OGH 10ObS113/11g

OGH10ObS113/11g20.12.2011

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten Dr. Hradil als Vorsitzenden, die Hofräte Dr. Fellinger und Dr. Hoch sowie die fachkundigen Laienrichter Prof. Mag. Dr. Thomas Keppert (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Helmut Tomek (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei B*****, vertreten durch Dr. Josef Pfurtscheller, Rechtsanwalt in Innsbruck, gegen die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt, 1021 Wien, Friedrich-Hillegeist-Straße 1, vertreten durch Dr. Josef Milchram und andere Rechtsanwälte in Wien, wegen Invaliditätspension, infolge Rekurses der beklagten Partei gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts Innsbruck als Berufungsgericht vom 18. August 2011, GZ 25 Rs 59/11d-38, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Landesgerichts Innsbruck als Arbeits- und Sozialgericht vom 2. März 2011, GZ 42 Cgs 320/08p-25, aufgehoben wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

 

Spruch:

Dem Rekurs wird nicht Folge gegeben.

Die Kosten der Rekursbeantwortung sind weitere Verfahrenskosten.

Text

Begründung

Die am 22. 5. 1952 geborene Klägerin war in den letzten 15 Jahren vor dem Stichtag insgesamt 40 Monate als Verkäuferin tätig. Sie kann aufgrund ihrer Leidenszustände im Wesentlichen noch leichte körperliche und geistige Arbeiten unter zeitweise besonderem bzw überdurchschnittlichem Zeitdruck im Gehen, Stehen und Sitzen verrichten. Ein stündlicher Wechsel der Körperhaltung für ein bis zwei Minuten ist erforderlich, wobei jedoch eine Unterbrechung der Arbeitstätigkeit nicht notwendig ist. Unter Einhaltung der üblichen Pausen ist eine tägliche Arbeitszeit von acht Stunden zumutbar. Es bestehen keine Einschränkungen hinsichtlich des Anmarschweges. Regelmäßige Krankenstände im Gesamtausmaß von sieben Wochen oder mehr pro Jahr sind mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht zu erwarten.

Mit Bescheid vom 9. 12. 2008 lehnte die beklagte Pensionsversicherungsanstalt den Antrag der Klägerin auf Zuerkennung der Invaliditätspension ab.

Das Erstgericht wies das dagegen erhobene und auf die Gewährung der abgelehnten Leistung ab 1. 10. 2008 gerichtete Klagebegehren ab. Es verwies in seiner rechtlichen Beurteilung darauf, dass die Klägerin keinen Berufs- oder Tätigkeitsschutz genieße und daher gemäß § 255 Abs 3 ASVG auf den allgemeinen Arbeitsmarkt verweisbar sei. Da sie dort noch die Verweisungstätigkeiten einer Portierin, Eintrittskartenkassiererin, Parkgaragenwärterin oder Museumswärterin ausüben könne, sei sie nicht invalide iSd § 255 Abs 3 ASVG.

Das Berufungsgericht bestätigte (rechtskräftig) dieses Urteil im Umfang der Abweisung des Begehrens auf Zuerkennung der Invaliditätspension für den Zeitraum vom 1. 10. 2008 bis 31. 12. 2010 als Teilurteil, hob das Ersturteil im Übrigen, also hinsichtlich der Abweisung des Begehrens auf Zuerkennung der Invaliditätspension ab 1. 1. 2011, auf und verwies die Sozialrechtssache insoweit an das Erstgericht zur neuerlichen Entscheidung nach Verfahrensergänzung zurück. Es teilte die Rechtsansicht des Erstgerichts, dass die Klägerin die Voraussetzungen für die Gewährung einer Invalidiätspension nach § 255 Abs 3 ASVG nicht erfülle. Das Erstgericht habe sich jedoch nicht mit der Frage auseinandergesetzt, ob die Klägerin die Voraussetzungen für die Gewährung einer Invaliditätspension nach der mit dem BudgetbegleitG 2011, BGBl I 2010/111, neu geschaffenen und seit 1. 1. 2011 in Geltung stehenden Bestimmung des § 255 Abs 3a und Abs 3b ASVG („Härtefallregelung“) erfülle. Nach § 255 Abs 3a ASVG gelte eine versicherte Person auch dann als invalid, wenn sie nicht überwiegend in erlernten oder angelernten Berufen iSd Abs 1 und Abs 2 tätig war, aber das 50. Lebensjahr vollendet hat (Z 1), mindestens zwölf Monate unmittelbar vor dem Stichtag (§ 223 Abs 2) als arbeitslos iSd § 12 AlVG gemeldet war (Z 2), mindestens 360 Versicherungsmonate, davon mindestens 240 Beitragsmonate der Pflichtversicherung aufgrund einer Erwerbstätigkeit, erworben hat (Z 3) und nur mehr Tätigkeiten mit geringstem Anforderungsprofil, die auf dem Arbeitsmarkt noch bewertet sind, ausüben kann und zu erwarten ist, dass ein Arbeitsplatz in einer der psychischen und physischen Beeinträchtigung entsprechenden Entfernung von ihrem Wohnort innerhalb eines Jahres nicht erlangt werden kann (Z 4). Unter den Tätigkeiten nach § 255 Abs 3a Z 4 ASVG seien gemäß der Legaldefinition des § 255 Abs 3b ASVG leichte körperliche Arbeiten, die bei durchschnittlichem Zeitdruck und vorwiegend in sitzender Haltung ausgeübt werden und/oder mehrmals täglich einen Haltungswechsel ermöglichen, zu verstehen.

Die Klägerin erfülle zum Stichtag 1. 1. 2011 jedenfalls die in § 255 Abs 3a Z 1 ASVG vorgesehene Anspruchsvoraussetzung (Vollendung des 50. Lebensjahres). Sie erfülle als Pensionsvorschussbezieherin grundsätzlich auch die Anspruchsvoraussetzung des § 255 Abs 3a Z 2 ASVG, wonach sie als arbeitslos iSd § 12 AlVG gemeldet sein müsse. Insoweit sei jedoch noch zu klären, ob die Klägerin auch die vorgesehene Meldedauer von zwölf Monaten unmittelbar vor dem Stichtag erfülle. Weiters erfülle die Klägerin, die (abgesehen von weiteren Einschränkungen) nur noch leichte körperliche Arbeiten unter zeitweise besonderem bzw überdurchschnittlichem Zeitdruck verrichten könne und zudem mehrmals täglich - keine Arbeitsunterbrechungen erfordernde - Haltungswechsel vornehmen müsse, die Anspruchsvoraussetzung des § 255 Abs 3a Z 4 ASVG, wonach sie nur mehr Tätigkeiten mit geringstem Anforderungsprofil ausüben könne. Es sei in diesem Zusammenhang noch zu klären, ob die Klägerin auch die weitere Voraussetzung erfülle, dass zu erwarten sei, dass sie innerhalb eines Jahres einen für sie in Betracht kommenden Arbeitsplatz in einer ihrer psychischen und physischen Beeinträchtigung entsprechenden Entfernung von ihrem Wohnort nicht erlangen werden könne. Schließlich sei noch das Vorliegen der Anspruchsvoraussetzung des § 255 Abs 3a Z 3 ASVG (Erwerb der erforderlichen Versicherungs- bzw Beitragsmonate) durch die Klägerin zu prüfen.

Das Berufungsgericht sprach aus, dass der Rekurs gegen den Aufhebungsbeschluss zulässig sei, weil zur Frage, ob Zeiten eines Pensionsvorschussbezugs in der Bestimmung des § 255 Abs 3a Z 2 ASVG genannte Meldezeiten darstellen, sowie zur Auslegung des Begriffs „Tätigkeiten mit geringstem Anforderungsprofil“ iSd § 255 Abs 3a und Abs 3b ASVG noch keine Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs vorliege.

Gegen den Aufhebungsbeschluss des Berufungsgerichts richtet sich der Rekurs der beklagten Partei mit dem Antrag, die angefochtene Entscheidung aufzuheben und das das Klagebegehren zur Gänze abweisende Ersturteil wiederherzustellen.

Die Klägerin beantragt in ihren Ausführungen in der Rekursbeantwortung sinngemäß, den Rekurs als unzulässig zurückzuweisen bzw ihm keine Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

Der Rekurs ist aus dem vom Berufungsgericht genannten Grund zulässig, im Ergebnis aber nicht berechtigt.

Die beklagte Partei lässt in ihren Rekursausführungen die Richtigkeit der ausführlich begründeten Rechtsansicht des Berufungsgerichts, die Klägerin sei als Pensionsvorschussbezieherin während der gesamten laufenden Bezugsdauer von Gesetzes wegen (seit der Antragstellung auf Gewährung von Pensionsvorschuss) beim Arbeitsmarktservice als gemeldete Arbeitslose iSd § 12 AlVG anzusehen, ausdrücklich unbekämpft. Sie vertritt aber die Ansicht, das festgestellte Leistungskalkül der Klägerin erfülle nicht die in § 255 Abs 3a und Abs 3b ASVG detailliert geregelten Kriterien. Die Definition der Tätigkeiten mit geringstem Anforderungsprofil in § 255 Abs 3b ASVG habe zwei Fallgruppen zum Inhalt, die durch die Wortfolge „und/oder“ abgegrenzt würden. Nach der ersten Fallvariante sollten versicherte Personen, die nur mehr leichte körperliche Tätigkeiten verrichten können, die bei durchschnittlichem Zeitdruck vorwiegend (somit zumindest zwei Drittel der Arbeitszeit) in sitzender Haltung verrichtet werden und bei denen mehrmals täglich ein Haltungswechsel ermöglicht werde, in den Genuss der Härtefallregelung kommen. Die zweite Fallvariante, die durch die Wortfolge „oder mehrmals täglich einen Haltungswechsel ermöglichen“ beschrieben werde, regle - wie auch den Gesetzesmaterialien zu entnehmen sei - einen nicht kontinuierlichen Arbeitsablauf. Offen sei, ob diese wechselnde Körperhaltung der zweiten Fallgruppe alle drei Körperhaltungen (Sitzen, Gehen, Stehen) zu erfassen habe, wie die Rekurswerberin meine, oder ob es beispielsweise genüge, dass auch eine grundsätzlich gehende Tätigkeit, die von einer - mitunter auch nur mehrmals täglich einzunehmenden - stehenden Tätigkeit abgelöst werde, bereits der Härtefallregelung zu unterstellen wäre. Diese Auslegungsschwierigkeit sei jedoch im vorliegenden Fall nicht von entscheidender Bedeutung, da beiden Fallgruppen gemeinsam sei, dass eine versicherte Person nur mehr leichte körperliche Tätigkeiten, die bei durchschnittlichem Zeitdruck verrichtet werden und mehrmals täglich einen Haltungswechsel ermöglichen, ausüben könne. Das Vorliegen der Voraussetzung (nur) bei „durchschnittlichem Zeitdruck“ sei Anspruchsvoraussetzung für beide Varianten und eröffne keinen Auslegungsspielraum. Da die Klägerin darüber hinaus auch Arbeiten unter „zeitweise besonderem bzw überdurchschnittlichem Zeitdruck“ verrichten könne, sei die Anspruchsvoraussetzung nach § 255 Abs 3a iVm Abs 3b ASVG nicht erfüllt.

Der erkennende Senat hat dazu Folgendes erwogen:

1. Nach § 255 Abs 3 ASVG gilt eine versicherte Person, die - wie die Klägerin - nicht überwiegend in erlernten (angelernten) Berufen iSd Abs 1 und Abs 2 tätig war, als invalid, wenn sie infolge ihres körperlichen oder geistigen Zustands nicht mehr imstande ist, durch eine Tätigkeit, die auf dem Arbeitsmarkt noch bewertet wird und die ihr unter billiger Berücksichtigung der von ihr ausgeübten Tätigkeiten zugemutet werden kann, wenigstens die Hälfte des Entgelts zu erwerben, das ein körperlich und geistig gesunder Versicherter regelmäßig durch eine solche Tätigkeit zu erzielen pflegt.

1.1 Versicherten in ungelernten Berufen gebührt - sofern, wie bei der Klägerin, die Voraussetzungen des Abs 4 nicht erfüllt sind - eine Invaliditätspension daher erst dann, wenn sie nicht mehr imstande sind, eine auf dem Arbeitsmarkt noch bewertete Tätigkeit zu verrichten. Das Verweisungsfeld ist somit mit dem gesamten Arbeitsmarkt ident (Sonntag in Sonntag, ASVG2 § 255 Rz 126 mwN).

1.2 Im vorliegenden Fall ist nicht mehr strittig, dass bei der Klägerin keine Invalidität iSd § 255 Abs 3 ASVG vorliegt.

2. Nach § 255 Abs 3a ASVG idF BudgetbegleitG 2011 (BGBl I 2010/111) gilt eine versicherte Person auch dann als invalid, wenn sie

1. das 50. Lebensjahr vollendet hat,

2. mindestens zwölf Monate unmittelbar vor dem Stichtag (§ 223 Abs 2) als arbeitslos iSd § 12 AlVG gemeldet war,

3. mindestens 360 Versicherungsmonate, davon mindestens 240 Beitragsmonate der Pflichtversicherung aufgrund einer Erwerbstätigkeit, erworben hat und

4. nur mehr Tätigkeiten mit geringstem Anforderungsprofil, die auf dem Arbeitsmarkt noch bewertet sind, ausüben kann und zu erwarten ist, dass ein Arbeitsplatz in einer der physischen und psychischen Beeinträchtigung entsprechenden Entfernung von ihrem Wohnort innerhalb eines Jahres nicht erlangt werden kann.

2.1 Unter den Tätigkeiten nach § 255 Abs 3a Z 4 ASVG sind nach der Legaldefinition des § 255 Abs 3b ASVG leichte körperliche Tätigkeiten, die bei durchschnittlichem Zeitdruck und vorwiegend in sitzender Haltung ausgeübt werden und/oder mehrmals täglich einen Haltungswechsel ermöglichen, zu verstehen.

2.2 Die Bestimmung des § 255 Abs 3a iVm Abs 3b ASVG trat gemäß der Schlussbestimmung des § 658 Abs 1 ASVG mit 1. 1. 2011 in Kraft und wird mit Ablauf des 31. 12. 2015 wieder außer Kraft treten (§ 658 Abs 2 ASVG).

2.3 Nach den Gesetzesmaterialien (RV 981 BlgNR 24. GP 204) soll mit dieser neuen Härtefallregelung für stark leistungseingeschränkte ungelernte ArbeitnehmerInnen und für bestimmte selbständig Erwerbstätige (nämlich Bäuerinnen und Bauern), die das 50. Lebensjahr erreicht bzw überschritten, aber das 57. Lebensjahr noch nicht vollendet haben oder die die Voraussetzungen für den besondere Berufsschutz etwa nach § 255 Abs 4 ASVG nicht erfüllen, ein spezieller Verweisungsschutz die derzeit judizierte weite Verweisung auf den gesamten Arbeitsmarkt zu einer Verweisbarkeit in einem engen Segment einschränken und so diesen Menschen einen Zugang zu einer Invaliditäts- oder Erwerbsunfähigkeitspension bzw zu einer entsprechenden Rehabilitation öffnen. Ziel der vorgeschlagenen Regelung ist es also, jene Berufsverweisungen, die bisher zu Härtefällen geführt haben, zu vermeiden. Unter Tätigkeiten mit geringstem Anforderungsprofil sind leichte Tätigkeiten vorwiegend in sitzender Haltung und bei durchschnittlichem Zeitdruck zu verstehen, wobei ein Haltungswechsel möglich sein muss. Die neue Härtefallregelung wird in der Praxis für Bäuerinnen und Bauern sowie ungelernte ArbeiterInnen, die ein sehr stark medizinisch eingeschränktes Leistungskalkül haben (dh nur mehr leichte Tätigkeiten im Sitzen oder in einem nicht kontinuierlichen Arbeitsablauf ausüben können), relevant werden und soll auf eine sehr kleine Zahl von Härtefällen beschränkt bleiben.

3. Strittig ist im Rekursverfahren die Frage der Auslegung der zitierten Bestimmung des § 255 Abs 3a iVm Abs 3b ASVG, insbesondere des Begriffs „Tätigkeiten mit geringstem Anforderungsprofil“.

3.1 Wie bereits das Berufungsgericht unter Hinweis auf die ständige Rechtsprechung zutreffend ausgeführt hat, hat die Gesetzesauslegung mit der Erforschung des Wortsinns der Norm zu beginnen. Eine darüber hinausgehende Auslegung ist erforderlich, wenn die Formulierung mehrdeutig, missverständlich oder unvollständig ist, wobei der äußerste Wortsinn die Grenze jeglicher Auslegung bildet. Bleiben im Rahmen des möglichen Wortsinns Unklarheiten über die konkrete Bedeutung eines Wortes oder Rechtssatzes bestehen, muss der Rechtsanwender versuchen, aus dem Bedeutungszusammenhang ein eindeutiges Auslegungsergebnis zu erzielen (systematisch-logische Auslegung). Diese Auslegung zieht zum besseren Verständnis einer Norm andere damit im Kontext stehende Normen heran, um Wertungswidersprüche innerhalb eines Gesetzes bzw der Rechtsordnung zu vermeiden. Bleibt die Ausdrucksweise des Gesetzes zweifelhaft und unklar, soll auf die Entstehungsgeschichte eines Gesetzes und die Absicht des Gesetzgebers zurückgegriffen werden. Anhaltspunkte für den Willen des Gesetzgebers finden sich etwa in Regierungsvorlagen oder Ausschussberichten. Erläuternde Bemerkungen können das Verständnis einer unklaren Gesetzesstelle fördern, weshalb sie zur Auslegung heranzuziehen sind, sofern sie nicht eindeutig im Widerspruch zum Gesetz stehen. Ein Rechtssatz, der im Gesetz nicht einmal angedeutet ist, kann aber auch nicht durch Auslegung Geltung erlangen. Wenn die Auslegung einer Norm mit Hilfe des Wortlautes, des Bedeutungszusammenhangs und nach der Absicht des Gesetzgebers zu widersprechenden Ergebnissen führt, kommt letztlich der teleologischen Auslegung, die den Sinn einer Bestimmung unter Bedachtnahme auf den Zweck der Regelung zu erfassen sucht, das entscheidende Gewicht zu (vgl Posch in Schwimann, ABGB3 § 6 Rz 5 ff mwN).

3.2 Im Recht der Pensionsversicherung gilt der Grundsatz der „abstrakten Verweisung“, wonach es für die Frage der Invalidität, Berufsunfähigkeit und Erwerbsunfähigkeit ohne Bedeutung ist, ob der Versicherte im Verweisungsberuf auch tatsächlich einen Dienstposten finden wird (stRsp seit 10 ObS 50/87, SSV-NF 1/23). Ungelernte Arbeiter müssen sich gemäß § 255 Abs 3 ASVG auf alle Tätigkeiten des (allgemeinen) Arbeitsmarkts verweisen lassen, die sie aufgrund ihres Leistungskalküls noch ausüben können. Ungelernten Arbeitern gebührt somit erst dann eine Pension, wenn sie sämtliche der am allgemeinen Arbeitsmarkt angebotenen Tätigkeiten nicht (mehr) ausüben können. Dazu gehören auch leichte Tätigkeiten wie beispielsweise Botengänger, Museumswärter oder Parkgaragenkassier. Insbesondere bei schwereren gesundheitlichen Beeinträchtigungen sinken naturgemäß die Chancen, eine Beschäftigung zu erlangen oder weiterbeschäftigt zu werden. So ist mehr als die Hälfte der Invaliditätspensionswerber am Pensionsstichtag bereits längere Zeit arbeitslos oder im Krankenstand. Bei schweren Erkrankungen ist der Anteil noch höher.

3.3 Die neue Härtefallregelung des § 255 Abs 3a ASVG sieht nunmehr vor, dass auch Versicherte, die noch in der Lage sind, am allgemeinen Arbeitsmarkt Verweisungstätigkeiten, von diesen jedoch nur mehr die besonders leichten (Tätigkeiten mit dem „geringsten Anforderungsprofil“) zu verrichten, künftig als invalid (erwerbsunfähig) gelten (Ivansits/Weissensteiner, Die Härtefallregelung - Zugangserleichterungen in die Invaliditätspension für Versicherte ab 50, DRdA 2011, 175 ff).

3.4 Die Definition der „Tätigkeiten mit geringstem Anforderungsprofil“ erfolgt im § 255 Abs 3b ASVG. Danach handelt es sich dabei um leichte körperliche Tätigkeiten, die bei durchschnittlichem Zeitdruck und vorwiegend in sitzender Haltung ausgeübt werden und/oder mehrmals täglich einen Haltungswechsel ermöglichen. Diese Tätigkeiten werden somit nach ihrem Schweregrad, dem mit ihnen verbundenen Zeitdruck und der Körperhaltung umschrieben. Es handelt sich dabei nach den bereits zitierten Ausführungen in der RV (981 BlgNR 24. GP 206) um leichte Tätigkeiten vorwiegend in sitzender Haltung und bei durchschnittlichem Zeitdruck, wobei ein Haltungswechsel möglich sein muss. Ziel der Härtefallregelung ist die Gewährung einer Pension aus dem Versicherungsfall der geminderten Arbeitsfähigkeit an Personen, die - wie bereits oben ausgeführt - ein sehr stark eingeschränktes medizinisches Leistungskalkül haben. Die Definition in Abs 3b beschreibt allerdings - entgegen der offenbaren Rechtsansicht der Rekurswerberin - nicht das medizinische (Rest-)Leistungskalkül von Versicherten, sondern jene Tätigkeiten unter allen in Betracht kommenden Verweisungstätigkeiten, die das leichteste Anforderungsprofil erfüllen. Anders ausgedrückt: Um den Anspruchsvoraussetzungen der Härtefallregelung zu genügen, darf der Pensionswerber nur mehr in der Lage sein, die in § 255 Abs 3b ASVG umschriebenen Tätigkeiten und sonst keine weiteren Verweisungstätigkeiten auszuüben (Ivansits/Weissensteiner aaO DRdA 2011, 177).

3.5 Eine (Verweisungs-)Tätigkeit mit geringstem Anforderungsprofil kann daher nach § 255 Abs 3b ASVG nur dann vorliegen, wenn sie leicht ist, bei durchschnittlichem Zeitdruck und vorwiegend in sitzender Haltung ausgeübt werden kann und/oder mehrmals täglich einen Haltungswechsel ermöglicht. Die Formulierung „und/oder“ deutet auf das Vorliegen kumulativer, aber auch alternativer Anspruchsvoraussetzungen hin. Eine (Verweisungs-)Tätigkeit mit dem geringsten Anforderungsprofil ist demnach eine leichte körperliche Tätigkeit, die bei durchschnittlichem Zeitdruck und vorwiegend in sitzender Haltung ausgeübt wird und (kumulativ) mehrmals täglich einen Haltungswechsel ermöglicht (erste Fallgruppe). Das Wort „oder“ für die zweite Fallgruppe ist nicht als Alternative zu leichten Tätigkeiten oder zu Tätigkeiten unter durchschnittlichem Zeitdruck, sondern als Alternative zu vorwiegend in sitzender Haltung ausgeübten Tätigkeiten zu verstehen. Es könnte daher die Härtefallregelung dahin verstanden werden, dass die zweite Fallgruppe der Tätigkeiten mit dem geringsten Anforderungsprofil eine leichte körperliche Tätigkeit, die bei durchschnittlichem Zeitdruck ausgeübt wird und mehrmals täglich einen Haltungswechsel ermöglicht, umfasst. Bei einer solchen Auslegung würde es sich aber bei den beiden Fallgruppen im Ergebnis um keinen alternativen Kreis von Anspruchsberechtigten handeln, da der Kreis der Anspruchsberechtigten nach der ersten Fallgruppe jedenfalls auch von der zweiten Fallgruppe umfasst wäre. Im Übrigen würde bei einer solchen Auslegung, wie die Rekurswerberin zutreffend aufzeigt, eine grundsätzlich im Gehen ausgeübte Tätigkeit, die von einer - mitunter auch nur mehrmals täglich einzunehmenden - stehenden Tätigkeit abgelöst wird, als Tätigkeit mit dem geringsten Anforderungsprofil anzusehen und damit bereits der Härtefallregelung zu unterstellen sein. Eine solche Tätigkeit stellt jedoch nach Ansicht des erkennenden Senats keine Tätigkeit mit geringstem Anforderungsprofil dar und es findet die gegenteilige Ansicht auch in den zitierten Gesetzesmaterialien keine Deckung.

3.6 Ivansits/Weissensteiner aaO DRdA 2011, 177 f vertreten in diesem Zusammenhang die Auffassung, dass folgende zwei Gruppen von „Tätigkeiten mit geringstem Anforderungsprofil“ zu unterscheiden seien:

- leichte körperliche Tätigkeiten, die bei durchschnittlichem Zeitdruck und vorwiegend in sitzender Haltung ausgeübt werden und (= während der Ausübung der Tätigkeit) mehrmals täglich einen Haltungswechsel ermöglichen (zB die Tätigkeit eines Parkgaragenkassiers).

- leichte (körperliche) Tätigkeiten, die vorwiegend in sitzender Haltung ausgeübt werden, oder (= nicht während der Ausübung der Tätigkeit) mehrmals einen Haltungswechsel ermöglichen (zB Tätigkeit einer Näherin).

Die Alternative bei dieser Auslegungsvariante besteht somit darin, ob der mehrmalige tägliche Haltungswechsel während der Ausübung der Tätigkeit möglich ist oder nicht. Für diese Auslegung findet sich im Gesetzeswortlaut des § 255 Abs 3b ASVG durch die Bezugnahme auf die „ausgeübte Tätigkeit“ eine gewisse Stütze. Für diese Auslegung spricht aber auch der weitere Umstand, dass in den Gesetzesmaterialien in diesem Zusammenhang ausdrücklich auf einen „nichtkontinuierlichen Arbeitsablauf“ Bezug genommen wird. Der erkennende Senat folgt daher auch in der Frage der Auslegung des Begriffs „Tätigkeiten mit dem geringsten Anforderungsprofil“ der Ansicht von Ivansits/Weissensteiner aaO, wonach es sich dabei einerseits um leichte körperliche Tätigkeiten, die bei durchschnittlichem Zeitdruck und vorwiegend in sitzender Haltung ausgeübt werden und (= während der Ausübung der Tätigkeit) mehrmals täglich einen Haltungswechsel ermöglichen (erste Fallgruppe) und andererseits um leichte körperliche Tätigkeiten, die bei durchschnittlichem Zeitdruck vorwiegend in sitzender Haltung ausgeübt werden oder (= nicht während der Ausübung der Tätigkeit) mehrmals täglich einen Haltungswechsel ermöglichen, handelt. Mit dieser Auslegung wird nach Ansicht des erkennenden Senats im Hinblick auf die vorliegende unklare Gesetzeslage der ausdrücklich erklärten Absicht des Gesetzgebers, die Härtefallregelung nur für eine sehr kleine Zahl sehr stark leistungseingeschränkter Versicherter schaffen zu wollen, sowie dem Zweck der Regelung (als „Härtefallregelung“) am ehesten Rechnung getragen.

3.7 Die Rechtsansicht der Rekurswerberin, eine Anwendung der Härtefallregelung des § 255 Abs 3a iVm Abs 3b ASVG komme im Fall der Klägerin schon deshalb nicht in Betracht, weil sie nach ihrem medizinischen Leistungskalkül nicht mehr Arbeiten unter „durchschnittlichem“ Zeitdruck, sondern auch Arbeiten unter „zeitweise besonderem bzw überdurchschnittlichem Zeitdruck“ verrichten könne, lässt außer Acht, dass die Legaldefinition der Tätigkeiten mit dem geringsten Anforderungsprofil in § 255 Abs 3b ASVG nicht das für eine Anwendung der Härtefallregelung noch zulässige medizinische (Rest-)Leistungskalkül des Versicherten, sondern das Anforderungsprofil für jene Tätigkeiten unter allen auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt in Betracht kommenden Verweisungstätigkeiten beschreibt, die das leichteste Anforderungsprofil erfüllen und in diesem Fall nicht als mögliche und zumutbare Verweisungstätigkeiten in Betracht kommen. Entscheidendes Kriterium für die Anwendung der Härtefallregelung ist daher nicht bereits die Einschränkung des medizinischen Leistungskalküls der versicherten Person, sondern - wie der Gesetzeswortlaut („Tätigkeiten mit dem geringsten Anforderungsprofil, die auf dem Arbeitsmarkt noch bewertet sind“) und insbesondere auch die bereits mehrfach zitierten Gesetzesmaterialien zeigen - die vom Gesetzgeber im Hinblick auf das eingeschränkte Leistungskalkül der versicherten Person vorgesehene Einschränkung der Verweisbarkeit der versicherten Person auf dem Arbeitsmarkt.

4. Das Erstgericht wird daher im fortzusetzenden Verfahren neben der Frage des Vorliegens der Anspruchsvoraussetzungen nach § 255 Abs 3a Z 2 und 3 ASVG im Falle des Vorliegens dieser beiden Anspruchsvoraussetzungen auch die weitere Frage zu prüfen haben, ob die Klägerin nur mehr in der Lage ist, die in § 255 Abs 3b ASVG umschriebenen Tätigkeiten und sonst keine weiteren Verweisungstätigkeiten auszuüben und ob bejahendenfalls auch zu erwarten ist, dass sie einen Arbeitsplatz in einer ihrer physischen und psychischen Beeinträchtigung entsprechenden Entfernung von ihrem Wohnort innerhalb eines Jahres nicht erlangen kann.

Dem Rekurs der beklagten Partei gegen den Aufhebungsbeschluss des Berufungsgerichts musste daher ein Erfolg versagt bleiben.

Der Vorbehalt der Entscheidung über den Ersatz der Kosten der Rekursbeantwortung beruht auf § 52 Abs 1 ZPO.

Lizenziert vom RIS (ris.bka.gv.at - CC BY 4.0 DEED)

Stichworte