OGH 10ObS105/11f

OGH10ObS105/11f20.12.2011

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten Dr. Hradil als Vorsitzenden, die Hofräte Dr. Fellinger und Dr. Hoch sowie die fachkundigen Laienrichter Prof. Mag. Dr. Thomas Keppert (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Helmut Tomek (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei J*****, vertreten durch Mag. German Storch und Mag. Rainer Storch, Rechtsanwälte in Linz, gegen die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt, 1021 Wien, Friedrich-Hillegeist-Straße 1, vertreten durch Dr. Josef Milchram und andere Rechtsanwälte in Wien, wegen Invaliditätspension, über die Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Linz als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 20. Juli 2011, GZ 12 Rs 98/11k-12, womit infolge Berufung der beklagten Partei das Urteil des Landesgerichts Linz als Arbeits- und Sozialgericht vom 26. April 2011, GZ 28 Cgs 25/11y-8, teilweise abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

 

Spruch:

Der Revision wird Folge gegeben.

Die Entscheidungen der Vorinstanzen werden aufgehoben. Die Sozialrechtssache wird zur neuerlichen Entscheidung nach Verfahrensergänzung an das Erstgericht zurückverwiesen.

Die Kosten des Revisionsverfahrens sind weitere Verfahrenskosten.

Text

Begründung

Der am 26. 2. 1960 geborene und zuletzt als Kraftfahrer tätig gewesene Kläger erwarb bis zum Stichtag insgesamt 406 Versicherungsmonate, davon 311 Beitragsmonate der Pflichtversicherung aufgrund einer Erwerbstätigkeit. Er ist seit 28. 2. 2010 als arbeitslos gemeldet.

Aufgrund seines näher festgestellten Leidenszustands kann er nur mehr Tätigkeiten mit einem dauernden Tragen bis 3 kg und Heben bis 5 kg sowie einem fallweisen (bis 10 % der Arbeitszeit) Tragen bis 5 kg und Heben bis 10 kg verrichten. Aufgrund der neurologisch-psychiatrischen Diagnose kann er die Arbeiten im Sitzen, Gehen und Stehen ohne Unterbrechung und zeitliche Einschränkungen durchführen; ein Haltungswechsel ist nicht erforderlich. Aus orthopädischer Sicht kann der Kläger Arbeiten nur noch mit Haltungswechsel durchführen, und zwar im Sitzen, Gehen und Stehen, wobei er 60 Minuten in gehender oder stehender Haltung arbeiten kann und dann ein Haltungswechsel für 5 bis 10 Minuten in die sitzende Haltung erfolgen soll. In der Körperhaltung, in die gewechselt wurde, kann weitergearbeitet werden. Im Sitzen kann fortgesetzt gearbeitet werden. Hinsichtlich der psychischen Anforderungen ist ein durchschnittlicher Zeitdruck (normales Arbeitstempo) zumutbar. Kognitiv sind Konzentrationsfähigkeit, Auffassungsvermögen, Durchsetzungsfähigkeit, Eigeninitiative und Eigenverantwortung sowie Teamfähigkeit eingeschränkt. Aufgrund der verminderten psychischen Belastbarkeit sind dem Kläger nur mehr Halbtagsarbeiten (vier Stunden pro Tag bei einer 5-Tage-Arbeitswoche) zumutbar. Zusätzliche Arbeitspausen sind nicht notwendig. Leidensbedingte Krankenstände von fünf bis sechs Wochen sind zu erwarten. Durch eine Sprunggelenksprothese oder eine Sprunggelenksarthrodese kann eine Verbesserung des Leistungskalküls erreicht werden, wobei eine solche Operation dem Kläger allerdings nicht ohne weiteres zumutbar ist.

Mit Bescheid vom 30. 6. 2010 lehnte die beklagte Pensionsversicherungsanstalt den Antrag des Klägers auf Zuerkennung der Invaliditätspension ab.

Das Erstgericht gab dem vom Kläger dagegen erhobenen und auf die Gewährung einer Invaliditätspension (zuletzt) ab 1. 3. 2011 gerichteten Klagebegehren statt. Es bejahte ausgehend von den bereits eingangs wiedergegebenen wesentlichen Feststellungen das Vorliegen der Voraussetzungen für die Gewährung einer Invaliditätspension nach § 255 Abs 3a ASVG. Der Kläger sei über 50 Jahre alt, sei in den letzten 12 Monaten vor dem (verschobenen) Stichtag als arbeitslos gemeldet gewesen, habe die erforderlichen 360 Versicherungsmonate, davon mindestens 240 Beitragsmonate der Pflichtversicherung aufgrund einer Erwerbstätigkeit, erworben und könne nur mehr Tätigkeiten mit geringstem Anforderungsprofil iSd § 255 Abs 3b ASVG ausüben, wobei angesichts einer derzeitigen Arbeitslosenquote von mindestens 2 % auch davon auszugehen sei, dass er nicht innerhalb eines Jahres einen seiner Beeinträchtigungen entsprechenden Arbeitsplatz in der Nähe seines Wohnorts finden werde.

§ 255 Abs 3b ASVG spreche bezüglich Anforderungsprofil von leichten körperlichen Tätigkeiten, die bei durchschnittlichem Zeitdruck ausgeübt werden können, wobei aufgrund der nachfolgenden Wortfolge „und/oder“ kumulativ mindestens eine weitere von zwei alternativ genannten Voraussetzungen vorliegen müsse: Entweder müsse die Tätigkeit nur noch vorwiegend in sitzender Haltung ausgeübt werden können (und) oder nur noch so, dass mehrmals ein Haltungswechsel möglich sei. Dem Kläger seien angesichts der noch möglichen Hebe- und Tragebelastungen nur noch leichte Arbeiten bei durchschnittlichem Zeitdruck zumutbar und er müsse nach 60 Minuten einen Haltungswechsel von der gehenden oder stehenden in die sitzende Haltung durchführen können. Damit sei die zweite alternativ genannte Voraussetzung erfüllt. Dazu komme noch, dass die prognostizierte Krankenstandsdauer nur knapp unter der Grenze von sieben Wochen liege, ab der ein Versicherter vom Arbeitsmarkt ausgeschlossen sei. Damit liege ein Härtefall vor und eine Verweisung des Klägers komme nicht in Betracht. Eine Verbesserung des Leistungskalküls könne zwar nicht ausgeschlossen werden, es sei jedoch die dafür notwendige Operation dem Kläger nicht ohne weiteres zumutbar.

Das Berufungsgericht gab der von der beklagten Partei dagegen erhobenen Berufung teilweise Folge. Es sprach aus, dass der Anspruch des Klägers auf Invaliditätspension in der gesetzlichen Höhe dem Grunde nach für den Zeitraum vom 1. 3. 2011 bis 28. 2. 2013 zu Recht bestehe und trug der beklagten Partei die Erbringung einer vorläufigen Zahlung von 250 EUR monatlich auf. Das auf Gewährung einer unbefristeten Invaliditätspension gerichtete Mehrbegehren wies es unbekämpft ab.

Es verwies in seiner Entscheidung im Wesentlichen darauf, dass im Berufungsverfahren nur mehr die Frage strittig sei, ob der Kläger noch in der Lage sei, andere als die in § 255 Abs 3b ASVG umschriebenen Tätigkeiten mit geringstem Anforderungsprofil auszuüben. Solche Tätigkeiten seien leichte körperliche Tätigkeiten, die bei durchschnittlichem Zeitdruck und vorwiegend in sitzender Haltung ausgeübt werden und/oder mehrmals täglich einen Haltungswechsel ermöglichen. Die entsprechende Bestimmung des § 255 Abs 3b ASVG sei dahin auszulegen, dass Tätigkeiten mit geringstem Anforderungsprofil (nur) körperlich leichte Tätigkeiten seien, die bei durchschnittlichem Zeitdruck und vorwiegend in sitzender Haltung ausgeübt werden oder (alternativ) mehrmals täglich einen Haltungswechsel erfordern. Daraus folge, dass nicht nur der Versicherte, der mehrmals täglich einen Haltungswechsel benötige, Anspruch auf Härtefallregelung habe, sondern auch der Versicherte, der nur noch Tätigkeiten ausüben könne, die vorwiegendes Sitzen erfordern, und zwar unabhängig davon, ob ein Haltungswechsel erforderlich sei. Daher reiche der beim Kläger erforderliche Haltungswechsel aus, um die Anspruchsvoraussetzungen des § 255 Abs 3a iVm Abs 3b ASVG zu erfüllen. Eine Differenzierung zwischen einem - beim Kläger erforderlichen - Haltungswechsel von fünf bis zehn Minuten alle 60 Minuten und einem kurzen Aufstehen von zwei bis viermal pro Stunde, wie die beklagte Partei meine, lasse sich dem Gesetz nicht entnehmen. Es komme daher auf den Umstand, ob der Kläger durchgehend im Sitzen arbeiten könnte und ob dies ein besseres medizinisches Leistungskalkül bedinge, sodass ein Versicherter, der noch Tätigkeiten ausüben könne, die ein durchgehendes Sitzen erfordern, keinen Anspruch auf die Härtefallregelung habe, nicht mehr an. Dem Kläger stehe daher die Invaliditätspension ab 1. 3. 2011 zu. Da eine Verbesserung des Leistungskalküls zu erwarten sei, wenn sich der Kläger einer Operation des Sprunggelenks unterziehe, stehe ihm die Invaliditätspension gemäß § 256 ASVG nur befristet für die Dauer von 24 Monaten zu.

Das Berufungsgericht sprach aus, dass die ordentliche Revision zulässig sei, weil zur Auslegung der Härtefallregelung des § 255 Abs 3a und Abs 3b ASVG noch keine Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs vorliege und bei der vom Berufungsgericht vorgenommenen Auslegung die Härtefallregelung entgegen der Absicht des Gesetzgebers nicht auf eine sehr kleine Zahl von Härtefällen beschränkt bleiben werde.

Gegen diese Entscheidung richtet sich die Revision der beklagten Partei wegen unrichtiger rechtlicher Beurteilung mit dem Antrag, das angefochtene Urteil im Sinne einer gänzlichen Abweisung des Klagebegehrens abzuändern. Hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.

Der Kläger beantragt in seiner Revisionsbeantwortung, der Revision nicht Folge zu geben, in eventu die Revision zurückzuweisen.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist aus dem vom Berufungsgericht genannten Grund zulässig und im Sinne der beschlossenen Aufhebung auch berechtigt.

Die beklagte Partei macht im Wesentlichen geltend, nach den Gesetzesmaterialien sei es Zweck der Härtefallregelung des § 255 Abs 3a und Abs 3b ASVG, für stark leistungseingeschränkte ungelernte Arbeiter bzw Arbeiterinnen, die das 50. Lebensjahr, aber noch nicht das 57. Lebensjahr, vollendet haben oder die die Voraussetzungen für den besonderen Berufsschutz etwa nach § 255 Abs 4 ASVG nicht erfüllen, einen speziellen Verweisungsschutz zu schaffen. In den Genuss dieser Regelung sollten bei Erfüllung der übrigen allgemeinen Voraussetzungen Versicherte kommen, die nur mehr in der Lage seien, Tätigkeiten mit geringstem Anforderungsprofil zu verrichten. Darunter seien leichte Tätigkeiten vorwiegend in sitzender Haltung und bei durchschnittlichem Zeitdruck zu verstehen, wobei ein Haltungswechsel möglich sein müsse. Die Härtefallregelung umfasse dabei zwei Fallvarianten, denen gemeinsam sei, dass die Tätigkeiten mit einem Haltungswechsel verbunden sein müssten. Eine Tätigkeit mit dem geringsten Anforderungsprofil sei demnach eine leichte körperliche Tätigkeit, die bei durchschnittlichem Zeitdruck vorwiegend in sitzender Haltung ausgeübt werde und bei der mehrmals täglich ein Haltungswechsel ermöglicht werde (erste Fallgruppe). Die zweite Fallgruppe der Tätigkeit mit geringstem Anforderungsprofil bildeten leichte körperliche Tätigkeiten, die auf dem Arbeitsmarkt noch bewertet werden, bei durchschnittlichem Zeitdruck ausgeübt werden und mehrmals täglich einen Haltungswechsel erfordern, jedoch nicht vorwiegend in sitzender Haltung ausgeübt werden. Sei das Leistungskalkül eines Versicherten jedoch nicht so weit herabgesunken, sodass er noch durchgehend im Sitzen arbeiten könne, ohne auf einen Haltungswechsel angewiesen zu sein, stelle dies keine Tätigkeit mit geringstem Anforderungsprofil dar. Da der Kläger nach den Feststellungen im Sitzen fortgesetzt arbeiten könne und ein Haltungswechsel in dieser Arbeitshaltung daher nicht erforderlich sei, gelange die Härtefallregelung nicht zur Anwendung.

Der erkennende Senat hat dazu Folgendes erwogen:

1. Nach § 255 Abs 3 ASVG gilt ein Versicherter, der - wie der Kläger - nicht überwiegend in erlernten (angelernten) Berufen iSd Abs 1 und Abs 2 tätig war, als invalid, wenn er infolge seines körperlichen oder geistigen Zustands nicht mehr imstande ist, durch eine Tätigkeit, die auf dem Arbeitsmarkt noch bewertet wird und die ihm unter billiger Berücksichtigung der von ihm ausgeübten Tätigkeiten zugemutet werden kann, wenigstens die Hälfte des Entgelts zu erwerben, das ein körperlich und geistig gesunder Versicherter regelmäßig durch eine solche Tätigkeit zu erzielen pflegt.

1.1 Versicherten in ungelernten Berufen gebührt - sofern, wie beim Kläger, die Voraussetzungen des Abs 4 nicht erfüllt sind - eine Invaliditätspension daher erst dann, wenn sie nicht mehr imstande sind, eine auf dem Arbeitsmarkt noch bewertete Tätigkeit zu verrichten. Das Verweisungsfeld ist somit mit dem gesamten Arbeitsmarkt ident (Sonntag in Sonntag, ASVG2 § 255 Rz 126 mwN).

2. Nach § 255 Abs 3a ASVG idF BudgetbegleitG 2011 (BGBl I 2010/111) gilt eine versicherte Person auch dann als invalid, wenn sie

1. das 50. Lebensjahr vollendet hat,

2. mindestens zwölf Monate unmittelbar vor dem Stichtag (§ 223 Abs 2) als arbeitslos iSd § 12 AlVG gemeldet war,

3. mindestens 360 Versicherungsmonate, davon mindestens 240 Beitragsmonate der Pflichtversicherung aufgrund einer Erwerbstätigkeit, erworben hat und

4. nur mehr Tätigkeiten mit geringstem Anforderungsprofil, die auf dem Arbeitsmarkt noch bewertet sind, ausüben kann und zu erwarten ist, dass ein Arbeitsplatz in einer der physischen und psychischen Beeinträchtigung entsprechenden Entfernung von ihrem Wohnort innerhalb eines Jahres nicht erlangt werden kann.

2.1 Unter den Tätigkeiten nach § 255 Abs 3a Z 4 ASVG sind nach der Legaldefinition des § 255 Abs 3b ASVG leichte körperliche Tätigkeiten, die bei durchschnittlichem Zeitdruck und vorwiegend in sitzender Haltung ausgeübt werden und/oder mehrmals täglich einen Haltungswechsel ermöglichen, zu verstehen.

2.2 Die Bestimmung des § 255 Abs 3a iVm Abs 3b ASVG trat gemäß der Schlussbestimmung des § 658 Abs 1 ASVG mit 1. 1. 2011 in Kraft und wird mit Ablauf des 31. 12. 2015 wieder außer Kraft treten (§ 658 Abs 2 ASVG).

2.3 Nach den Gesetzesmaterialien (RV 1981 BlgNR 24. GP 205) soll mit dieser neuen Härtefallregelung für stark leistungseingeschränkte ungelernte ArbeitnehmerInnen und für bestimmte selbständig Erwerbstätige (nämlich Bäuerinnen und Bauern), die das 50. Lebensjahr erreicht bzw überschritten, aber das 57. Lebensjahr noch nicht vollendet haben oder die die Voraussetzungen für den besonderen Berufsschutz etwa nach § 255 Abs 4 ASVG nicht erfüllen, ein spezieller Verweisungsschutz die derzeit judizierte weite Verweisung auf den gesamten Arbeitsmarkt zu einer Verweisbarkeit in einem engen Segment einschränken und so diesen Menschen einen Zugang zu einer Invaliditäts- oder Erwerbsunfähigkeitspension bzw zu einer entsprechenden Rehabilitation öffnen. Ziel der vorgeschlagenen Regelung ist es also, jene Berufsverweisungen, die bisher zu Härtefällen geführt haben, zu vermeiden. Unter Tätigkeiten mit geringstem Anforderungsprofil sind leichte Tätigkeiten vorwiegend in sitzender Haltung und bei durchschnittlichem Zeitdruck zu verstehen, wobei ein Haltungswechsel möglich sein muss. Die neue Härtefallregelung wird in der Praxis für Bäuerinnen und Bauern sowie ungelernte ArbeiterInnen, die ein sehr stark medizinisch eingeschränktes Leistungskalkül haben (das heißt nur mehr leichte Tätigkeiten im Sitzen oder in einem nichtkontinuierlichen Arbeitsablauf ausüben können), relevant werden und soll auf eine sehr kleine Zahl von Härtefällen beschränkt bleiben.

3. Im vorliegenden Fall ist nicht mehr strittig, dass der Kläger die Anspruchsvoraussetzungen für die Härtefallregelung nach § 255 Abs 3a Z 1 bis 3 ASVG erfüllt. Strittig ist allein die Frage, ob er auch die Anspruchsvoraussetzungen nach § 255 Abs 3a Z 4 ASVG erfüllt, insbesondere, ob er nur mehr „Tätigkeiten mit geringstem Anforderungsprofil“ ausüben kann.

3.1 Die Gesetzesauslegung hat mit der Erforschung des Wortsinns der Norm zu beginnen. Eine darüber hinausgehende Auslegung ist erforderlich, wenn die Formulierung mehrdeutig, missverständlich oder unvollständig ist, wobei der äußerste Wortsinn die Grenze jeglicher Auslegung bildet. Bleiben im Rahmen des möglichen Wortsinns Unklarheiten über die konkrete Bedeutung eines Wortes oder Rechtssatzes bestehen, muss der Rechtsanwender versuchen, aus dem Bedeutungszusammenhang ein eindeutiges Auslegungsergebnis zu erzielen (systematisch-logische Auslegung). Diese Auslegung zieht zum besseren Verständnis einer Norm andere damit im Kontext stehende Normen heran, um Wertungswidersprüche innerhalb eines Gesetzes bzw der Rechtsordnung zu vermeiden. Bleibt die Ausdrucksweise des Gesetzes zweifelhaft und unklar, soll auf die Entstehungsgeschichte eines Gesetzes und die Absicht des Gesetzgebers zurückgegriffen werden. Anhaltspunkte für den Willen des Gesetzgebers finden sich etwa in Regierungsvorlagen oder Ausschussberichten. Erläuternde Bemerkungen können das Verständnis einer unklaren Gesetzesstelle fördern, weshalb sie zur Auslegung heranzuziehen sind, sofern sie nicht eindeutig im Widerspruch zum Gesetz stehen. Ein Rechtssatz, der im Gesetz nicht einmal angedeutet ist, kann aber auch nicht durch Auslegung Geltung erlangen. Wenn die Auslegung einer Norm mit Hilfe des Wortlauts, des Bedeutungszusammenhangs und nach der Absicht des Gesetzgebers zu widersprechenden Ergebnissen führt, kommt letztlich der teleologischen Auslegung, die den Sinn einer Bestimmung unter Bedachtnahme auf den Zweck der Regelung zu erfassen sucht, das entscheidende Gewicht zu (vgl Posch in Schwimann, ABGB3 § 6 Rz 5 ff mwN).

4. Im Recht der Pensionsversicherung gilt der Grundsatz der „abstrakten Verweisung“, wonach es für die Frage der Invalidität ohne Bedeutung ist, ob der Versicherte im Verweisungsberuf auch tatsächlich einen Dienstposten finden wird (stRsp seit 10 ObS 50/87, SSV-NF 1/23). Ungelernte Arbeiter müssen sich gemäß § 255 Abs 3 ASVG auf alle Tätigkeiten des (allgemeinen) Arbeitsmarkts verweisen lassen, die sie aufgrund ihres Leistungskalküls noch ausüben können. Ungelernten Arbeitern gebührt somit erst dann eine Pension, wenn sie sämtliche der am allgemeinen Arbeitsmarkt angebotenen Tätigkeiten nicht (mehr) ausüben können. Dazu gehören auch leichte Tätigkeiten wie beispielsweise Botengänger, Museumswärter oder Parkgaragenkassier. Insbesondere bei schwereren gesundheitlichen Beeinträchtigungen sinken naturgemäß die Chancen, eine Beschäftigung zu erlangen oder weiterbeschäftigt zu werden. So ist mehr als die Hälfte der Invaliditätspensionswerber am Pensionsstichtag bereits längere Zeit arbeitslos oder im Krankenstand. Bei schweren Erkrankungen ist der Anteil noch höher.

4.1 Die Härtefallregelung des § 255 Abs 3a ASVG sieht nunmehr vor, dass auch Versicherte, die noch in der Lage sind, am allgemeinen Arbeitsmarkt Verweisungstätigkeiten, von diesen jedoch nur mehr die besonders leichten (Tätigkeiten mit dem „geringsten Anforderungsprofil“) zu verrichten, künftig als invalid (erwerbsunfähig) gelten (Ivansits/Weissensteiner, Die Härtefallregelung - Zugangserleichterungen in die Invaliditätspension für Versicherte ab 50, DRdA 2011, 175 ff).

4.2 Die Definition der „Tätigkeiten mit geringstem Anforderungsprofil“ erfolgt in § 255 Abs 3b ASVG. Danach handelt es sich dabei um leichte körperliche Tätigkeiten, die bei durchschnittlichem Zeitdruck und vorwiegend in sitzender Haltung ausgeübt werden und/oder mehrmals täglich einen Haltungswechsel ermöglichen. Diese Tätigkeiten wurden somit nach ihrem Schweregrad, dem mit ihnen verbundenen Zeitdruck und der Körperhaltung umschrieben. Es handelt sich dabei nach den bereits zitierten Ausführungen in der Regierungsvorlage (981 BlgNR 24. GP 206) um leichte Tätigkeiten vorwiegend in sitzender Haltung und bei durchschnittlichem Zeitdruck, wobei ein Haltungswechsel möglich sein muss. Ziel der Härtefallregelung ist die Gewährung einer Pension aus dem Versicherungsfall der geminderten Arbeitsfähigkeit an Personen, die - wie bereits oben ausgeführt - ein sehr stark eingeschränktes medizinisches Leistungskalkül haben. Die Definition in Abs 3b beschreibt allerdings - entgegen der offenbaren Rechtsansicht der Revisionswerberin - nicht das medizinische (Rest-)Leistungskalkül von Versicherten, sondern jene Tätigkeiten unter allen in Betracht kommenden Verweisungstätigkeiten, die das leichteste Anforderungsprofil erfüllen. Anders ausgedrückt: Um den Anspruchsvoraussetzungen der Härtefallregelung zu genügen, darf der Pensionswerber nur mehr in der Lage sein, die in § 255 Abs 3b ASVG umschriebenen Tätigkeiten und sonst keine weiteren Verweisungstätigkeiten auszuüben (Ivansits/Weissensteiner aaO DRdA 2011, 177).

4.3 Eine (Verweisungs-)Tätigkeit mit geringstem Anforderungsprofil kann daher nach § 255 Abs 3b ASVG nur dann vorliegen, wenn sie leicht ist, bei durchschnittlichem Zeitdruck und vorwiegend in sitzender Haltung ausgeübt werden kann und/oder mehrmals täglich einen Haltungswechsel ermöglicht. Die Formulierung „und/oder“ deutet nach zutreffender Ansicht des Berufungsgerichts auf das Vorliegen kumulativer, aber auch alternativer Anspruchsvoraussetzungen hin. Eine (Verweisungs-)Tätigkeit mit dem geringsten Anforderungsprofil ist demnach eine leichte körperliche Tätigkeit, die bei durchschnittlichem Zeitdruck und vorwiegend in sitzender Haltung ausgeübt wird und (kumulativ) mehrmals täglich einen Haltungswechsel ermöglicht (erste Fallgruppe). Das Wort „oder“ für die zweite Fallgruppe ist nicht als Alternative zu leichten Tätigkeiten oder zu Tätigkeiten unter durchschnittlichem Zeitdruck, sondern als Alternative zu vorwiegend in sitzender Haltung ausgeübten Tätigkeiten zu verstehen. Es könnte daher die Härtefallregelung dahin verstanden werden, dass die zweite Fallgruppe der Tätigkeiten mit dem geringsten Anforderungsprofil eine leichte körperliche Tätigkeit, die bei durchschnittlichem Zeitdruck ausgeübt wird und mehrmals täglich einen Haltungswechsel ermöglicht, umfasst. Bei einer solchen Auslegung würde es sich aber bei den beiden Fallgruppen im Ergebnis um keinen alternativen Kreis von Anspruchsberechtigten handeln, da der Kreis der Anspruchsberechtigten nach der ersten Fallgruppe jedenfalls von der zweiten Fallgruppe umfasst wäre. Im Übrigen würde bei einer solchen Auslegung, wie die Revisionswerberin zutreffend aufzeigt, eine grundsätzlich im Gehen ausgeübte Tätigkeit, die von einer - mitunter auch nur mehrmals täglich einzunehmenden - stehenden Tätigkeit abgelöst wird, als Tätigkeit mit dem geringsten Anforderungsprofil anzusehen und damit bereits der Härtefallregelung zu unterstellen sein. Eine solche Tätigkeit stellt jedoch nach Ansicht des erkennenden Senats keine Tätigkeit mit geringstem Anforderungsprofil dar und es findet die gegenteilige Ansicht auch in den zitierten Gesetzesmaterialien keine Deckung.

4.4 Ivansits/Weissensteiner aaO DRdA 2011, 177 f vertreten in diesem Zusammenhang die Auffassung, dass folgende zwei Gruppen von „Tätigkeiten mit geringstem Anforderungsprofil“ zu unterscheiden seien

- leichte körperliche Tätigkeiten, die bei durchschnittlichem Zeitdruck und vorwiegend in sitzender Haltung ausgeübt werden und (= während der Ausübung der Tätigkeit) mehrmals täglich einen Haltungswechsel ermöglichen (zB die Tätigkeit eines Parkgaragenkassiers);

- leichte (körperliche) Tätigkeiten, die vorwiegend in sitzender Haltung ausgeübt werden oder (= nicht während der Ausübung der Tätigkeit) mehrmals einen Haltungswechsel ermöglichen (zB Tätigkeit einer Näherin).

Die Alternative bei dieser Auslegungsvariante stellt somit darauf ab, ob der mehrmalige tägliche Haltungswechsel während der Ausübung der Tätigkeit möglich ist oder nicht. Für diese Auslegung findet sich im Gesetzeswortlaut des § 255 Abs 3b ASVG durch die Bezugnahme auf die ausgeübte Tätigkeit eine gewisse Stütze. Für diese Auslegung spricht aber auch der weitere Umstand, dass in den Gesetzesmaterialien in diesem Zusammenhang ausdrücklich auf einen „nichtkontinuierlichen Arbeitsablauf“ Bezug genommen wird. Der erkennende Senat folgt daher auch in der Frage der Auslegung des Begriffs „Tätigkeiten mit dem geringsten Anforderungsprofil“ der Ansicht von Ivansits/Weissensteiner aaO, wonach es sich dabei einerseits um leichte körperliche Tätigkeiten, die bei durchschnittlichem Zeitdruck und vorwiegend in sitzender Haltung ausgeübt werden und (= während der Ausübung der Tätigkeit) mehrmals täglich einen Haltungswechsel ermöglichen (erste Fallgruppe) und andererseits um leichte körperliche Tätigkeiten, die bei durchschnittlichem Zeitdruck vorwiegend in sitzender Haltung ausgeübt werden oder (= nicht während der Ausübung der Tätigkeit) mehrmals täglich einen Haltungswechsel ermöglichen, handelt. Mit dieser Auslegung wird nach Ansicht des erkennenden Senats im Hinblick auf die vorliegende unklare Gesetzeslage der ausdrücklich erklärten Absicht des Gesetzgebers, die Härtefallregelung nur für eine sehr kleine Zahl sehr stark leistungseingeschränkter Versicherter schaffen zu wollen, sowie dem Zweck der Regelung (als „Härtefallregelung“) am ehesten Rechnung getragen.

4.5 Die Rechtsansicht der Revisionswerberin, eine Anwendung der Härtefallregelung des § 255 Abs 3a iVm Abs 3b ASVG komme im Fall des Klägers schon deshalb nicht in Betracht, weil er nach seinem medizinischen Leistungskalkül noch durchgehend Arbeiten im Sitzen verrichten könne, lässt außer Acht, dass die Legaldefinition der „Tätigkeiten mit dem geringsten Anforderungsprofil“ in § 255 Abs 3b ASVG nicht das für eine Anwendung der Härtefallregelung noch zulässige medizinische (Rest-)Leistungskalkül des Versicherten, sondern das Anforderungsprofil für jene Tätigkeiten unter allen auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt in Betracht kommenden Verweisungstätigkeiten beschreibt, die das leichteste Anforderungsprofil erfüllen und in diesem Fall nicht als mögliche und zumutbare Verweisungstätigkeiten in Betracht kommen sollen. Entscheidendes Kriterium für die Anwendung der Härtefallregelung ist daher nicht bereits die Einschränkung des medizinischen Leistungskalküls der versicherten Person, sondern wie der Gesetzeswortlaut („Tätigkeiten mit dem geringsten Anforderungsprofil, die auf dem Arbeitsmarkt noch bewertet sind“) und insbesondere auch die bereits mehrfach zitierten Gesetzesmaterialien zeigen, die vom Gesetzgeber im Hinblick auf das eingeschränkte Leistungskalkül der versicherten Person vorgesehene Einschränkung der Verweisbarkeit der versicherten Person auf dem Arbeitsmarkt.

5. Aus den dargelegten Ausführungen ergibt sich, dass die Sache noch nicht spruchreif ist. Das Erstgericht wird im fortzusetzenden Verfahren Feststellungen zur Prüfung der Frage zu treffen haben, ob der Kläger nur mehr in der Lage ist, die im § 255 Abs 3b ASVG umschriebenen Verweisungstätigkeiten auszuüben oder ob er im Hinblick auf sein festgestelltes Leistungskalkül, insbesondere unter Berücksichtigung des Umstands, dass er offensichtlich auch Tätigkeiten ausüben kann, die ein durchgehendes Sitzen erfordern, darüber hinaus in der Lage ist, weitere Verweisungstätigkeiten auszuüben. Sollte der Kläger nur mehr in der Lage sein, die in § 255 Abs 3b ASVG umschriebenen Tätigkeiten auszuüben, werden, sofern keine diesbezügliche Außerstreitstellung durch die Parteien erfolgt, auch Feststellungen zur Beurteilung der Frage zu treffen sein, ob zu erwarten ist, dass er einen Arbeitsplatz in einer seiner physischen und psychischen Beeinträchtigung entsprechenden Entfernung von seinem Wohnort innerhalb eines Jahres nicht erlangen kann.

Die Revision der beklagten Partei erweist sich somit im Sinne des Aufhebungsantrags als berechtigt.

Der Kostenvorbehalt beruht auf § 52 Abs 1 ZPO.

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