OGH 10ObS97/12f

OGH10ObS97/12f24.7.2012

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten Dr. Hradil als Vorsitzenden, den Hofrat Dr. Fellinger und die Hofrätin Dr. Fichtenau sowie die fachkundigen Laienrichter Mag. Dr. Werner Hallas (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und AR Angelika Neuhauser (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei D*****, vertreten durch Dr. Gustav Teicht und Dr. Gerhard Jöchl, Rechtsanwälte in Wien, gegen die beklagte Partei Allgemeine Unfallversicherungsanstalt, 1200 Wien, Adalbert‑Stifter‑Straße 65, wegen Versehrtenrente, über die außerordentliche Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 26. März 2012, GZ 8 Rs 16/12z‑20, den

Beschluss

gefasst:

 

Spruch:

Die außerordentliche Revision wird gemäß § 508a Abs 2 ZPO mangels der Voraussetzungen des § 502 Abs 1 ZPO zurückgewiesen (§ 510 Abs 3 ZPO).

Text

Begründung

Der Kläger war zum Unfallzeitpunkt, dem 5. 11. 2009, bei einem Haustechnikunternehmen beschäftigt. Die Mitglieder der einzelnen Arbeitspartien treffen einander um 6 Uhr morgens auf dem Firmengelände und fahren anschließend mit Kleinbussen zu den jeweiligen Baustellen. Bei Fahrten in Richtung Autobahn war es betriebsüblich, dass sich die Arbeitnehmer eine Jause für den ganzen Arbeitstag bei der unmittelbar an der Fahrtroute gelegenen Bäckerei in G***** besorgten. Auch am Unfalltag kaufte der Kläger fünf Minuten nach sechs Uhr in dieser Bäckerei eine Jause und Getränke, weil er auf der Baustelle dazu keine Möglichkeit gehabt hätte. Als er sich anschließend in den Kleinbus setzte, um auf seine Kollegen zu warten, nahm er einen Schluck aus einer in der Bäckerei gekauften Mineralwasserflasche. Da sich in dieser Flasche aus Verschulden der Inhaberin der Bäckerei sowie einer dort tätigen Verkäuferin eine ätzende Flüssigkeit (Industrielauge) befand, erlitt der Kläger schwere Verletzungen im Bereich der Speiseröhre und des Magens. Der Magen und Teile der Speiseröhre mussten operativ entfernt werden. Infolge ständiger Schluckbeschwerden kann sich der Kläger seither nur ungenügend ernähren. Seine Minderung der Erwerbsfähigkeit beträgt seit dem Unfalltag 100 %.

Das Erstgericht erkannte die beklagte Partei schuldig, den Unfall vom 5. 11. 2009 als Arbeitsunfall anzuerkennen und dem Kläger ab 13. 5. 2010 eine Versehrtenrente im Ausmaß der Vollrente im gesetzlichen Ausmaß zu bezahlen. Rechtlich ging es zusammengefasst davon aus, dass der sich während der Arbeitszeit ereignende Unfall wesentlich durch die Umstände der betrieblichen Übung des Jausenkaufs bei der Bäckerei verursacht worden sei.

Das Berufungsgericht änderte das Ersturteil infolge Berufung der beklagten Partei dahin ab, dass das Klagebegehren abgewiesen wurde. Wenngleich es üblich gewesen sei, die Jause bei der Bäckerei zu kaufen, fehle eine unmittelbare betriebliche Risikosphäre, durch die das schädigende Ereignis bedingt worden sei. Dass ein giftiges Spülmittel in einer Bäckerei in eine Mineralwasserflasche abgefüllt und die Flasche dann irrtümlich in das Verkaufsregal gestellt werde, stelle kein der betrieblichen Gefahrensphäre zuzurechnendes Risiko dar. Dies unterscheide den vorliegenden Fall von den Entscheidungen 10 ObS 165/88, SSV‑NF 2/76 (giftiges Öl in einer Bierflasche) und 10 ObS 2141/96t, SSV‑NF 10/106 (Spülmittel in einer Weinflasche). Mangels der besonderen Voraussetzungen, die den inneren Zusammenhang mit der nachfolgenden versicherten Tätigkeit begründen könnten, sei ein Arbeitsunfall zu verneinen.

Das Berufungsgericht sprach aus, dass die ordentliche Revision nicht zulässig sei.

Rechtliche Beurteilung

Mit seiner außerordentlichen Revision zeigt der Kläger keine Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung iSd § 502 Abs 1 ZPO auf:

1. Gemäß § 175 Abs 1 ASVG sind Arbeitsunfälle Unfälle, die sich im örtlichen, zeitlichen und ursächlichen Zusammenhang mit der die Versicherung begründenden Beschäftigung ereignen.

2. Dabei wird nicht nur die Tätigkeit in der Betriebsstätte selbst, sondern auch die Zurücklegung von Wegen und Reisen außerhalb der Betriebsstätte geschützt, wenn sie in Ausübung der Erwerbstätigkeit während der Arbeitszeit geschieht (10 ObS 131/88, SSV‑NF 2/84; Tomandl in Tomandl, SV‑System, 13. Erg‑Lfg 282). Diese Wege und Reisen gelten als Teil der versicherten Tätigkeit und unterscheiden sich von den Wegen nach und von dem Ort der Tätigkeit iSd § 175 Abs 2 Z 1 ASVG (10 ObS 155/00t, SSV‑NF 14/73 mwN).

3. Auch während einer Dienstreise bzw Dienstfahrt ist zwischen Betätigungen, die mit der Beschäftigung rechtlich wesentlich zusammenhängen und solchen Verrichtungen zu unterscheiden, die der privaten Sphäre angehören (eigenwirtschaftliche Tätigkeiten). Zu den dem unversicherten Lebensbereich zuzurechnenden Verrichtungen zählen vor allem die notwendigen und selbstverständlichen Dinge, denen jeder Mensch unabhängig von seiner beruflichen Tätigkeit nachzugehen pflegt (zB Schlafen, Essen, Waschen udgl). Derartige Verhaltensweisen sind auf einer Dienstreise bzw Betriebsfahrt nicht schon deshalb ohne weiteres geschützt, weil sich der Versicherte im betrieblichen (dienstlichen) Interesse außerhalb seines Beschäftigungsortes aufhalten und bewegen muss. Der Versicherungsschutz entfällt vielmehr, wenn sich der Dienstreisende rein persönlichen, für die Betriebstätigkeit nicht mehr wesentlichen und von dieser nicht mehr wesentlich beeinflussten Belangen widmet (RIS‑Justiz RS0084819; 10 ObS 73/93, SSV‑NF 7/45). Allerdings wird bei Unfällen während einer Dienstreise ein innerer Zusammenhang mit der betrieblichen Tätigkeit auch außerhalb der eigentlichen betrieblichen Tätigkeit im Allgemeinen eher anzunehmen sein, als am Wohn‑ oder Betriebsort (10 ObS 129/09g, SSV‑NF 23/82 mwN). Grundsätzlich sind aber auch auf einer Dienstreise bzw Dienstfahrt nur solche Unfallgefahren in einem inneren Zusammenhang mit der verrichteten Tätigkeit stehend zu bewerten, die sich nach Art und Ausmaß von den vielfältigen alltäglichen Risken abheben, denen jeder Mensch ausgesetzt ist (10 ObS 63/11d = RIS‑Justiz RS0084819 [T11]).

4. Die Nahrungsaufnahme stellt im Allgemeinen eine zumindest überwiegend dem privaten unversicherten Lebensbereich zuzurechnende Tätigkeit dar (RIS‑Justiz RS0084679).

4.1. Bei der Nahrungsaufnahme auf Dienstreisen bzw Dienstfahrten ist der innere Zusammenhang mit der nachfolgend versicherten Tätigkeit unter besonderen Voraussetzungen aber dann begründet, wenn sie zB der Wiedererlangung oder der Erhaltung der Arbeitsfähigkeit eines Kraftfahrers wesentlich dient, dessen Fahrtüchtigkeit sonst beeinträchtigt wäre; weiters wenn die Nahrungsaufnahme aus betrieblichen Gründen besonders schnell erfolgen muss und der Unfall darauf zurückzuführen ist oder eine dursterregende Beschäftigung gegeben ist und das Trinken bezweckt, die Arbeitsfähigkeit wiederherzustellen (10 ObS 73/93, SSV‑NF 7/45). Es kommt also darauf an, ob betriebliche Umstände über das normale Maß hinaus so stark sind, dass sie eine wesentliche Bedingung für die Essenseinnahme sind (RIS‑Justiz RS0084588). Für den Fall der Befriedigung eines lebensnotwendigen persönlichen Bedürfnisses an der Arbeitsstätte oder auf einer Dienstreise bleibt es somit - auch nach der Änderung des § 175 Abs 2 Z 7 ASVG durch Art III Z 1 der 34. ASVG‑Novelle BGBl 1979/530 ‑ dabei, dass Unfallversicherungsschutz lediglich dann besteht, wenn besondere Umstände gegeben sind bzw die Verhaltensweise unter erhöhter Gefahr erfolgt und sich diese Gefahr realisiert (Tomandl in Tomandl, SV‑System 13. Erg‑Lfg 312 f).

4.2. Diese für - in der Regel mehrtägige ‑ Dienstreisen entwickelten Grundsätze gelten auch für Dienstfahrten, von denen der Versicherte am selben Tag zurückkehren kann (10 ObS 155/00t, SSV‑NF 14/73).

5. Die Frage, ob die Gesamtumstände dafür oder dagegen sprechen, dass ein in die betriebliche Sphäre des Klägers gehörendes besonderes Risiko zum Unfall geführt hat, kann nur aufgrund der konkreten Umstände des Einzelfalls beurteilt werden. Das Berufungsgericht war der Ansicht, dass im vorliegenden Fall der Unfall deshalb nicht durch besondere Gefahrenelemente verursacht wurde, die der versicherten Tätigkeit bzw dem Betrieb des Dienstgebers des Klägers zuzurechnen sind, weil die Verwechslung der Flüssigkeiten im Betrieb eines außenstehenden Dritten (dem Bäckereibetrieb) geschehen war. Hält man sich vor Augen, dass die gesetzliche Unfallversicherung den Versicherten vor den Gefahren schützen soll, die sich daraus ergeben, dass betriebliche Einrichtungen an der Entstehung des Unfalls wesentlich mitgewirkt haben und der Unfall wesentlich durch Umstände an der Arbeitsstätte oder die Arbeitstätigkeit selbst verursacht wurde, stellt die Wertung des Berufungsgerichts, es sei kein aus der betrieblichen Sphäre des Dienstgebers stammendes Risiko wesentliche Bedingung für das Trinken der Flüssigkeit gewesen, keine vom Obersten Gerichtshof iSd § 502 Abs 1 ZPO im Einzelfall wahrzunehmende Fehlbeurteilung dar. Die Ansicht, der bloße Umstand, dass die Arbeitnehmer bei der Anfahrt zur Autobahn üblicherweise die Bäckerei in G***** aufsuchten, um sich eine Jause zu besorgen, sei nicht ausreichend, um eine über das normale Maß hinausgehende, durch betriebliche Verhältnisse bedingte, besondere Gefährlichkeit zu begründen, steht zudem im Einklang mit der Rechtsprechung, nach der dem persönlichen Lebensbereich zuzuzählende Verhaltensweisen auf einer Dienstreise bzw Betriebsfahrt nicht schon deshalb ohne weiteres geschützt sind, weil sich der Versicherte im betrieblichen (dienstlichen) Interesse außerhalb seines Beschäftigungsortes aufhalten und bewegen muss; weiters mit jener Rechtsprechung, nach der auch auf einer Betriebsfahrt nur solche Unfallgefahren in einem inneren Zusammenhang mit der verrichteten Tätigkeit stehend zu bewerten sind, die sich nach Art und Ausmaß von den vielfältigen alltäglichen Risken abheben, denen jeder Mensch ausgesetzt ist (siehe oben Pkt 3). Das trifft auf die Gefahr, beim Kauf eines Getränks in einer Bäckerei eine ätzende Flüssigkeit zu erhalten und zu trinken, aber nicht zu.

6. War aber kein betriebsbedingt erhöhtes Risiko bzw keine betriebsbedingt (erhöhte) Gefahrenquelle gegeben, ist die in der Revision zitierte Rechtsprechung (RIS‑Justiz RS0106693) nicht einschlägig. Auch nach dieser Rechtsprechung sind Unfälle bei nichtversicherten Tätigkeiten nur unter der Voraussetzung der Verwirklichung einer Betriebsgefahr vom Unfallversicherungsschutz umfasst.

Die Revision war daher mangels einer erheblichen Rechtsfrage iSd § 502 Abs 1 ZPO zurückzuweisen.

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