OGH 7Ob249/11k

OGH7Ob249/11k25.1.2012

Der Oberste Gerichtshof hat durch die Senatspräsidentin des Obersten Gerichtshofs Dr. Huber als Vorsitzende und die Hofräte des Obersten Gerichtshofs Dr. Schaumüller, Dr. Hoch, Dr. Kalivoda und Mag. Dr. Wurdinger als weitere Richter in den verbundenen Heimaufenthaltssachen jeweils des Bewohners H***** S*****, vertreten durch den Verein VertretungsNetz‑Sachwalterschaft, Patientenanwaltschaft, Bewohnervertretung (Bewohnervertreter Dr. E***** W*****), 5020 Salzburg, Petersbrunnstraße 9, dieser vertreten durch Mag. Nikolaus Weiser, Rechtsanwalt in Wien, über den Revisionsrekurs der Einrichtungsleiterin R***** H*****, vertreten durch Prof. Haslinger & Partner, Rechtsanwälte in Linz, gegen den Beschluss des Landesgerichts Salzburg als Rekursgericht vom 13. September 2011, GZ 21 R 314/11i‑22, womit der Beschluss des Bezirksgerichts Salzburg vom 22. Juli 2011, GZ 35 Ha 2/11y‑15 (verbunden mit 35 Ha 8/10d), bestätigt wurde, den

Beschluss

gefasst:

 

Spruch:

Dem Revisionsrekurs wird nicht Folge gegeben.

Text

Begründung

Der Bewohner lebt seit Jänner 2007 im D*****Wohnhaus „*****“ in S*****. Er leidet wegen einer Chromosomenanomalie unter einer schweren geistigen und körperlichen Behinderung. Er hat mehrmals täglich massive Erregungszustände, die mit schweren selbst‑ und fremdgefährdenden Handlungen einhergehen. Personal und Mitbewohner sind diesen körperlichen Attacken regelmäßig ausgesetzt. Sowohl eine sedierende Medikation als auch freiheitsbeschränkende Maßnahmen unterschiedlichen Ausmaßes sind immer wieder notwendig, um schwere Schäden abzuwenden. Der Bewohner kann nicht sprechen. In Akutphasen rennt er auf Gegenstände zu. Er stürzte schon einmal über die Stiege und brach sich den Fuß. Der Bewohner isst sehr gerne und viel, wobei er das Essen rasch hinunterschlingt, wenn ihn ein Betreuer davon nicht abhält. Im Alltag greift er blitzschnell nach Nahrungsmitteln und auch nach nicht essbaren Dingen und stopft diese in den Mund, wobei es wiederholt zu Erstickungsanfällen gekommen ist. Er musste schon mehrmals in die Intensivstation gebracht werden.

Das Erstgericht erklärte mit Beschluss vom 21. Dezember 2010 unter anderem folgende Beschränkung der Freiheit des Bewohners unter folgenden Voraussetzungen für zulässig:

„a) durch kurzfristiges, bis zu 15 bis maximal 30 Minuten dauerndes Einsperren des Bewohners in sein Zimmer bei Vorliegen einer nicht anders bewältigbaren Fremdgefährdung oder Autoaggression, wobei folgende Rahmenbedingungen einzuhalten sind:

‑ der Bewohner muss von einem Betreuer in den Raum begleitet werden. Er darf nur dann alleine in dem Raum eingesperrt werden, wenn für die begleitende Betreuungsperson in der Situation eine konkrete Gefährdung durch Fremdaggression des Bewohners entsteht;

‑ wenn die Betreuungsperson das Zimmer verlässt, muss eine ständige Beobachtung des Bewohners gewährleistet sein, das heißt das Zimmer muss von außen einzusehen sein, zB durch Videoüberwachung oder durch ein Sichtfenster; der Bewohner darf nicht in einem Raum eingesperrt werden, wenn keine Möglichkeit zum Sichtkontakt von außen besteht (Selbstgefährdung), wobei die Beobachtungsmöglichkeit als Auflage vom Gericht erteilt wird;

‑ die Zeitspanne des Einsperrens im Zimmer muss so kurz wie möglich gehalten werden, das heißt sobald eine Beruhigung der Situation eintritt, muss aufgesperrt werden bzw eine Betreuungsperson zum Bewohner ins Zimmer gehen.“

Die Beschränkung der Freiheit wurde für längstens sechs Monate (bis spätestens 21. 6. 2011) für zulässig erklärt.

In der Dokumentation von Betreuungsangeboten und Freiheitsbeschränkungen ist bei den hier relevanten Vorfällen vom 8. 3., 15. 3., 16. 3., 17. 3., 19. 3., 25. 3., 4. 4., 5. 4., 19. 4., 11. 5., 16. 5., 23. 5., 24. 5., 25. 5. und 7. 6. 2011, bei denen der Bewohner allein in sein Zimmer gesperrt wurde, nicht ausdrücklich im Sinn der Vorgaben im Beschluss des Erstgerichts vom 21. 12. 2010 darauf Bezug genommen worden, dass ihn ein Betreuer wegen Fremdaggression des Bewohners nicht begleiten konnte. Es heißt dort: „Es wird zwar immer wieder versucht, den Betreuer mit in das Zimmer zu sperren, dies ist aber wegen der Aggressionen des Bewohners und der Verletzungsgefahr des Betreuers nicht möglich.“ Der Bewohner hat bereits im Jahr 2010 (vor dem Beschluss vom 21. 12. 2010) 20 Mal Betreuer, zum Teil erheblich, verletzt.

Der Verein beantragt ‑ soweit für das Revisionsrekursverfahren von Bedeutung ‑ die Unzulässigerklärung des Einsperrens des Bewohners allein in seinem Zimmer an den genannten Tagen, weil in der Dokumentation nicht ausdrücklich auf eine konkrete Gefährdung der begleitenden Betreuungsperson durch Fremdaggression des Bewohners hingewiesen worden sei.

Die Einrichtungsleiterin verweist darauf, dass auf Grund des Zustands des Bewohners immer eine latente Gefährdung eines Mitarbeiters durch Fremdaggression des Bewohners bestehe, wenn er in sein Zimmer eingesperrt werde. Er habe bereits wiederholt den Mitarbeitern Verletzungen in diesen Situationen zugefügt.

Das Erstgericht sprach aus, dass die Beschränkung der Freiheit des Bewohners an den im Spruch genannten Tagen aus formellen Gründen unzulässig gewesen sei. Die Dokumentation sei insofern mangelhaft, als das Vorliegen der im Beschluss vom 21. 12. 2010 genannten Rahmenbedingung für das Einsperren im Zimmer ohne Begleitperson, nämlich die konkrete Gefährdung durch Fremdaggression des Bewohners, nicht in der Dokumentation von Betreuungsangeboten und Freiheitsbeschränkungen angeführt worden sei. Auf Grund dieser mangelhaften Dokumentation seien die freiheitsbeschränkenden Maßnahmen unzulässig.

Das Rekursgericht bestätigte den angefochtenen Beschluss. Die Dokumentation habe nicht den Erfordernissen des § 6 Abs 1 HeimAufG entsprochen, weil die Gefährdungssituation und das Vorliegen der anderen vom Beschluss vom 21. 12. 2010 geforderten Voraussetzungen nicht konkret und ausführlich beschrieben worden seien.

Das Rekursgericht sprach aus, dass der ordentliche Revisionsrekurs zulässig sei, weil oberstgerichtliche Rechtsprechung zum Inhalt der Dokumentation nach § 6 Abs 1 HeimAufG fehle.

Rechtliche Beurteilung

Der Revisionsrekurs ist zulässig, er ist aber nicht berechtigt.

Der zweite Abschnitt des HeimAufG regelt die „Voraussetzungen einer Freiheitsbeschränkung“. Neben den in § 4 HeimAufG beschriebenen materiellen Voraussetzungen sind in den §§ 5 bis 7 HeimAufG formelle Voraussetzungen normiert, wozu die in § 6 HeimAufG genannte Dokumentationpflicht gehört. Diese ist im Zusammenhang mit Art 5 Abs 1 EMRK und dem (Art 1 Abs 2, Art 2 Abs 1) PersFrG zu sehen. Danach muss jeder Freiheitsentzug auf die „gesetzlich vorgeschriebene Weise“ erfolgen. Es wird nicht nur die Einhaltung der einfachgesetzlichen Vorschriften zu einer Bedingung der Verfassungsmäßigkeit des Freiheitsentzugs; die Formulierung „gesetzlich vorgeschriebene Weise“ enthält auch eine Verpflichtung des Gesetzgebers, entsprechende Verfahrensregelungen zu erlassen. Wesentlich ist aber auch, dass das Verfahren über jenes prozessuale Instrumentarium verfügt, welches eine hinreichende Abklärung des maßgeblichen Sachverhalts ermöglicht. Die Überprüfbarkeit formeller Zulässigkeitsvoraussetzungen leitet sich aus den verfassungsrechtlichen Anforderungen einer umfassenden Rechtmäßigkeitskontrolle freiheitsentziehender Maßnahmen ab. Die in § 6 HeimAufG normierte Dokumentationspflicht dient dazu, die spätere Unaufklärbarkeit von Sachverhalten zu vermeiden, da sie die Ermittlung der im Rechtsschutzverfahren erforderlichen Tatsachengrundlagen erleichtert (Barth, Spezielle Fragen zum Gerichtsverfahren nach HeimAufG in RZ 2006, 2 [6]; Strickmann, Heimaufenthaltsrecht, 151). Sie ist überdies ein Instrument der Qualitätssicherung und stärkt die Bewohnerrechte (Strickmann aaO, 131; Zierl/Wall/Zeinhofer, Heimrecht, Band 1³, 173). Die Verpflichtung dient nicht zuletzt auch der Kontrolle solcher Maßnahmen durch den Bewohnervertreter und das Gericht (RV 353 BlgNR XXII. GP, 12; Strickmann aaO, 131).

Nach § 6 Abs 1 HeimAufG sind der Grund, die Art, der Beginn und die Dauer der Freiheitsbeschränkung schriftlich zu dokumentieren. Ärztliche Zeugnisse und der Nachweis über die notwendigen Verständigungen sind diesen Aufzeichnungen anzuschließen.

Im vorliegenden Fall ist nur strittig, ob die an sich vom Erstgericht unter bestimmten Voraussetzungen für zulässig erklärte Freiheitsbeschränkung des Bewohners dadurch unzulässig wird, dass der Grund für das Einsperren des Bewohners in seinem Zimmer allein ohne Begleitung eines Betreuers, also die Angabe der konkreten Gefährdung des Betreuers, nicht in der Dokumentation angegeben wurde.

Die Dokumentationspflicht nach § 6 HeimAufG ist ebenso wie die Pflicht zur Verständigung des Vertreters des Bewohners nach § 7 Abs 2 HeimAufG als formelle Voraussetzung einer Freiheitsbeschränkung normiert. Zu § 7 Abs 2 HeimAufG hat der Oberste Gerichtshof bereits dahin Stellung genommen, dass die Unterlassung der Verständigung kein bloßer Verstoß gegen eine Ordnungsvorschrift ist. Sie bewirkt die Unzulässigkeit der Maßnahme. Diese dauert bis zu dem Zeitpunkt an, in welchem der Vertreter des Bewohners tatsächlich Kenntnis von der angegebenen Freiheitsbeschränkung erlangt (RIS‑Justiz RS0121228).

Da sich die Frage der Unzulässigkeit einer Freiheitsbeschränkung auf Grund eines gravierenden Mangels in der Dokumentation erst bei oder nach Setzen der Maßnahmen stellen kann, kann der Fall, dass zum Schutz des Bewohners die an sich zulässige Maßnahme dennoch aufrecht bleiben muss, nicht eintreten.

Im Schrifttum wird überwiegend die Meinung vertreten, dass gravierende Dokumentationsmängel zur Rechtswidrigkeit der Freiheitsbeschränkung führen (Barth Freiheitsbeschränkung durch Medikamente in iFamZ 2011, 88; Zierl/Wall/Zeinhofer aaO, 173, 215; Strickmann aaO, 131 und 151; aA Klaushofer, Heimaufenthaltsgesetz: Ein erster Überblick in ZfV 2004/1229, 590, der die Verletzung der Dokumentationspflichten nach dem HeimAufG als sanktionslos bezeichnet).

Ihren dargelegten Zweck kann eine Dokumentation nur dann erfüllen, wenn sie den im Gesetz genannten Inhalt aufweist, also insbesondere den Grund für die Freiheitsbeschränkung in einer Weise anführt, dass beurteilt werden kann, ob die ‑ hier vom Gericht bereits festgesetzten ‑ Zulässigkeitsvoraussetzungen für die Freiheitsbeschränkung im Einzelfall vorlagen. Wie detailliert dies geschehen muss, um den Sachverhalt ausreichend beurteilen zu können, hängt von den Umständen des Einzelfalls ab. Je absehbarer und gleichbleibender die zur Freiheitsbeschränkung führenden Verhaltensweisen des Bewohners verlaufen, desto geringere Anforderungen sind an die Spezifikationen in der Dokumentation zu stellen. Je größer die Bandbreite des vom Bewohner gezeigten Verhaltens ist und je weniger absehbar ist, ob es zu einer Gefährdung kommt, desto genauer muss darauf eingegangen werden, welche konkrete Gefährdung die gesetzten Maßnahmen notwendig machte und welche anderen Mittel vergebens versucht wurden. Die Dokumentation nach § 6 HeimAufG ist in einem angemessenen zeitlichen Zusammenhang zur Maßnahme vorzunehmen. Fehlt in der Dokumentation eine Angabe zum Grund zur Gänze, so liegt jedenfalls ein derart gravierender Mangel vor, der zur Unzulässigkeit der Maßnahmen führen muss, auch wenn sie an sich zulässig gewesen wäre. Belegen die Angaben in der Dokumentation zum Grund der Maßnahme nicht die Voraussetzungen für den Freiheitsentzug, so ist die Maßnahme unzulässig, weil ansonsten der Dokumentationspflicht der Sinn entzogen wäre.

Eingeschränkt können die dargelegten Grundsätze dann werden, wenn auch nachträglich noch in den relevanten Zeiträumen eindeutig ein Gefährdungszustand, der die Freiheitsbeschränkung zulässig macht, aus anderen Urkunden objektivierbar ist und es in der Dokumentation unterlassen wurde, auf diese zu verweisen. Ergibt sich in der Zusammenschau kein Zweifel am zu Grunde liegenden Sachverhalt, so liegt ein relevanter Dokumentationsmangel, der zur Unzulässigkeit der Maßnahme führen muss, nicht vor (vgl 7 Ob 235/11a).

Die Behebung gravierender Mängel der Dokumentation durch Zeugenaussagen scheidet aus. Naturgemäß können Zeugen wegen der Fülle der Ereignisse nicht über jeden einzelnen Vorfall konkret Auskunft geben, sondern nur pauschal ihr pflichtgemäßes Handeln auf Grund nicht mehr im Detail nachvollziehbarer Situationen bestätigen. Genau dies soll aber nach dem Gesetz nicht genügen.

Diesem Ergebnis steht die Entscheidung 7 Ob 106/11f nicht entgegen. Sie bezog sich auf die Verletzung der Dokumentationspflicht nach § 32 Satz 3 UbG. Eine Überprüfungspflichtverletzung selbst stand dort nicht fest. Es ging lediglich um den kurzen Zeitraum zwischen der Erstanhörung und der Verhandlung, in dem keine Dokumentation der Überprüfung vorlag. Auf Grund der objektivierten Krankheitsbilder bei der Erstanhörung und der Verhandlung war zweifelsfrei auf den Zustand der Patientin in der Zwischenzeit zu schließen.

Im vorliegenden Fall stehen die Verletzungen der Betreuer nicht in einem zeitlichen Zusammenhang mit den relevanten Vorfällen, sie fanden vor dem Beschluss vom 21. 12. 2010, der dennoch grundsätzlich eine Begleitung anordnete, statt. Aus ihnen kann daher nicht auf den konkreten Zustand des Bewohners im Zeitpunkt des Einsperrens geschlossen werden. Mit Beschluss vom 21. 12. 2010 legte das Erstgericht fest, unter welchen Voraussetzungen die Freiheitsbeschränkung zulässig sein sollte. Die Dokumentation hat sich daher daran zu orientieren und demgemäß die Gründe für die ergriffene Maßnahme konkret festzuhalten, damit sie den vom Gesetzgeber geforderten Zweck erfüllt. Da dies nicht geschehen ist, sind die gesetzten Maßnahmen unzulässig. Daran ändert nichts, dass das nun durchgeführte Beweisverfahren ergeben hat, dass (jetzt) bei jedem Einsperren des Bewohners in seinem Zimmer bei Vorliegen einer nicht anders zu bewältigenden Fremdgefährdung oder Autoaggression eine konkrete Gefährdung durch Fremdaggression des Bewohners für die begleitende Betreuungsperson besteht. Es fehlt einerseits der zeitliche Zusammenhang (die beanstandeten Maßnahmen betreffen einen früheren, zum Teil bereits länger zurückliegenden Zeitraum), sodass nicht zwingend feststeht, dass die Fremdgefährdung auch damals gegeben war. Anderseits kann die Dokumentation, wenn sie ihren Zweck erfüllen soll, nicht im Nachhinein durch Ergebnisse eines aufwändigen Beweisverfahrens unter Einholung eines Sachverständigengutachtens „ergänzt“ werden.

Dem Revisionsrekurs ist daher ein Erfolg zu versagen.

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