln sind. Es kommt vielmehr darauf an, dass ein angelernter Arbeiter über die Kenntnisse und Fähigkeiten verfügt, die üblicherweise von ausgelernten Facharbeitern des jeweiligen Berufs in dessen auf dem Arbeitsmarkt gefragten Varianten (Berufsgruppen) unter Berücksichtigung einer betriebsüblichen Einschulungszeit verlangt werden. Hingegen reicht es nicht aus, wenn sich die Kenntnisse und Fähigkeiten auf ein oder mehrere Teilgebiete eines Berufs erstrecken, der von ausgelernten Facharbeitern allgemein in viel weiterem Umfang beherrscht wird. Die Kenntnisse und Fähigkeiten für einen angelernten Beruf können im Fall des Klägers an den Ausbildungsvorschriften für den Lehrberuf Universalschweißer gemessen werden (vgl 10 ObS 126/02f, SSV-NF 16/38 mwN).

4.1 Ob ein angelernter Beruf vorliegt, ist eine Rechtsfrage, zu deren Beantwortung detaillierte Feststellungen darüber erforderlich sind, welche Anforderungen an ausgelernte Facharbeiter der Berufsgruppe Universalschweißer üblicherweise - nicht nur in einzelnen Betrieben - gestellt werden und welche qualifizierten Kenntnisse und Fähigkeiten dieser Berufsgruppe der Kläger erworben hat (10 ObS 126/02f, SSV-NF 16/38 mwN).

5. Zutreffend machte der Kläger bereits in seiner Berufung geltend, dass für diesen notwendigen Vergleich der von ihm angelernten und ausgeübten Kenntnisse und Fähigkeiten mit jenen, die üblicherweise am Arbeitsmarkt von einem gelernten Universalschweißer verlangt werden, die notwendige Tatsachengrundlage fehlt. Bei der vom Erstgericht getroffenen „Feststellung“, der Kläger habe „nicht jene wesentlichen Kenntnisse und die erforderlichen Fähigkeiten, die üblicherweise von einem ausgelernten Facharbeiter im Lehrberuf des Universalschweißers in dessen auf dem Arbeitsmarkt gefragten Varianten erwartet bzw vorausgesetzt werden“, handelt es sich um eine vorweggenommene rechtliche Beurteilung, für die allerdings das erforderliche Tatsachensubstrat fehlt (vgl 10 ObS 16/09i, SSV-NF 23/24; 10 ObS 267/02s, SSV-NF 16/113 ua).

6. Da somit wesentliche Fragen bisher nicht erörtert und die erforderlichen Feststellungen nicht getroffen wurden, kann derzeit noch nicht abschließend beurteilt werden, ob der Kläger Berufsschutz genießt. Im fortgesetzten Verfahren wird in Abhängigkeit von der Beurteilung der Frage, ob der Kläger Berufsschutz als angelernter Universalschweißer genießt, gegebenenfalls auch die Frage, wann dieser Anlernvorgang abgeschlossen war und ob der Kläger schließlich iSd § 255 Abs 2 zweiter Satz ASVG in der hier noch maßgebenden Fassung vor dem BudgetbegleitG 2011, BGBl I 2010/111, im maßgebenden Beobachtungszeitraum in mehr als der Hälfte der Beitragsmonate eine Berufstätigkeit ausübte, für die Kenntnisse und Fähigkeiten des angelernten Berufs erforderlich waren, zu klären sein. Nach den Ausführungen des berufskundlichen Sachverständigen in der Tagsatzung am 11. 10. 2011 (ON 25) muss nämlich auch ein Maschinenschlosser Schweißkenntnisse haben, um schweißtechnische Aufgaben durchführen zu können.

Da es somit offenbar einer Verhandlung in erster Instanz bedarf, um die Sache spruchreif zu machen, war in Stattgebung der Revision des Klägers die Sache unter Aufhebung der Urteile der Vorinstanzen an das Erstgericht zurückzuverweisen.

Der Kostenvorbehalt beruht auf § 52 Abs 1 ZPO.

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