OGH 1Ob71/12s

OGH1Ob71/12s22.6.2012

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten Hon.-Prof. Dr. Sailer als Vorsitzenden sowie die Hofräte Univ.-Prof. Dr. Bydlinski, Dr. Grohmann, Mag. Wurzer und Mag. Dr. Wurdinger als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei Dr. I***** L*****, vertreten durch Mag. Dr. Helmut Blum, Rechtsanwalt in Linz, gegen die beklagte Partei Republik Österreich, vertreten durch die Finanzprokuratur in Wien, wegen 30.000 EUR sA, über die Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht vom 26. Jänner 2012, GZ 14 R 7/12w-36, mit dem das Urteil des Landesgerichts St. Pölten vom 8. November 2011, GZ 1 Cg 65/11d-32, bestätigt wurde, den

Beschluss

gefasst:

 

Spruch:

Die Revision wird zurückgewiesen.

Die klagende Partei ist schuldig, der beklagten Partei binnen 14 Tagen die mit 1.400,70 EUR bestimmten Kosten der Revisionsbeantwortung zu ersetzen.

Text

Begründung

Gegen die Klägerin wurde ein Verfahren nach § 429 StPO zur Unterbringung in eine Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher nach § 21 Abs 1 StGB geführt. Sie wurde verdächtigt, im Zustand der Zurechnungsunfähigkeit mit Strafe bedrohte Handlungen nach § 92 Abs 2 und Abs 3 erster Fall StGB zu Lasten ihrer Kinder begangen zu haben. Am 17. 3. 2006 wurde sie aufgrund eines Haftbefehls festgenommen. Am 18. 3. 2006 wurde nach § 429 Abs 4 StPO ihre vorläufige Anhaltung in einer öffentlichen Krankenanstalt angeordnet. Das Strafgericht erster Instanz ordnete mit Urteil vom 6. 11. 2007 nach § 21 Abs 1 StGB ihre Einweisung in eine Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher an. Der Oberste Gerichtshof gab der gegen dieses Urteil erhobenen Nichtigkeitsbeschwerde der Klägerin statt, hob das angefochtene Urteil auf, ordnete eine neuerliche Hauptverhandlung an und verwies die Sache an das Erstgericht zurück. Nach Aufhebung der vorläufigen Anhaltung (bei Fortdauer des Haftgrundes der Tatbegehungsgefahr unter Anwendung gelinderer Mittel und der Erteilung von Weisungen) wurde ein ergänzendes neurologisch-psychiatrisches Gutachten eingeholt. Dieses stellte fest, dass die Klägerin nunmehr keine Gefahr für andere mehr darstelle. Nachdem die zuständige Staatsanwaltschaft den Antrag auf Unterbringung zurückgezogen hatte, wurde das Verfahren iSd § 227 Abs 1 StPO eingestellt.

Die Klägerin begehrte zuletzt als Entschädigung für ihre vorläufige Anhaltung 30.000 EUR. Die Vorinstanzen wiesen das Klagebegehren ab. Das Berufungsgericht ließ die ordentliche Revision wegen fehlender Judikatur des Obersten Gerichtshofs zur Auslegung des § 3 Abs 2 StEG 2005 bei einer Einstellung des Strafverfahrens aus nicht feststellbaren Gründen und bei möglicher Gefährdung Dritter zu.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision der Klägerin ist entgegen diesem nicht bindenden Ausspruch des Berufungsgerichts nicht zulässig.

Die Gesetzwidrigkeit einer Festnahme oder Anhaltung (gesetzwidrige Haft iSd § 2 Abs 1 Z 1 StEG 2005) ist im Sinne der Judikatur (Nachweise bei Kodek/Leupold in WK2 StEG § 2 Rz 6) nach der Rechts- und Sachlage im Zeitpunkt der Entscheidung zur Freiheitsentziehung beziehungsweise der Verhaftung zu beurteilen. Dabei sind nachträglich hervorgekommene Umstände nicht mehr zu berücksichtigen.

Soweit die Klägerin aus dem bereits erwähnten Urteil des Obersten Gerichtshofs (AZ 13 Os 5/08x = JBl 2009, 394 [Zerbes]) ableiten will, es sei von vornherein klar gewesen, dass die Voraussetzungen der vorläufigen Anhaltung nicht vorgelegen seien, unterliegt sie einem Missverständnis. Ob die vorläufige Anhaltung (s dazu § 429 Abs 4 und 5 StPO) zulässig war, wurde in der genannten Entscheidung nicht geprüft (und war auch nicht zu prüfen). Der Oberste Gerichtshof hob vielmehr das Urteil des Strafgerichts erster Instanz, das die Einweisung der Klägerin nach § 21 Abs 1 StGB angeordnet hatte, auf und verwies die Sache an das Erstgericht zurück. Zu prüfen wäre insbesondere, ob die Klägerin in einem Tatbildirrtum gehandelt hätte und demnach ihre Tat den subjektiven Tatbestand nicht erfüllt hätte. Auch vermisste der Oberste Gerichtshof im angefochtenen Urteil eine nähere Beschreibung der „Prognosetat“ (§ 21 Abs 1 StGB).

Auf diese „Prognosetat“ bezieht sich die Klägerin in der Revision offenbar, wenn sie (aufgrund der Trennung von den Kindern und ihres Vorlebens) die Gefahr, sie werde strafbare Handlungen mit schweren Folgen in Zukunft begehen, als von vornherein denkunmöglich ausschließt. Sie setzt - wie allgemein in ihrer Argumentation - die Voraussetzungen für die Anordnung einer vorläufigen Unterbringung (die [insbesondere] in § 429 Abs 4 und 5 StPO geregelt sind) jenen für eine Einweisung in eine Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher nach § 21 Abs 1 StGB gleich, ohne diese Schlussfolgerung nachvollziehbar erklären zu können.

Nachdrücklich sei darauf verwiesen, dass sie mit der Unterbringung zweier Töchter in einer therapeutischen Wohneinrichtung nicht einverstanden gewesen war, bereits (vergeblich) versucht hatte, die Kinder abzuholen und mit deren Entführung gedroht hatte, obwohl das gemeinsam mit den Kindern bewohnte Haus einige Monate zuvor aufgrund katastrophaler hygienischer Zustände behördlich geräumt worden war und bei zwei Töchtern massive Persönlichkeitsstörungen sowie ein psychisch und physisch völlig desolater Zustand festgestellt worden waren. Alle drei während des erstinstanzlichen Unterbringungsverfahrens im ersten Rechtsgang eingeholten Sachverständigengutachten hatten bei der Klägerin eine wahnhafte psychische Erkrankung diagnostiziert und die Gefahr für andere Personen (Fremdgefährlichkeit) bejaht. Diese gehört zu den in § 429 Abs 4 StPO nicht kumulativ (13 Os 176, 177/03 = RIS-Justiz RS0118410) aufgezählten Gründen für eine vorläufige Anhaltung und lag angesichts der getroffenen Feststellungen vor. Letztlich brachten auch zwei Sachverständige im Sinn der Terminologie des § 21 Abs 1 StGB die Befürchtung zum Ausdruck, die Klägerin werde unter dem Einfluss ihrer Erkrankung auch in Hinkunft Taten mit schweren Folgen begehen.

Weder mit der (nicht nach § 10 Satz 1 StEG 2005 bindenden) aufhebenden Entscheidung des Obersten Gerichtshofs noch mit den Feststellungen der Vorinstanzen ließe sich somit die Annahme einer gesetzwidrigen Freiheitsentziehung und damit ein Ersatzanspruch nach § 2 Abs 1 Z 1 StEG 2005 rechtfertigen.

Der in der Revision genannte Schadenersatzanspruch nach Art 5 Abs 5 EMRK würde die Rechtswidrigkeit der Haft (hier: vorläufige Anhaltung) voraussetzen (RIS-Justiz RS0074679). Inwieweit diese hier gegeben sein sollte, kann die Revisionswerberin nicht erfolgreich darlegen. Der Vorwurf einer im Sinne des Art 5 Abs 3 EMRK unangemessen langen Verfahrensdauer wird nicht anhand konkreter Verfahrensschritte beziehungsweise deren Unterlassung dargestellt. Das gewünschte Ergebnis eines Verstoßes gegen die Verpflichtung der Strafgerichte, in einem Unterbringungsverfahren nach § 21 Abs 1 StGB rasch und in angemessenen Abständen zu entscheiden (vgl EGMR 24. 9. 1992 EMR 48/91 = EuGRZ 1992, 535), ergibt sich aus den Revisionsausführungen zur Dauer des Verfahrens nicht zwingend, zumal in solchen Verfahren die Notwendigkeit, Sachverständigengutachten einzuholen, um die Voraussetzungen für eine Unterbringung in einer Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher zu prüfen, auf der Hand liegt. Das Vorbringen zum möglichen Abschluss des Verfahrens innerhalb weniger Monate ist nicht mehr als eine Vermutung, die durch die Feststellungen der Vorinstanzen nicht gedeckt ist.

Ob das im erstinstanzlichen Verfahren im ersten Rechtsgang erstattete Vorbringen der Klägerin zu Ersatzansprüchen nach § 2 Abs 1 Z 1 StEG 2005 und Art 5 Abs 5 EMRK tatsächlich als nicht ausreichend anzusehen wäre, muss daher nicht erörtert werden.

Dass aufgrund der Einstellung des Strafverfahrens eine ungerechtfertigte Haft (§ 2 Abs 1 Z 2 StEG 2005) vorlag, steht außer Diskussion. Strittiger Punkt des Revisionsverfahrens ist im Zusammenhang mit einem Ersatzanspruch wegen ungerechtfertigter Haft nur noch die Anwendung des § 3 Abs 2 Satz 1 StEG 2005. Nach dieser Bestimmung kann das Gericht im Fall der ungerechtfertigten Haft die Haftung des Bundes mindern oder ganz ausschließen, wenn ein Ersatz unter Bedachtnahme auf die Verdachtslage zur Zeit der Festnahme oder Anhaltung, auf die Haftgründe und auf die Gründe, die zum Freispruch oder zur Einstellung des Verfahrens geführt haben, unangemessen wäre. Dabei kann jedoch die Verdachtslage nach Satz 2 leg cit im Falle eines Freispruchs nach § 259 Z 3 StPO nicht berücksichtigt werden.

Die Beurteilung, ob die Haftung des Bundes nach den in § 3 Abs 2 Satz 1 StEG 2005 genannten Kriterien eingeschränkt oder ausgeschlossen werden kann, ist - wie bereits die Materialien (ErlRV 618 BlgNR 22. GP 4) klarstellen - eine Ermessensentscheidung im Einzelfall. Deren Überprüfung könnte aber nur dann eine erhebliche Rechtsfrage darstellen, wenn die Vorinstanzen den ihnen vom Gesetzgeber eingeräumten Beurteilungsspielraum überschritten hätten (vgl Kodek/Leupold aaO § 3 Rz 20 mwN; vgl RIS-Justiz RS0044088 [T3]). Die erforderliche Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls stehen einer generellen, für alle Fälle der ungerechtfertigten Haft gültigen Aussage des Obersten Gerichtshofs zur Gewichtung der in § 3 Abs 2 Satz 1 StEG 2005 genannten Kriterien entgegen. Dass das Vorliegen eines dringenden Tatverdachts, (vgl RIS-Justiz RS0040284 zu § 180 Abs 1 StPO aF, nunmehr § 173 Abs 1 StPO) sowie (zumindest) eines Haftgrundes (hier: eines Grundes für die vorläufige Anhaltung nach § 429 Abs 4 StPO) für sich alleine eine Haftungseinschränkung beziehungsweise einen Haftungsausschluss nach § 3 Abs 2 Satz 1 StEG 2005 nicht rechtfertigen kann, ergibt sich schon aus der insoweit eindeutigen Anordnung des Gesetzgebers über die Anwendung der zitierten Bestimmung auf Fälle der ungerechtfertigten Haft. Ansonsten wäre die Differenzierung zwischen gesetzwidriger und ungerechtfertigter Haft sinnlos: Fehlten Tatverdacht und/oder Haftgrund wäre die Anhaltung gesetzwidrig (vgl 1 Ob 263/07v mwN; vgl Kodek/Leupold aaO § 2 Rz 9 mwN).

Die „differenzierte Ermessensklausel“ des § 3 Abs 2 StEG 2005 soll nun gänzlich unangemessenen und unbilligen Ergebnissen in Fällen, in denen die uneingeschränkte Zuerkennung einer Ersatzleistung unverständlich wäre, begegnen (ErlRV 618 BlgNR 22. GP 3 ff; RIS-Justiz RS0122966; vgl Kodek/Leupold aaO § 3 Rz 17 mwN).

Angesichts der Feststellungen der Vorinstanzen zu den (unstrittig) bereits als Folge der Handlungen der Mutter eingetretenen massiven psychischen Beeinträchtigungen und der physischen Verwahrlosung zweier Kinder in Verbindung mit den Entführungsdrohungen sowie zur Änderung der Tatsachengrundlage nach Vorliegen des letzten Gutachtens, das erstmals vom Fehlen der „Fremdgefährlichkeit der Mutter“ ausging, ist die Beurteilung des Berufungsgerichts nicht zu korrigieren. Einer Mutter, deren „Betreuung“ sich auf das Wohl ihrer Kinder extrem negativ auswirkte und zu einer (möglicherweise) lebenslangen Beeinträchtigung deren psychischer Verfassung führte, und die dennoch mit der Entführung ihrer Kinder aus einer Therapieeinrichtung drohte, eine Entschädigung zuzusprechen, weil sie aufgrund ihrer psychischen Erkrankung einem Tatbildirrtum unterlegen sein soll (was nicht feststeht), wäre ein Ergebnis, das dem Sinn des § 3 Abs 2 erster Satz StEG, „(quasi) automatische“ Entschädigungen (vgl dazu die bereits zitierten Materialien aaO 4, 9) zu vermeiden, zuwiderliefe und (in deren Sinn) unangemessen und unbillig wäre.

Die Kostenentscheidung gründet sich auf § 41 iVm § 50 Abs 1 ZPO. Die beklagte Partei hat in der Revisionsbeantwortung auf die Unzulässigkeit des gegnerischen Rechtsmittels hingewiesen.

Lizenziert vom RIS (ris.bka.gv.at - CC BY 4.0 DEED)

Stichworte