OGH 10ObS87/12k

OGH10ObS87/12k26.6.2012

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten Dr. Hradil als Vorsitzenden und durch die Hofräte Dr. Fellinger und Dr. Schramm sowie die fachkundigen Laienrichter MMag. DDr. Hubert Fuchs (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und KR Karl Frint (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei B*****, vertreten durch Münzker & Riehs Rechtsanwälte OG in Wien, gegen die beklagte Partei Wiener Gebietskrankenkasse, 1100 Wien, Wienerbergstraße 15-19, vertreten durch Dr. Heinz Edelmann, Rechtsanwalt in Wien, wegen Rückforderung von Kinderbetreuungsgeld, über die außerordentliche Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 13. April 2012, GZ 10 Rs 18/12h-18, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

 

Spruch:

Die außerordentliche Revision wird gemäß § 508a Abs 2 ZPO mangels der Voraussetzungen des § 502 Abs 1 ZPO zurückgewiesen.

Der Antrag auf Zuspruch der Kosten der Revisionsbeantwortung wird gemäß § 508a Abs 2 Satz 2 ZPO abgewiesen.

Text

Begründung

Die Klägerin bezog für ihre am 29. 8. 2003 geborene Tochter vom 1. 1. 2005 bis 31. 12. 2005 Kinderbetreuungsgeld in Höhe von 5.303,45 EUR.

Mit Bescheid vom 22. 12. 2010 widerrief die Beklagte die Zuerkennung des Kinderbetreuungsgelds und verpflichtete die Klägerin zum Rückersatz, weil der nach § 8 KBGG für das Jahr 2005 maßgebliche Gesamtbetrag ihrer Einkünfte (von 15.112,88 EUR) die Zuverdienstgrenze (von 14.600 EUR) überschritten hatte.

Das Erstgericht gab dem dagegen erhobenen Klagebegehren festzustellen, dass der Rückersatzanspruch nicht zu Recht besteht, statt.

Das Berufungsgericht gab der Berufung der Beklagten nicht Folge und sprach aus, dass die ordentliche Revision nicht zulässig sei.

Rechtliche Beurteilung

In ihrer außerordentlichen Revision zeigt die Beklagte keine Rechtsfragen iSd § 502 Abs 1 ZPO auf.

Nach § 1 lit a KBGG-Härtefälle-Verordnung gelten - für Anspruchsüberprüfungen der Kalenderjahre 2002 bis 2007 (§ 49 Abs 15 KBGG) - nur Fälle einer geringfügigen und zugleich unvorhersehbaren Überschreitung der Zuverdienstgrenze als Härtefälle. Die Beurteilung des Berufungsgerichts, es liege eine geringfügige und unvorhersehbare Überschreitung der Zuverdienstgrenze vor, weil es der Klägerin bei objektiv zumutbarer Sorgfalt nicht möglich gewesen wäre vorauszusehen, dass nach der Pensionierung einer Arbeitskollegin ab Juli 2005 vermehrt Überstunden anfallen werden, die sie verrichten musste, und wie hoch die erzielten Einkünfte sein werden, steht im Einklang mit der Rechtsprechung (RIS-Justiz RS0124751).

Die Fragen der Unvorhersehbarkeit der Überschreitung der Zuverdienstgrenze und des zumutbaren Sorgfaltsmaßstabs können nach ständiger Rechtsprechung nur einzelfallbezogen gelöst werden (RIS-Justiz RS0124751 [T2]) und bilden daher grundsätzlich keine erhebliche Rechtsfrage iSd § 502 Abs 1 ZPO (jüngst 10 ObS 16/12v).

Nach diesen Grundsätzen liegt das Kriterium der Unvorhersehbarkeit vor, wenn die Überschreitung der Zuverdienstgrenze trotz Anlegung eines zumutbaren Sorgfaltsmaßstabs nicht erkannt werden konnte. Dabei trifft den Leistungsbezieher eine Überprüfungspflicht hinsichtlich der Höhe der zu erwartenden Einkünfte (RIS-Justiz RS0124751 [T3]). Typischerweise auftretende Einkommensschwankungen können für sich allein keine Unvorhersehbarkeit begründen; diese wäre nur bei außergewöhnlichen, nach dem gewöhnlichen Lauf der Dinge nicht zu erwartenden Vorgängen zu bejahen (jüngst 10 ObS 16/12v mwN).

Wie bereits ausgesprochen, teilt der Senat die Auffassung nicht, es sei keinesfalls überraschend und damit auch nicht unvorhersehbar, dass Überstunden als ein „üblicher und fester Bestandteil des Arbeitslebens“ entlohnt würden und sich damit die Bezüge der Bezieherin von Kinderbetreuungsgeld erhöhten, und dem durch einen Verzicht auf das Kinderbetreuungsgeld hätte Rechnung getragen werden müssen (10 ObS 156/09b; 10 ObS 145/09k; 10 ObS 143/09s, SSV-NF 23/66). Ansonsten müsste nämlich im Arbeitsleben (etwa im Hinblick auf die aus der Treuepflicht erwachsene Pflicht zur Leistung honorierter Überstunden oder Mehrarbeitsstunden nach Bestimmungen des Arbeitszeitgesetzes) praktisch jederzeit mit Mehreinkünften gerechnet werden, denen durch einen Verzicht auf das Kinderbetreuungsgeld Rechnung getragen werden müsste. Damit würde aber das in § 1 lit a KBGG-Härtefälle-Verordnung zur Einschränkung der Rückforderbarkeit enthaltene Kriterium der „Unvorhersehbarkeit“ der Überschreitung der Zuverdienstgrenze sinnentleert, wenn bei abstrakter Erkennbarkeit eines jeden Mehrverdiensts unabhängig von Höhe und Dauer - aus Sicherheitsgründen immer ein Verzicht auf das Kinderbetreuungsgeld abgegeben werden müsste.

Das Berufungsgericht hat diese Rechtsprechung seiner Entscheidung zugrunde gelegt. Die Beklagte hat dem nichts entgegenzusetzen, das die Zulässigkeit der Revision begründen könnte:

Mit den Ausführungen zum Protokoll der Verhandlungstagsatzung vom 11. 5. 2011, wonach die Klägerin nach der Pensionierung ihrer Kollegin gefragt worden sei, ob sie deren Journaldienste verrichten könne, die Klägerin dies bejahte und deren Dienste übernommen habe, bekämpft die Revision die nicht revisible Beweiswürdigung der Vorinstanzen. Nach den Feststellungen wurden der Klägerin die Journaldienste der Kollegin übertragen, und sie musste die Überstunden leisten.

Dass der Klägerin bekannt war, ihre Arbeitskollegin werde im Sommer 2005 in Pension gehen, stellten die Vorinstanzen nicht fest. Dies wurde auch in erster Instanz nicht behauptet. Diese unzulässige Neuerung ist im Rechtsmittelverfahren nicht beachtlich. Gleiches trifft auf die Berufung auf ein „Informationsblatt zum Kinderbetreuungsgeld“ und „zahlreiche einschlägige Broschüren“ zu. Auf die in diesem Zusammenhang von der Beklagten dargelegten rechtlichen Schlussfolgerungen ist daher nicht einzugehen. Es entspricht keinem „offenkundigen Erfahrungssatz“, dass der Klägerin klar war, dass die Dienste der pensionierten Kollegin zu übernehmen sind, hätte doch der Dienstgeber jemand anderen mit der Verrichtung der Dienste betrauen oder eine Ersatzkraft anstellen können.

Die nicht freigestellte Revisionsbeantwortung der Klägerin diente, weil die außerordentliche Revision der beklagten Partei zurückgewiesen wurde, nicht der zweckentsprechenden Rechtsverfolgung (§ 508a Abs 2 zweiter Satz ZPO).

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