OGH 10ObS119/11i

OGH10ObS119/11i20.12.2011

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten Dr. Hradil als Vorsitzenden, die Hofräte Dr. Fellinger und Dr. Schramm sowie die fachkundigen Laienrichter Prof. Mag. Dr. Thomas Keppert (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Helmut Tomek (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei M***** D*****, vertreten durch Mag. Markus Hager, Rechtsanwalt in Linz, gegen die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt, 1021 Wien, Friedrich­Hillegeist-Straße 1, vertreten durch Dr. Josef Milchram, Dr. Anton Ehm und Mag. Thomas Mödlagl, Rechtsanwälte in Wien, wegen Invaliditätspension, infolge Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Linz als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 30. August 2011, GZ 11 Rs 102/11s-17, womit infolge Berufung der beklagten Partei das Urteil des Landesgerichts Linz als Arbeits- und Sozialgericht vom 13. Mai 2011, GZ 63 Cgs 45/10w-13, teilweise abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

 

Spruch:

Der Revision wird Folge gegeben.

Die Entscheidungen der Vorinstanzen werden aufgehoben. Die Sozialrechtssache wird zur neuerlichen Entscheidung nach Verfahrensergänzung an das Erstgericht zurückverwiesen.

Die Kosten des Revisionsverfahrens sind weitere Verfahrenskosten.

Text

Begründung

Der am 13. 3. 1952 geborene Kläger erhielt in Mazedonien eine Berufsausbildung zum Stuckateur. In den letzten 15 Jahren vor Antragstellung war er als Arbeiter im Baunebengewerbe und als Maschinenputzer mit zwischenzeitigen saisonbedingten Zeiten der Arbeitslosigkeit in den Wintermonaten beschäftigt. Seit März 2008 bezieht er Pensionsvorschuss.

Er war unmittelbar vor dem Stichtag mindestens 12 Monate arbeitslos gemeldet und hat zum Stichtag mindestens 360 Versicherungsmonate erworben, davon 240 Beitragsmonate der Pflichtversicherung aufgrund einer Erwerbstätigkeit.

Aufgrund seines näher festgestellten, seit Antragstellung bestehenden Leidenszustands kann der Kläger mit der rechten oberen Extremität laufend/dauernd nur noch leichte Arbeiten mit Tragen bis 5 kg und Heben bis 10 kg sowie mittelschwere Arbeiten viertelzeitig mit Tragen bis 10 kg und Heben bis 15 kg verrichten. Mit der linken oberen Extremität kann er laufend/dauernd leichte Arbeiten mit Tragen bis 1 kg und Heben bis 3 kg und bis 10 % leichte Arbeiten mit Tragen bis 3 kg und Heben bis 5 kg verrichten. Die Arbeiten können im Sitzen, Gehen und Stehen ausgeführt werden. Nach einer Stunde Arbeiten im Gehen oder Stehen sollte die Möglichkeit bestehen, sich für zwei bis drei Minuten hinsetzen zu können. Umgekehrt sollte auch nach einer Stunde Arbeiten im Sitzen die Möglichkeit gegeben sein, für zwei bis drei Minuten aufzustehen und/oder zu gehen. Diese zwei oder drei Minuten können dazu verwendet werden, Arbeitsmaterial zu beschaffen. Durch die Lageänderung soll die paravertebrale Muskulatur entspannt werden. Idealerweise könnten in dieser Zeit alternativ dazu auch Dehnübungen durchgeführt werden. Dem Kläger sind 40 Stunden Arbeitszeit pro Woche, nicht aber Akkord- und Schichtarbeit zumutbar. Arbeiten, die über einen durchschnittlichen Zeitdruck (normales Arbeitstempo) hinausgehen, kann er nicht mehr durchführen. Ausgeschlossen sind Tätigkeiten in ausschließlich gebückter, in vorwiegend hockender oder kniender Haltung, auf Leitern oder Gerüsten und in schwindelexponierten Lagen, mit abruptem Ziehen, Drücken, Pressen und Stoßen, mit Erschütterungen des ganzen Körpers, unter extremer Zugluft sowie unter Nässe-, Hitze- und Kälteexposition, unter starken Temperaturschwankungen oder in einem Milieu, das die Atemwege reizt (Staub, Rauch, Kälte und Chemikalien) und Tätigkeiten, bei denen eine vermehrte Eigeninitiative, Eigenverantwortung und Entscheidungsfähigkeit erforderlich ist; Überkopfarbeiten mit der linken oberen Extremität sind einzuschränken. Kognitive Einschränkungen sind nicht gegeben. Er kann eine Wegstrecke von 500 m in 20 bis 25 Minuten (allenfalls mit kurzer Unterbrechung) zurücklegen.

Leidensbedingte Krankenstände von einer Woche pro Jahr sind zu erwarten. Eine Verbesserung des Leistungskalküls kann „vermutlich mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit“ ausgeschlossen werden.

Der Kläger kann die im Beobachtungszeitraum ausgeübten Tätigkeiten, insbesondere jene überwiegend ausgeübte eines Spritzgipsputzers, aufgrund seines eingeschränkten Leistungskalküls nicht mehr ausüben. Er kann noch leichte Hilfstätigkeiten, so etwa Tischarbeiten, Tischmontagetätigkeiten, leichte Verpackungsarbeiten, die Tätigkeiten eines Tagportiers oder eines Wächters verrichten. Es existieren dafür weit über 100 freie oder besetzte Arbeitsplätze, die dem Kläger noch zumutbar sind. Er muss auch bei Ausschöpfung aller Serviceleistungen des AMS und bei eigener adäquater Motivation, um eine Arbeitsstelle zu erhalten, mit einer Wartezeit von weit länger als einem Jahr rechnen. Die konkrete „Vermittelwahrscheinlichkeit ist als gegen Null gehend“ zu beurteilen.

Mit Bescheid vom 30. 12. 2009 lehnte die beklagte Partei den Antrag des Klägers auf Zuerkennung der Invaliditätspension ab.

Das Erstgericht erkannte die beklagte Partei schuldig, dem Kläger ab 1. 1. 2011 die Invaliditätspension im gesetzlichen Ausmaß zu gewähren. Es traf die eingangs wiedergegebenen Feststellungen. Rechtlich ging es davon aus, dass die Voraussetzungen der „Härtefallregelung“ des § 255 Abs 3a ASVG erfüllt seien. Da der Kläger nur noch leichte Arbeiten mit durchschnittlichem Zeitdruck verbunden mit einem mehrmaligem Haltungswechsel verrichten könne, sei die Voraussetzung einer Tätigkeit mit geringstem Anforderungsprofil iSd § 255 Abs 3a ASVG gegeben.

Das Berufungsgericht gab der von der beklagten Partei gegen diese Entscheidung erhobenen Berufung teilweise Folge. Es sprach aus, dass der Anspruch des Klägers auf Invaliditätspension im gesetzlichen Ausmaß ab 1. 1. 2011 dem Grunde nach für den Zeitraum vom 1. 1. 2011 bis 31. 12. 2012 zu Recht besteht, und trug der beklagten Partei die Erbringung einer vorläufigen Zahlung von 300 EUR monatlich auf. Das auf Gewährung einer unbefristeten Invaliditätspension gerichtete Mehrbegehren wies es ab. Rechtlich ging es davon aus, im Berufungsverfahren sei im Wesentlichen die Frage strittig, ob der Kläger nur noch in der Lage sei, die in § 255 Abs 3b ASVG umschriebenen Tätigkeiten mit geringstem Anforderungsprofil auszuüben. Dies seien leichte körperliche Tätigkeiten, die bei durchschnittlichem Zeitdruck und vorwiegend in sitzender Haltung ausgeübt werden und/oder mehrmals täglich einen Haltungswechsel ermöglichen. § 255 Abs 3b ASVG sei dahin auszulegen, dass Tätigkeiten mit geringstem Anforderungsprofil (nur) körperlich leichte Tätigkeiten seien, die bei durchschnittlichem Zeitdruck und vorwiegend in sitzender Haltung ausgeübt werden oder (alternativ) mehrmals täglich einen Haltungswechsel erfordern. Es seien zwei Gruppen von „Tätigkeiten mit geringstem Anforderungsprofil“ zu unterscheiden und zwar einerseits Tätigkeiten, die vorwiegend in sitzender Haltung ausgeübt werden und während der Ausübung der Tätigkeit mehrmals täglich einen Haltungswechsel ermöglichen; andererseits Tätigkeiten, die vorwiegend in sitzender Haltung ausgeübt werden oder mehrmals täglich einen Haltungswechsel ermöglichen. Nicht nur jemand, der mehrmals täglich einen Haltungswechsel benötige, sondern auch jemand, der nur noch Tätigkeiten ausüben könne, die vorwiegendes Sitzen erfordern - unabhängig davon, ob ein Haltungswechsel erforderlich sei -, habe Anspruch auf die Härtefallregelung. Dass nach dem festgestellten Sachverhalt beim Kläger ein Haltungswechsel erfolgen „soll“, bedeute nicht, dass sich ein Haltungswechsel lediglich günstig auf das Beschwerdebild auswirke, sondern sei so zu verstehen, dass der Haltungwechsel medizinisch notwendig sei. Der Kläger könne zwar leichte Arbeiten nicht nur im Sitzen, sondern auch im Gehen oder Stehen ausführen, müsse jedoch alle 60 Minuten einen Haltungswechsel durchführen. Dies reiche somit aus, um die Anspruchsvoraussetzungen des § 255 Abs 3a iVm Abs 3b ASVG zu erfüllen. Die dem Kläger noch möglichen leichten Hilfstätigkeiten - zB Tischarbeiten, Tischmontagetätigkeiten, leichte Verpackungsarbeiten, die Tätigkeiten eines Tagportiers oder eines Wächters - seien durchwegs leichte körperliche Tätigkeiten ohne besonderen bzw überdurchschnittlichen Zeitdruck, seien vorwiegend in sitzender Haltung auszuüben und/oder ermöglichten mehrmals täglich einen Haltungswechsel. Da die Invaliditätspension längstens für die Dauer von 24 Monaten ab dem Stichtag zuzuerkennen sei und lediglich feststehe, dass eine Verbesserung des Leistungskalküls vermutlich mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen werden könne, sei dem Kläger die Pension nur befristet für einen Zeitraum von zwei Jahren zu gewähren.

Das Berufungsgericht sprach aus, dass die ordentliche Revision zulässig sei, weil zur Auslegung des Begriffs „Tätigkeiten mit geringstem Anforderungsprofil“ iSd § 255 Abs 3a und Abs 3b ASVG Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs nicht vorliege.

Gegen diese Entscheidung richtet sich die vom Kläger beantwortete Revision der beklagten Partei wegen unrichtiger rechtlicher Beurteilung mit dem Antrag, das angefochtene Urteil im Sinne einer gänzlichen Abweisung des Klagebegehrens abzuändern. Hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.

Die Revision ist aus dem vom Berufungsgericht genannten Grund zulässig und im Sinne der beschlossenen Aufhebung auch berechtigt.

Die beklagte Partei macht im Wesentlichen geltend, bei dem gegebenen Leistungskalkül von leichten Arbeiten im Sitzen, Gehen und Stehen und einer darauf abgestellten Verweisungstätigkeit sei nicht von solchen Tätigkeiten „mit geringstem Anforderungsprofil“ auszugehen, die der Gesetzgeber dieser Bestimmung zugrunde legen habe wollen. Der Kläger sei - auch unter Berücksichtigung der unterschiedlichen Hebe- und Trageleistungen der oberen linken und rechten Extremität - noch in der Lage, neben den Tätigkeiten eines Tagportiers oder eines Wächters auch Tischarbeiten, Tischmontagetätigkeiten und leichte Verpackungsarbeiten zu verrichten. Diese Tätigkeiten seien keine solchen mit „geringstem Anforderungsprofil“. Hinsichtlich des Wechsels der Körperhaltung werde ausdrücklich bestritten, dass dessen im Anlassfall erforderliche Häufigkeit jenes Ausmaß erreicht, welches der Bestimmung des § 255 Abs 3b ASVG zugrunde liege. Unter einem „Haltungswechsel“ im Sinne der ersten Fallvariante dieser Bestimmung sei das Aufstehen von zwei bis vier Mal pro Stunde zu verstehen. Bei der zweiten Fallvariante komme der Häufigkeit des Körperhaltungswechsels ein noch viel größerer Stellenwert zu.

Rechtliche Beurteilung

Der erkennende Senat hat dazu erwogen:

1. Nach § 255 Abs 3 ASVG gilt ein Versicherter der - wie unstrittig der Kläger - nicht überwiegend in erlernten (angelernten) Berufen iSd Abs 1 und Abs 2 tätig war, als invalid, wenn er infolge seines körperlichen oder geistigen Zustands nicht mehr im Stande ist, durch eine Tätigkeit, die auf dem Arbeitsmarkt noch bewertet wird und die ihm unter billiger Berücksichtigung der von ihm ausgeübten Tätigkeiten zugemutet werden kann, wenigstens die Hälfte des Entgelts zu erwerben, das ein körperlich und geistig gesunder Versicherter regelmäßig durch eine solche Tätigkeit zu erzielen pflegt.

1.1 Versicherten in ungelernten Berufen gebührt - sofern, wie beim Kläger, die Voraussetzungen des Abs 4 nicht erfüllt sind - eine Invaliditätspension daher erst dann, wenn sie nicht mehr im Stande sind, eine auf dem Arbeitsmarkt noch bewertete Tätigkeit zu verrichten. Das Verweisungsfeld ist somit mit dem gesamten Arbeitsmarkt ident (Sonntag in Sonntag, ASVG² § 255 Rz 126 mwN).

2. Nach § 255 Abs 3a ASVG in der Fassung des BudgetbegleitG 2011 (BGBl I 2010/111) gilt eine versicherte Person auch dann als invalid, wenn sie

1. das 50. Lebensjahr vollendet hat,

2. mindestens 12 Monate unmittelbar vor dem Stichtag (§ 223 Abs 2) als arbeitslos iSd § 12 AlVG gemeldet war,

3. mindestens 360 Versicherungsmonate, davon 240 Beitragsmonate der Pflichtversicherung aufgrund einer Erwerbstätigkeit, erworben hat und

4. nur mehr Tätigkeiten mit geringstem Anforderungsprofil, die auf dem Arbeitsmarkt noch bewertet sind, ausüben kann und zu erwarten ist, dass ein Arbeitsplatz in einer der physischen und psychischen Beeinträchtigung entsprechenden Entfernung von ihrem Wohnort innerhalb eines Jahres nicht erlangt werden kann.

2.1 Unter den Tätigkeiten nach § 255 Abs 3a Z 4 ASVG sind nach der Legaldefinition des § 255 Abs 3b ASVG leichte körperliche Tätigkeiten, die bei durchschnittlichem Zeitdruck und vorwiegend in sitzender Haltung ausgeübt werden und/oder mehrmals täglich einen Haltungswechsel ermöglichen, zu verstehen.

2.2 Die Bestimmung des § 255 Abs 3a iVm Abs 3b ASVG trat gemäß der Schlussbestimmung des § 658 Abs 1 ASVG mit 1. 1. 2011 in Kraft und wird mit Ablauf des 31. 12. 2015 wieder außer Kraft treten (§ 658 Abs 2 ASVG).

2.3 Nach den Gesetzesmaterialien (RV 981 BlgNR 24. GP 205) soll mit dieser neuen Härtefallregelung für stark leistungseingeschränkte ungelernte ArbeitnehmerInnen und für bestimmte selbständig Erwerbstätige (nämlich Bäuerinnen und Bauern), die das 50. Lebensjahr erreicht bzw überschritten, aber das 57. Lebensjahr noch nicht vollendet haben oder die die Voraussetzungen für den besonderen Berufsschutz etwa nach § 255 Abs 4 ASVG nicht erfüllen, ein spezieller Verweisungsschutz die derzeit judizierte weite Verweisung auf den gesamten Arbeitsmarkt zu einer Verweisbarkeit in einem engen Segment einschränken und so diesen Menschen einen Zugang zu einer Invaliditäts- oder Erwerbsunfähigkeitspension bzw zu einer entsprechenden Rehabilitation öffnen. Ziel der vorgeschlagenen Regelung ist es also, jene Berufsverweisungen, die bisher zu Härtefällen geführt haben, zu vermeiden. Unter Tätigkeiten mit geringstem Anforderungsprofil sind leichte Tätigkeiten vorwiegend in sitzender Haltung und bei durchschnittlichem Zeitdruck zu verstehen, wobei ein Haltungswechsel möglich sein muss. Die neue Härtefallregelung wird in der Praxis für Bäuerinnen und Bauern sowie ungelernte ArbeiterInnen, die ein sehr stark medizinisch eingeschränktes Leistungskalkül haben (dh nur mehr leichte Tätigkeiten im Sitzen oder in einem nicht kontinuierlichen Arbeitsablauf ausüben können), relevant werden und soll auf eine sehr kleine Zahl von Härtefällen beschränkt bleiben.

3. Strittig ist die Auslegung der zitierten Bestimmung des § 255 Abs 3a iVm Abs 3b ASVG, insbesondere des Begriffs „Tätigkeiten mit geringstem Anforderungsprofil“.

3.1 Wenn die Auslegung einer Norm mit Hilfe des Wortlauts, des Bedeutungszusammenhangs und nach der Absicht des Gesetzgebers zu widersprechenden Ergebnissen führt, kommt letztlich der teleologischen Auslegung, die den Sinn einer Bestimmung unter Bedachtnahme auf den Zweck der Regelung zu erfassen sucht, das entscheidende Gewicht zu (vgl Posch in Schwimann, ABGB3 § 6 Rz 5 ff mwN).

3.2 Im Recht der Pensionsversicherung gilt der Grundsatz der „abstrakten Verweisung“, wonach es für die Frage der Invalidität, Berufsunfähigkeit und Erwerbsunfähigkeit ohne Bedeutung ist, ob der Versicherte im Verweisungsberuf auch tatsächlich einen Dienstposten finden wird (stRsp seit 10 ObS 50/87, SSV-NF 1/23). Ungelernte Arbeiter müssen sich gemäß § 255 Abs 3 ASVG auf alle Tätigkeiten des (allgemeinen) Arbeitsmarkts verweisen lassen, die sie aufgrund ihres Leistungskalküls noch ausüben können. Ungelernten Arbeitern gebührt somit erst dann eine Pension, wenn sie sämtliche der am allgemeinen Arbeitsmarkt angebotenen Tätigkeiten nicht (mehr) ausüben können. Dazu gehören auch leichte Tätigkeiten wie beispielsweise Botengänger, Museumswärter oder Parkgaragenkassier. Insbesondere bei schwereren gesundheitlichen Beeinträchtigungen sinken naturgemäß die Chancen, eine Beschäftigung zu erlangen oder weiterbeschäftigt zu werden. So ist mehr als die Hälfte der Invaliditätspensionswerber am Pensionsstichtag bereits längere Zeit arbeitslos oder im Krankenstand. Bei schweren Erkrankungen ist der Anteil noch höher.

3.3 Die neue Härtefallregelung des § 255 Abs 3a ASVG sieht vor, dass auch Versicherte, die noch in der Lage sind, am allgemeinen Arbeitsmarkt Verweisungstätigkeiten, von diesen jedoch nur noch die besonders leichten (Tätigkeiten mit dem „geringsten Anforderungsprofil“) zu verrichten, künftig als invalid (erwerbsunfähig) gelten (Ivansits/Weissensteiner, Die Härtefallregelung - Zugangserleichterungen in die Invaliditätspension für Versicherte ab 50, DRdA 2011, 175 ff).

3.4 Die Legaldefinition umschreibt die „Tätigkeiten mit geringstem Anforderungsprofil“ nach ihrem Schweregrad, dem mit ihnen verbundenen Zeitdruck und der Körperhaltung. Es handelt sich dabei nach den bereits zitierten Ausführungen in der RV (981 BlgNR 24. GP 206) um leichte Tätigkeiten vorwiegend in sitzender Haltung und bei durchschnittlichem Zeitdruck, wobei ein Haltungswechsel möglich sein muss. Ziel der Härtefallregelung ist die Gewährung einer Pension aus dem Versicherungsfall der geminderten Arbeitsfähigkeit an Personen, die - wie schon ausgeführt - ein sehr stark eingeschränktes medizinisches Leistungskalkül haben. Die Definition in Abs 3b beschreibt allerdings nicht das medizinische (Rest-)Leistungskalkül des Versicherten, sondern jene Tätigkeiten unter allen in Betracht kommenden Verweisungstätigkeiten, die das leichteste Anforderungsprofil erfüllen. Anders ausgedrückt: Um den Anspruchsvoraussetzungen der Härtefallregelung zu genügen, darf der Pensionswerber nur noch in der Lage sein, die in § 255 Abs 3b ASVG umschriebenen Tätigkeiten und sonst keine weiteren Verweisungstätigkeiten auszuüben (Ivansits/Weissensteiner aaO DRdA 2011, 177).

3.5 Eine (Verweisungs-)Tätigkeit mit geringstem Anforderungsprofil kann daher nur dann vorliegen, wenn sie leicht ist, bei durchschnittlichem Zeitdruck und vorwiegend in sitzender Haltung ausgeübt werden kann und/oder mehrmals täglich einen Haltungswechsel ermöglicht. Die Formulierung „und/oder“ deutet auf das Vorliegen kumulativer, aber auch alternativer Anspruchsvoraussetzungen hin. Eine (Verweisungs-)Tätigkeit mit dem geringsten Anforderungsprofil ist demnach eine leichte körperliche Tätigkeit, die bei durchschnittlichem Zeitdruck und vorwiegend in sitzender Haltung ausgeübt wird und (kumulativ) mehrmals täglich einen Haltungswechsel ermöglicht (erste Fallgruppe). Das Wort „oder“ für die zweite Fallgruppe ist nicht als Alternative zu leichten Tätigkeiten oder zu Tätigkeiten unter durchschnittlichem Zeitdruck, sondern als Alternative zu vorwiegend in sitzender Haltung ausgeübten Tätigkeiten zu verstehen. Es könnte daher die Härtefallregelung dahin verstanden werden, dass die zweite Fallgruppe der Tätigkeiten mit dem geringsten Anforderungsprofil eine leichte körperliche Tätigkeit, die bei durchschnittlichem Zeitdruck ausgeübt wird und mehrmals täglich einen Haltungswechsel ermöglicht, umfasst. Bei einer solchen Auslegung würde es sich aber bei den beiden Fallgruppen im Ergebnis um keinen alternativen Kreis von Anspruchsberechtigten handeln, weil der Kreis der Anspruchsberechtigten nach der ersten Fallgruppe jedenfalls auch von der zweiten Fallgruppe umfasst wäre. Im Übrigen würde bei einer solchen Auslegung auch eine grundsätzlich im Gehen ausgeübte Tätigkeit, die von einer - mitunter auch nur mehrmals täglich einzunehmenden - stehenden Tätigkeit abgelöst wird, als Tätigkeit mit dem geringsten Anforderungsprofil anzusehen und damit bereits der Härtefallregelung zu unterstellen sein. Eine solche Tätigkeit stellt jedoch nach Ansicht des erkennenden Senats keine Tätigkeit mit geringstem Anforderungsprofil dar und es findet die gegenteilige Ansicht auch in den zitierten Gesetzesmaterialien keine Deckung.

3.6 Ivansits/Weissensteiner aaO DRdA 2011, 177 f vertreten in diesem Zusammenhang die Auffassung, dass folgende zwei Gruppen von „Tätigkeiten mit geringstem Anforderungsprofil“ zu unterscheiden seien:

- leichte körperliche Tätigkeiten, die bei durchschnittlichem Zeitdruck und vorwiegend in sitzender Haltung ausgeübt werden und (= während der Ausübung der Tätigkeit) mehrmals täglich einen Haltungswechsel ermöglichen (zB die Tätigkeit eines Parkgaragenkassiers);

- leichte (körperliche) Tätigkeiten, die vorwiegend in sitzender Haltung ausgeübt werden, oder (= nicht während der Ausübung der Tätigkeit) mehrmals einen Haltungswechsel ermöglichen (zB die Tätigkeit einer Näherin).

Die Alternative bei dieser Auslegungsvariante besteht somit darin, ob der mehrmalige tägliche Haltungswechsel während der Ausübung der Tätigkeit möglich ist oder nicht. Für diese Auslegung findet sich im Gesetzeswortlaut des § 255 Abs 3b ASVG durch die Bezugnahme auf die „ausgeübte Tätigkeit“ eine gewisse Stütze. Für diese Auslegung spricht aber auch, dass in den Gesetzesmaterialien in diesem Zusammenhang ausdrücklich auf einen „nicht-kontinuierlichen Arbeitsablauf“ Bezug genommen wird. Der erkennende Senat folgt daher auch in der Frage der Auslegung des Begriffs „Tätigkeiten mit dem geringsten Anforderungsprofil“ der Ansicht von Ivansits/Weissensteiner aaO 178, wonach es sich dabei einerseits um leichte körperliche Tätigkeiten, die bei durchschnittlichem Zeitdruck und vorwiegend in sitzender Haltung ausgeübt werden und (= während der Ausübung der Tätigkeit) mehrmals täglich einen Haltungswechsel ermöglichen (erste Fallgruppe) und andererseits um leichte körperliche Tätigkeiten, die bei durchschnittlichem Zeitdruck vorwiegend in sitzender Haltung ausgeübt werden oder (= nicht während der Ausübung der Tätigkeit) mehrmals täglich einen Haltungswechsel ermöglichen, handelt. Mit dieser Auslegung wird nach Ansicht des erkennenden Senats im Hinblick auf die vorliegende unklare Gesetzeslage der ausdrücklich erklärten Absicht des Gesetzgebers, die Härtefallregelung nur für eine sehr kleine Zahl sehr stark leistungseingeschränkter Versicherter schaffen zu wollen, sowie dem Zweck der Regelung (als „Härtefallregelung“) am ehesten Rechnung getragen (in diesem Sinn auch 10 ObS 105/11f und 10 ObS 113/11g).

Unter dem Begriff „Haltungswechsel“ im gegebenen Zusammenhang ist ein kurzes Aufstehen von zwei bis vier Mal pro Stunde zu verstehen (Ivansits/Weissensteiner aaO 177).

4. Wie schon ausgeführt, beschreibt die Legaldefinition der Tätigkeiten mit dem geringsten Anforderungsprofil nicht das für eine Anwendung der Härtefallregelung noch zulässige medizinische (Rest-)Leistungskalkül des Versicherten, sondern das Anforderungsprofil für jene Tätigkeiten unter allen auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt in Betracht kommenden Verweisungstätigkeiten, die das leichteste Anforderungsprofil erfüllen und in diesem Fall nicht als mögliche und zumutbare Verweisungstätigkeiten in Betracht kommen. Entscheidendes Kriterium für die Anwendung der Härtefallregelung ist daher nicht bereits die Einschränkung des medizinischen Restleistungskalküls der versicherten Person, sondern - wie der Gesetzeswortlaut („Tätigkeiten mit dem geringsten Anforderungsprofil“) und insbesondere die zitierten Gesetzesmaterialien zeigen - die vom Gesetzgeber im Hinblick auf das eingeschränkte Leistungskalkül der versicherten Person vorgesehene Einschränkung der Verweisbarkeit der versicherten Person auf dem Arbeitsmarkt.

5. Aus diesen Ausführungen ergibt sich, dass die Sache noch nicht spruchreif ist.

Die Ansicht des Berufungsgerichts, die dem Kläger noch möglichen Verweisungstätigkeiten entsprächen den Voraussetzungen des § 255 Abs 3b ASVG, stimmt mit dem dargelegten Verständnis dieser Bestimmung nicht überein. Das Erstgericht wird daher im fortzusetzenden Verfahren zu prüfen haben, ob der Kläger nur noch in der Lage ist, die in § 255 Abs 3a ASVG umschriebenen Tätigkeiten (wie sie im Sinne der Ausführungen zu den Punkten 3.5 und 3.6 zu verstehen sind) und sonst keine weiteren Verweisungstätigkeiten auszuüben. Sollten etwa leichte Tätigkeiten im Gehen oder Stehen vorhanden sein, die dem Kläger trotz seiner weiteren Einschränkungen möglich sind, wären die Voraussetzungen des § 255 Abs 3b ASVG nicht erfüllt. Erst wenn feststehen sollte, dass der Kläger nur noch im Stande ist, die in § 255 Abs 3b ASVG umschriebenen und darüber hinaus keine weitere Verweisungstätigkeiten auszuüben, wäre das Vorliegen der Voraussetzungen für die Anwendung der Härtefallregelung zu bejahen, wenn weiters zu erwarten ist, dass ein Arbeitsplatz in einer der physischen und psychischen Beeinträchtigung entsprechenden Entfernung vom Wohnort innerhalb eines Jahres nicht erlangt werden kann. Zur Beantwortung dieser Frage bedarf es aber ergänzender Feststellungen zum Anforderungsprofil der dem Kläger noch möglichen Verweisungstätigkeiten.

Im fortgesetzten Verfahren wird im Hinblick auf das Vorbringen der Revisionswerberin auch noch abzuklären sein, ob die Feststellung, ein Haltungswechsel „solle“ möglich sein, die medizinische Notwendigkeit des Haltungswechsels beschreibt oder lediglich zum Ausdruck bringt, dass sich ein Haltungswechsel günstig auf das Beschwerdebild auswirkt.

Aus diesen Gründen erweist sich die Aufhebung der Entscheidungen der Vorinstanzen als unumgänglich.

Der Vorbehalt der Entscheidung über den Ersatz der Verfahrenskosten beruht auf § 52 Abs 1 ZPO.

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