OGH 8Ob64/10k

OGH8Ob64/10k25.5.2011

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten Dr. Spenling als Vorsitzenden sowie den Hofrat Hon.-Prof. Dr. Kuras, die Hofrätin Dr. Tarmann-Prentner und die Hofräte Mag. Ziegelbauer und Dr. Brenn als weitere Richter in der Heimaufenthaltssache des Patienten R***** P*****, vertreten durch den Bewohnervertreter Dr. E***** W*****, dieser vertreten durch Mag. Nikolaus Weiser, Rechtsanwalt in Wien, über den Revisionsrekurs des Univ.-Prof. Dr. B***** R***** als Leiter der Einrichtung C*****Klinik, *****, vertreten durch Dr. Peter Lechenauer LL.M., Rechtsanwalt in Salzburg, wegen § 11 HeimAufG, gegen den Beschluss des Landesgerichts Salzburg als Rekursgericht vom 28. April 2010, GZ 21 R 472/09x-16, womit der Beschluss des Bezirksgerichts Salzburg vom 10. September 2009, GZ 36 HA 3/09z-13, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

 

Spruch:

Dem Revisionsrekurs wird Folge gegeben.

Die Beschlüsse der Vorinstanzen werden dahin abgeändert, dass die Entscheidung zu lauten hat:

„Der Antrag des Bewohnervertreters, die Freiheitsbeschränkungen des R***** P*****, im Zeitraum vom 20. Mai 2009 bis 3. Juni 2009 in der Einrichtung C*****Klinik *****, Universitätsklinik für Neurochirurgie für unzulässig zu erklären, wird abgewiesen.“

Text

Begründung

Der 1941 geborene Betroffene stürzte am 20. 4. 2009 bei der Vornahme von Renovierungsarbeiten an seinem Wohnhaus und zog sich ein schweres Schädel-Hirn-Trauma zu. Er wurde notärztlich intubiert, beatmet und im Krankenhaus operativ durch osteoplastische Trepanation (Eröffnung des Schädeldaches zur Entleerung der Blutung) und Anbringung einer Hirndrucksonde behandelt. Nach der Operation kam es nach anfänglicher Besserung des Zustands zu einer Verschlechterung mit Auftreten von Lähmungen.

Am 20. 5. 2009 wurde der Betroffene in die Universitätsklinik für Neurochirurgie zwecks Legung eines „Shunts“ transferiert. In weiterer Folge wurde er bis 3. 6. 2009 mechanischen und medikamentösen Freiheitsbeschränkungen unterzogen. Der Betroffene leidet nach wie vor an einem psychatrischen Zustandsbild, einem hirnorganischen Psychosyndrom, das aus dem unfallbedingten Schädel-Hirn-Trauma resultiert.

Mit dem am 3. 9. 2009 beim Erstgericht eingelangten Antrag begehrte der Bewohnervertreter, die in der neurochirurgischen Abteilung vorgenommenen mechanischen Freiheitsbeschränkungen sowie die Gabe verschiedener Medikamente in der Zeit vom 20. 5. bis 3. 6. 2009 für unzulässig zu erklären.

Das Erstgericht gab dem Antrag statt. Bei den betroffenen Maßnahmen handle es sich um Freiheitsbeschränkungen im Sinne des anzuwendenden Heimaufenthaltsgesetzes. Diese seien nicht unverzüglich der Bewohnervertretung gemeldet worden und daher schon formell unzulässig, aber auch inhaltlich nicht gerechtfertigt, weil keine Selbst- oder Fremdgefährdung bestanden habe und es Alternativen gegeben hätte.

Dem dagegen erhobenen Rekurs des Leiters der neurochirurgischen Universitätsklinik gab das Rekursgericht mit seinem angefochtenen Beschluss keine Folge. Bei einem traumatisch hervorgerufenen hirnorganischen Psychosyndrom handle es sich um eine psychische Krankheit im Sinn des Heimaufenthaltsgesetzes. Dieses Gesetz sei auch in Krankenanstalten, unabhängig von der Art der Abteilung, auf jene Personen anzuwenden, die dort wegen ihrer psychischen Krankheit oder geistigen Behinderung der ständigen Pflege bedürfen, ausgenommen jene Personen, die durch eine bzw im Zusammenhang mit einer medizinischen Behandlung pflege- oder betreuungsbedürftig werden. Da der Patient bereits bei der Aufnahme in die neurologische Universitätsklinik betreuungsbedürftig gewesen sei, liege ein solcher Ausnahmefall nicht vor. Darüber, dass die verfahrensgegenständlichen Maßnahmen Freiheitsbe-schränkungen im Sinn des Heimaufenthaltsgesetzes darstellen, könne kein Zweifel bestehen, weshalb allein schon die unterbliebene Verständigung des Bewohnervertreters ihre Unzulässigkeit begründe. Der ordentliche Revisionsrekurs sei nicht zulässig, weil sich die Entscheidung des Rekurssenats auf eine nunmehr ständige Judikatur des Höchstgerichts zur Frage der Anwendbarkeit des Heimaufenthaltsgesetzes in Krankenanstalten stützen habe können.

Rechtliche Beurteilung

Der gegen diese Entscheidung erhobene, vom Bewohnervertreter beantwortete Revisionsrekurs des Leiters der Einrichtung ist entgegen dem - den Obersten Gerichtshof gemäß § 71 Abs 1 AußStrG nicht bindenden - Ausspruch des Rekursgerichts zulässig, weil sich das rechtliche Ergebnis der Vorinstanzen als korrekturbedürftig erweist. Er ist auch berechtigt.

1. Da dem Leiter der Einrichtung durch § 11 HeimAufG ein eigenes Antragsrecht und durch § 16 HeimAufG ein unbeschränktes Rechtsmittelrecht für den Fall zugestanden wird, dass eine Freiheitsbeschränkung für unzulässig erklärt wird, kommt ihm im Interesse der Allgemeinheit und seiner Einrichtung auch ein Rechtsschutzinteresse zu, für die Zukunft abzuklären, ob eine Maßnahme zulässig ist oder nicht (7 Ob 43/10i).

2. Nach § 16 Abs 2 HeimAufG beträgt die Frist für Rekurse des Leiters der Einrichtung gegen Beschlüsse, mit denen Freiheitsbeschränkungen für unzulässig erklärt werden, sieben Tage. Für den Revisionsrekurs enthält das Heimaufenthaltsgesetz hingegen keine von der Regelung des § 65 Abs 1 AußStrG abweichende Fristenvorgabe, allerdings war nach § 16 Abs 3 HeimAufG (in der hier anzuwendenden Fassung vor der Ub-HeimAufG-Novelle 2010) für die Revisionsrekursbeantwortung eine besondere Frist von sieben Tagen normiert. Angesichts einer ausdrücklich auf die Gegenschrift begrenzten Sonderregelung ist davon auszugehen, dass sie der Gesetzgeber auf den Revisionsrekurs des Einrichtungsleiters bewusst nicht anwenden wollte. Da Gegenstand eines solchen Revisionsrekurses ohnehin nur eine Maßnahme sein kann, die von den Vorinstanzen für unzulässig erklärt wurde, besteht zur Wahrung des Bewohnerrechtsschutzes keine Notwendigkeit für eine besonders knappe Frist. Eine planwidrige Gesetzeslücke, die eine analoge Anwendung der kürzeren Rekursfrist auch auf den Revisionsrekurs gebieten würde, ist daher nicht anzunehmen (aA [obiter] 10 Ob 49/06p). Gegen eine solche Absicht des Gesetzgebers spricht nun auch, dass mit der Ub-HeimAufG-Novelle 2010 keine Angleichung der Rechtsmittelfristen erfolgte, sondern in § 19a leg cit für das Verfahren über eine nachträgliche Überprüfung von Freiheitsbeschränkungen die Rekursfrist auf vierzehn Tage verlängert wurde (vgl Engel, Die Änderungen im Unterbringungsgesetz durch die Ub-HeimAufG-Novelle 2010, iFamZ 2010, 202 [204]).

Der später als sieben Tage, aber innerhalb von 14 Tagen nach Zustellung der Rekursentscheidung beim Erstgericht eingelangte, vom Bewohnervertreter beantwortete Revisionsrekurs des Einrichtungsleiters wurde daher rechtzeitig erhoben.

3. Der Rechtsmittelwerber führt zusammengefasst ins Treffen, bei dem betroffenen Patienten sei das von den Vorinstanzen als psychische Erkrankung gewertete hirnorganische Psychosyndrom ausschließlich eine Folge des beim Sturz erlittenen Schädel-Hirn-Traumas gewesen und erst im Zuge der Behandlung dieser Verletzung aufgetreten. Der Aufenthalt in der neurochirurgischen Abteilung der vom Revisionsrekurswerber geleiteten Einrichtung sei ein typischer Teil der Behandlung eines unfallbedingten Traumas und falle aus diesem Grund nicht unter den Anwendungsbereich des Heimaufenthaltsgesetzes. Nach der Rechtsansicht der Vorinstanzen würde jeder Patient, der nach einer Verletzung von einer anderen Klinik zur neurochirurgischen Behandlung transferiert werde, bezüglich freiheitsbeschränkender Maßnahmen im Zuge dieser Behandlung unter das Heimaufenthaltsgesetz fallen. Dies sei kein vertretbares Ergebnis, weil die Abgrenzung zwischen vorübergehenden Unfallfolgen und psychischer Krankheit nicht nur in einem Ortswechsel bestehen könne.

4. In Krankenanstalten sind die Bestimmungen des Heimaufenthaltsgesetzes auf Personen anzuwenden, die dort wegen ihrer psychischen Krankheit oder geistigen Behinderung der ständigen Pflege und Betreuung bedürfen (§ 2 Abs 1 HeimAufG). Ausgenommen sind nur jene Patienten, die erst wegen bzw im Zusammenhang mit der medizinischen Behandlung pflege- oder betreuungsbedürftig werden (RIS-Justiz RS0121803). Vom Zweck der Regelungen des Heimaufenthaltsgesetzes sind jene Fälle umfasst, in denen die Bedürftigkeit des Patienten unabhängig von der konkret im Krankenhaus behandelten körperlichen Beeinträchtigung (sei diese Folge eines Unfalls oder einer Krankheit) bereits besteht. Ein solcher Patient soll auch während eines Krankenhausaufenthalts nicht den ihm außerhalb des Krankenhauses, in einer Einrichtung nach § 2 Abs 1 HeimAufG, zukommenden besonderen Schutz verlieren. Es wäre nicht einsichtig, weshalb Freiheitsbeschränkungen von solchen Personen bei Betreuung im Heim dem Gesetz unterfielen und - bei sonst ganz vergleichbaren Umständen - in Krankenanstalten nicht (3 Ob 246/06g mwN und eingehender Begründung).

5. Die Vorinstanzen gehen in ihren Entscheidungen zwar ebenfalls von dieser Rechtslage aus, leiten aber aus dem Umstand, dass der Patient bereits im Zeitpunkt der Überstellung in die neurologische Universitätsklinik aufgrund der Unfallfolgen psychisch beeinträchtigt war, die Anwendbarkeit des Heimaufenthaltsgesetzes ab.

Diese Auffassung steht mit der jüngeren Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs nicht in Einklang. Die Entscheidung 3 Ob 24/10s hatte Beschränkungen der Mobilität eines Patienten zum Gegenstand, die nur zur Absicherung bei motorischer Unruhe infolge eines Schlaganfalls und der daran anknüpfenden medizinischen Behandlung, nicht aber aufgrund einer psychischen Krankheit oder aufgrund einer geistigen Behinderung vorgenommen worden waren, und kam zum Ergebnis, dass solche Maßnahmen nicht unter § 2 Abs 1 HeimAufG zu subsumieren sind.

In der Entscheidung 2 Ob 162/09a waren freiheitsbeschränkende Maßnahmen in einer akuten psychiatrischen Situation zu beurteilen, die durch eine vorangegangene Nierentumoroperation ausgelöst worden war. Der vor der Operation nur an einem leichten organischen Psychosyndrom leidende Patient verfiel - ähnlich dem Betroffenen im vorliegenden Verfahren - einige Tage nach dem Eingriff in völlige Desorientiertheit und aggressives Verhalten als Folge eines postoperativen Durchgangssyndroms. Er wurde an einer psychiatrischen Abteilung behandelt und anschließend wieder an die internistische Abteilung rücktransferiert, wo er in einem nicht einsichts- und urteilsfähigen Zustand Freiheitsbeschränkungen unterworfen wurde. Auch hier erachtete der Oberste Gerichtshof das Heimaufenthaltsgesetz für nicht anwendbar, obwohl auch bei Wiederaufnahme an der internistischen Abteilung - so wie im vorliegenden Fall - bereits eine psychische Beeinträchtigung vorlag. Selbst wenn das postoperative Durchgangssyndrom als psychische Erkrankung iSd § 2 Abs 1 HeimAufG zu sehen wäre, läge deswegen noch kein ständiger Betreuungs- und Pflegebedarf vor.

6. Der vorliegende Sachverhalt ist den in den zitierten Entscheidungen beschriebenen Fällen weitgehend vergleichbar. Der betroffene Patient erlitt eine Unfallverletzung, deren Heilungsverlauf mit Komplikationen verbunden war und der zu ähnlichen psychomotorischen Ausfällen führte, wie sie auch nach einem Schlaganfall oder im Zuge eines postoperativen Durchgangssyndroms auftreten. Die Behandlung durch einen flüssigkeitsableitenden Shunt, wie sie in der neurochirurgischen Universitätsklinik durchgeführt wurde, war einschließlich der daran anschließenden stationären Behandlung nach den Feststellungen Teil der Behandlung der Unfallfolgen mit dem Ziel, die Gesundheit des Patienten wiederherzustellen. Ein Bedarf nach ständiger Pflege und Betreuung wegen einer von den Unfallfolgen unabhängigen psychischen Krankheit oder geistigen Behinderung bestand nicht.

Dem Revisionsrekurs ist aber auch darin beizupflichten, dass die Anwendbarkeit des Heimaufenthaltsgesetzes nicht von einem Ortswechsel abhängen kann. Ob die im Zuge einer Heilbehandlung angeordneten freiheitsbeschränkenden Maßnahmen in jenem Krankenhaus durchgeführt werden, das den Patienten als erstes aufgenommen hat, oder in einer Spezialabteilung, in die er im Zuge der Behandlung transferiert wurde, kann für die Abgrenzung zwischen Behandlungsfolgen und ständigem Pflege- und Betreuungsbedarf iSd § 2 Abs 1 HeimAufG keine Rolle spielen.

7. Nach den Feststellungen im vorliegenden Verfahren wurde der betroffene Patient in der neurochirurgischen Universitätsklinik nach wie vor mit dem Ziel der Wiederherstellung seiner Gesundheit behandelt, ein finaler Zustand dauernder psychischer Erkrankung oder geistiger Behinderung lag zum Zeitpunkt der verfahrensgegenständlichen Freiheitsbeschränkungen nicht vor. Die anordnungsbefugten Personen und Einrichtungsleiter müssen aber zwangsläufig im Vorhinein beurteilen können, ob sie die nach dem Heimaufenthaltsgesetz erforderlichen Maßnahmen und Verständigungspflichten einzuhalten haben. Ungünstige Entwicklungen des Zustands des Patienten, die erst im Nachhinein sicher zu beurteilen sind, können nicht die rückwirkende Änderung der anwendbaren Rechtslage herbeiführen.

Dem Revisionsrekurs des Leiters der Einrichtung war daher Folge zu geben.

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