OGH 10Ob60/12i

OGH10Ob60/12i25.6.2013

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten Dr. Hradil als Vorsitzenden und durch die Hofräte Dr. Fellinger, Dr. Hoch, Dr. Schramm und die Hofrätin Dr. Fichtenau als weitere Richter in der Pflegschaftssache des mj A***** S*****, geboren am *****, vertreten durch das Land Wien als Jugendwohlfahrtsträger (Magistrat der Stadt Wien, Amt für Jugend und Familie Rechtsvertretung Bezirke 12, 13, 23, Rößlergasse 15, 1230 Wien), wegen Unterhaltsvorschuss, über den Revisionsrekurs des Minderjährigen gegen den Beschluss des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Wien als Rekursgericht vom 31. August 2012, GZ 45 R 331/12b‑29, womit der Beschluss des Bezirksgerichts Liesing vom 8. Mai 2012, GZ 5 PU 380/10v‑9, abgeändert wurde, den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2013:0100OB00060.12I.0625.000

 

Spruch:

Der Revisionsrekurs wird zurückgewiesen.

Begründung

Der im Jahr 2001 geborene Minderjährige und seine (leiblichen) Eltern sind russische Staatsangehörige. Das Kind lebt bei seinem ‑ inzwischen wieder von der Mutter geschiedenen ‑ österreichischen Stiefvater, dem allein die Obsorge zukommt, in Wien.

Die Mutter wurde mit einstweiliger Verfügung gemäß § 382a EO vom 14. 3. 2012 (ON 4) zur Leistung eines vorläufigen Unterhaltsbeitrags von monatlich 130,90 EUR ab 12. 3. 2012 verpflichtet.

Mit Beschluss vom 8. 5. 2012 (ON 9) gewährte das Erstgericht dem Minderjährigen vom 1. 4. 2012 bis 31. 3. 2017 gemäß §§ 3, 4 Z 1 UVG Unterhaltsvorschüsse in Titelhöhe.

Das Rekursgericht änderte den Beschluss des Erstgerichts über Rekurs des Bundes, vertreten durch den Präsidenten des Oberlandesgerichts Wien, dahin ab, dass es den Antrag des Kindes, Unterhaltsvorschuss zu gewähren, abwies. Kind und Mutter hätten als Staatsangehörige eines Drittstaats ausschließlich eine Beziehung zu Österreich, aber zu keinem weiteren Mitgliedstaat. Der obsorgeberechtigte Stiefvater (österreichischer Staatsbürger) verwirkliche auch kein grenzüberschreitendes Sachverhaltselement innerhalb des EU-Auslands. Die gemeinschaftsrechtlichen Bestimmungen (zur Sicherung der Freizügigkeit, ohne eine Harmonisierung der sozialen Systeme anzustreben) kämen hier daher nicht zur Anwendung. Nach innerstaatlichem Recht bestehe kein Anspruch auf Vorschüsse, weil der Minderjährige weder österreichischer Staatsangehöriger, noch Staatsangehöriger eines EU-Mitgliedstaats oder staatenlos sei (§ 2 Abs 1 UVG). Ein allgemeines Diskriminierungsverbot fehle in der Drittstaatsverordnung (EU) 1231/2010. Die österreichische Staatsbürgerschaft des Stiefvaters sei auch kein geeigneter Anknüpfungspunkt für die Unterhaltsvorschussgewährung; nach der Drittstaatsverordnung werde nämlich auf die Staatsbürgerschaft der Eltern abgestellt und nach dem UVG auf jene des Kindes.

Das Rekursgericht sprach aus, dass der ordentliche Revisionsrekurs zulässig sei, weil zur Anwendung der sogenannten „neuen Drittstaatsverordnung“ und des darin fehlenden allgemeinen Diskriminierungsverbots noch keine oberstgerichtliche Rechtsprechung vorliege.

Dagegen richtet sich der Revisionsrekurs des vom Jugendwohlfahrtsträger vertretenen Minderjährigen wegen unrichtiger rechtlicher Beurteilung mit dem Antrag, die angefochtene Entscheidung dahin abzuändern, dass dem Kind der begehrte Unterhaltsvorschuss gewährt wird.

Es wurden keine Revisionsrekursbeantwortungen erstattet.

Rechtliche Beurteilung

Der Revisionsrekurs ist entgegen dem nicht bindenden Ausspruch des Rekursgerichts nicht zulässig.

Der Antragsteller macht geltend, er hätte als Angehöriger eines EU-Bürgers (dabei komme es nicht auf die Staatsangehörigkeit an), der der österreichischeb Sozialversicherung unterliege, gemäß Art 2 VO (EG) 883/2004 „grundsätzlich“ Anspruch auf die Auszahlung von Unterhaltsvorschüssen. Da sein im gemeinsamen Haushalt lebender Angehöriger (der Stiefvater) österreichischer Staatsbürger sei, könne er im vorliegenden Fall den Anspruch auf Unterhaltsvorschüsse gemäß § 2 Abs 1 UVG aber nicht vermitteln. „Generell“ sei eine Diskriminierung aufgrund der Staatsbürgerschaft gemeinschaftsrechtswidrig. Der Revisionsrekurs gesteht ausdrücklich zu, dass in der Drittstaatsverordnung (EU) 1231/2010 ein allgemeines Diskriminierungsverbot fehlt; dennoch wird beantragt, den angefochtenen Beschluss abzuändern und dem Minderjährigen Unterhaltsvorschuss zu gewähren.

Dem ist zu erwidern:

Das Vorliegen einer erheblichen Rechtsfrage ist nach dem Zeitpunkt der Entscheidung über das Rechtsmittel durch den Obersten Gerichtshof zu beurteilen. Dies gilt auch für den Anwendungsbereich des § 62 Abs 1 AußStrG (5 Ob 87/11x mwN; RIS‑Justiz RS0112769; RS0112921). Der erkennende Senat hat in den Entscheidungen 10 Ob 1/13i und 10 Ob 51/12s (am 31. 3. 2013 bzw 26. 4. 2013 ‑ also erst nach der Beschlussfassung des Rekursgerichts ‑ im RIS‑Justiz veröffentlicht) betreffend Antragstellerinnen aus Drittstaaten (Serbien bzw Kroatien), die jeweils in der Obsorge ihrer österreichischen Angehörigen lebten, zwischenzeitig zu der auch hier entscheidungswesentlichen Rechtsfrage ausführlich Stellung genommen:

1. Nach § 2 Abs 1 Satz 1 UVG haben mj Kinder, die ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Inland haben und entweder österreichische Staatsbürger oder staatenlos sind, Anspruch auf Vorschüsse.

2. Mit 1. 5. 2010 wurden die VO (EWG) 1408/71 („Wanderarbeitnehmerverordnung“) von der neuen Koordinierungsverordnung VO (EG) 883/2004 und die Durchführungsverordnung VO (EWG) 574/72 von der neuen Durchführungsverordnung VO (EG) 987/2009 abgelöst. Durch den Eintrag in den Anhang I der neuen Koordinierungsverordnung sind österreichische Unterhaltsvorschüsse, die in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs als Familienleistungen qualifiziert wurden, vom Anwendungsbereich der VO (EG) 883/2004 ausdrücklich ausgenommen worden. Dies bedeutet, dass seit 1. 5. 2010 Unterhaltsvorschüsse im Unionsrechtskontext nicht mehr auf Grundlage des Europäischen Koordinierungsrechts in Gestalt der VO (EG) 883/2004 zu beurteilen sind (10 Ob 88/10d mwN; RIS‑Justiz RS0125933). Schon aus diesem Grund kann das Begehren der Antragsteller auf Gewährung von Unterhaltsvorschüssen nicht mit Erfolg auf die Bestimmungen der VO (EG) 883/2004 gestützt werden.

3. Im Rechtssetzungsverfahren zur VO (EG) 883/2004 konnte zunächst kein Konsens über den Kommissionsvorschlag erzielt werden, Drittstaatsangehörige ‑ das sind Personen, die Staatsangehörige eines Staats sind, der nicht Mitgliedstaat der Europäischen Union ist ‑ unmittelbar in den persönlichen Geltungsbereich einzubeziehen. Die Erstreckung auf Drittstaatsangehörige wurde daher einer separaten Verordnung vorbehalten. Mit der Verordnung (EU) 1231/2010 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 24. 11. 2010 wurde die Anwendung der VO (EG) 883/2004 und VO (EG) 987/2009 auch auf Drittstaatsangehörige ausgedehnt, die ausschließlich aufgrund ihrer Staatsangehörigkeit nicht bereits unter die beiden genannten Verordnungen fallen, sowie auf ihre Familienangehörigen und ihre Hinterbliebenen, wenn sie ihren rechtmäßigen Wohnsitz im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats haben und sich in einer Lage befinden, die nicht ausschließlich einen einzigen Mitgliedstaat betrifft. Die VO (EU) 1231/2010 ist am 1. 1. 2011 in Kraft getreten und hat die frühere Drittstaatsangehörigenverordnung VO (EG) 859/2003 abgelöst. Die Antragsteller, die Angehörige eines Drittstaats (in den vorgenannten Entscheidungen: Serbien bzw Kroatien) sind, können ihr Begehren auf Gewährung von Unterhaltsvorschüssen schon deshalb nicht mit Erfolg auf die VO (EU) 1231/2010 stützen, weil, wie bereits erwähnt, Unterhaltsvorschüsse vom Anwendungsbereich der VO (EG) 883/2004 ausgenommen sind. Darüber hinaus sind Drittstaatsangehörige auch nach der VO (EU) 1231/2010 EU‑Bürgern nicht generell gleichgestellt, sondern nur in Bezug auf grenzüberschreitende Bewegungen innerhalb der EU‑Mitgliedstaaten, wodurch ein Bezug zu zumindest zwei Mitgliedstaaten hergestellt wird. Die Verbindung zu einem Drittstaat (dort: Serbien bzw Kroatien) und einem einzigen Mitgliedstaat (Österreich) würde daher ebenfalls nicht ausreichen, um einen grenzüberschreitenden Sachverhalt zu begründen. Es ist insoweit keine Änderung der bisherigen Rechtslage nach der VO (EG) 859/2003 eingetreten (vgl zu dieser Rechtslage: RIS‑Justiz RS0119548).

3.1. Nach Art 90 Abs 1 lit c der VO (EG) 883/2004 blieb die VO (EWG) 1408/71 für die Zwecke des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum und des Abkommens zwischen der Europäischen Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten einerseits und der Schweizerischen Eidgenossenschaft andererseits über die Freizügigkeit sowie anderer Abkommen, die auf die Verordnung (EWG) 1408/71 Bezug nehmen, vorerst weiterhin in Kraft und behielt ihre Rechtswirkung, solange diese Abkommen nicht infolge der vorliegenden Verordnung geändert worden sind. Für diese Übergangszeit galt daher im Verhältnis zu den EWR‑Staaten Island, Liechtenstein und Norwegen sowie zur Schweizerischen Eidgenossenschaft die VO (EWG) 1408/71 fort. Die VO (EG) 883/2004 über die Koordinierung der Vorschriften über die soziale Sicherheit und die diesbezügliche Durchführungsverordnung (EG) 987/2009 gelten nunmehr seit 1. 4. 2012 auch für Schweizer Staatsbürger und seit 1. 6. 2012 auch für Staatsbürger der EWR‑Staaten Island, Liechtenstein und Norwegen, wenn diese Berührungspunkte mit einem EU‑Staat aufweisen (vgl Shubshizky , Erweiterte Anwendbarkeit und Änderung der Verordnung [EG] Nr. 883/2004, ASoK 2012, 314). Für Drittstaatsangehörige hat sich dadurch keine Änderung der Rechtslage ergeben.

4. Der Umstand, dass Unterhaltsvorschüsse seit 1. 5. 2010 nicht mehr unter die Koordinierungsvorschriften der neuen Koordinierungsverordnung VO (EG) 883/2004 fallen, bedeutet aber nicht, dass die Grundsätze des EU‑Rechts auf diese Leistung nicht mehr anzuwenden sind. Da Unterhaltsvorschüsse zweifellos als soziale Vergünstigungen in den Anwendungsbereich des AEUV fallen, sind darauf die Grundsätze dieses Vertrags anzuwenden ( Spiegel in Spiegel [Hrsg], Zwischenstaatliches Sozialversicherungsrecht Art 1 VO 883/2004 Rz 77). Der EuGH hat ausdrücklich festgehalten, dass Ausnahmen vom Anwendungsbereich der Koordinierungsvorschriften auf ihre Vereinbarkeit mit dem sonstigen Unionsrecht zu überprüfen sind. Es kommt daher bei Unterhaltsvorschüssen aufgrund der unmittelbaren Wirkung des Art 18 AEUV das Gleichbehandlungsgebot gegenüber Unionsbürgern unverändert zur Anwendung ( Felten in Spiegel [Hrsg], Zwischenstaatliches Sozialversicherungsrecht Art 67 VO 883/2004 Rz 7 mwN).

4.1. Art 18 AEUV, der ein allgemeines Verbot der Diskriminierung aufgrund der Staatsbürgerschaft innerhalb des Unionsrechts enthält, führt daher dazu, dass der Staatsbürgervorbehalt des Art 2 UVG unionsrechtswidrig ist (vgl M. Windisch‑Graetz , Neuerungen im Europäischen koordinierten Sozialrecht, DRdA 2011, 219 ff [221] mwN). Kinder mit der Staatsangehörigkeit eines EU‑Mitgliedstaats und gewöhnlichem Aufenthalt in Österreich würden im Vergleich zu österreichischen Kindern in der gleichen Situation diskriminiert, weshalb in diesen Fällen das Staatsbürgerschaftskriterium im Lichte des Primärrechts (Art 18 AEUV) so zu lesen ist, dass Kinder mit der Staatsbürgerschaft eines EU‑Mitgliedstaats bei gewöhnlichem Aufenthalt in Österreich nicht von österreichischen Unterhaltsvorschüssen ausgeschlossen werden dürfen ( Neumayr in Schwimann/Kodek , ABGB 4 § 2 UVG Rz 10 mwN; § 1 UVG Rz 16 mwN). Aus diesem Grund hat auch der erkennende Senat bereits unter dem Regime der VO (EWG) 1408/71 bei reinen Inlandsfällen einen Vorschussanspruch von Kindern mit der Staatsbürgerschaft eines anderen EU‑Mitgliedstaats bejaht (vgl 10 Ob 76/08m, 10 Ob 43/08h ua; RIS‑Justiz RS0124262) und an dieser Rechtsprechungslinie auch seit der Geltung der neuen Koordinierungsverordung VO (EG) 883/2004 mit 1. 5. 2010 ausdrücklich festgehalten (vgl 10 Ob 14/10x = RIS‑Justiz RS0125925 ua).

4.2. Es liegt hier aber keine Fallkonstellation vor, bei der aus dem allgemeinen Gleichbehandlungsgrundsatz des Art 18 AEUV (ex‑Art 12 EGV) ein Anspruch der drittstaatsangehörigen Antragstellerin auf österreichische Unterhaltsvorschüsse abgeleitet werden könnte. Obwohl der Wortlaut von Art 18 AEUV undifferenziert „Diskriminierungen aus Gründen der Staatsangehörigkeit“ verbietet, ist dennoch davon auszugehen, dass sich grundsätzlich (dh, soweit nicht spezielle gemeinschaftsrechtliche Regelungen anderes vorsehen) Drittstaatsangehörige nicht auf Art 18 AEUV berufen können. Art 18 AEUV ist ‑ wie insbesondere auch die besonderen Diskriminierungsverbote der Grundfreiheiten ‑ eine die Inländergleichbehandlung für die Angehörigen der Union konstituierende Vorschrift, die Drittstaatsangehörige grundsätzlich ausschließt. Nur dort, wo das Unionsrecht vertragliche Bestimmungen oder sekundärrechtliche Vorschriften enthält, die den Drittstaatsangehörigen eine gemeinschaftsrechtlich begründete Rechtsposition verleihen, die auch den Schutz durch das allgemeine Diskriminierungsverbot des Art 18 AEUV einschließt, können sich Drittstaatsangehörige auf diese Bestimmung berufen (RIS-Justiz RS0128664; 10 Ob 1/13i und 10 Ob 51/12s mwN).

4.3. Da Unterhaltsvorschussleistungen von der VO (EG) 883/2004 ausdrücklich ausgenommen sind und in der VO (EU) 1231/2010 ein allgemeines Diskriminierungsverbot für Drittstaatsangehörige fehlt, können sich drittstaatsangehörige Antragsteller für die begehrte Gewährung von Unterhaltsvorschüssen auch nicht mit Erfolg auf das Diskriminierungsverbot des Art 18 AEUV stützen (RIS-Justiz RS0128665).

5. Dem russischen Antragsteller steht daher nach dem (auch im vorliegenden ‑ völlig gleichgelagerten ‑ Fall) allein zur Anwendung kommenden innerstaatlichen Recht kein Anspruch auf Unterhaltsvorschüsse zu, weil er weder österreichischer Staatsangehöriger noch staatenlos ist (§ 2 Abs 1 UVG; 10 Ob 1/13i [serbisches Kind in Obsorge der österreichischen Großmutter]; 10 Ob 51/12s [kroatisches Kind in Obsorge der österreichischen Mutter]).

5.1. Da bereits eine ausführlich begründete Entscheidung für das Vorliegen gesicherter Rechtsprechung ausreicht (vgl RIS‑Justiz RS0103384 [T5]; jüngst: 10 ObS 38/13f), ist die vom Antragsteller entsprechend dem Zulassungsausspruch des Rekursgerichts aufgeworfene Frage nicht erheblich im Sinn des § 62 Abs 1 AußStrG und der Revisionsrekurs daher zurückzuweisen.

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