Spruch:
Der Revision wird Folge gegeben.
Die Urteile der Vorinstanzen werden aufgehoben. Die Sozialrechtssache wird zur Verfahrensergänzung und neuerlichen Entscheidung an das Erstgericht zurückverwiesen.
Die Kosten der Revisionsbeantwortung des Klägers sind weitere Verfahrenskosten.
Text
Begründung
Der am 2. 8. 1994 geborene Kläger lebt bei seiner Mutter und besucht die 10. Stufe des Sonderpädagogischen Zentrums. Er leidet an einer autistischen Entwicklungsstörung mit autistischen und autoaggressiven Zügen und verfügt über eine sehr niedrige intellektuelle Leistungsfähigkeit. Es bestehen eine leichte Dysarthrie und minimale Störungen der Koordination.
Die Beklagte hat dem damals achtjährigen Kläger mit Bescheid vom 29. 10. 2002 Pflegegeld der Stufe 4 unter Anrechnung des Erhöhungsbetrags der Familienbeihilfe für erheblich behinderte Kinder ab 1. 8. 2002 zuerkannt. Zuvor hatte er Pflegegeld der Stufe 3 bezogen. Über den 31. 7. 2004 hinaus wurde ihm mit „Festellungsbescheid“ vom 26. 8. 2004 (aufgrund amtsärztlicher Nachuntersuchung) Pflegegeld der Stufe 4 weitergewährt.
Mit dem bekämpften Bescheid vom 30. 9. 2009 setzte die Beklagte das seit 1. 8. 2002 gewährte Pflegegeld der Stufe 4 mit Ablauf des Monats November 2009 - unter Hinweis auf eine weitere Nachuntersuchung - auf die Stufe 3 herab.
Gegen diesen Bescheid richtet sich die auf Weitergewährung des Pflegegelds der Stufe 4 gerichtete Klage mit der Begründung, der Kläger weise einen im Einzelnen aufgeschlüsselten Pflegebedarf auf, der 160 Stunden monatlich bei Weitem überschreite, weil er bei der Durchführung jeglicher Alltagshandlung der Hilfe, ständigen Anleitung und Beaufsichtigung durch eine vertraute Bezugsperson bedürfe.
Die Beklagte beantragte die Abweisung des Klagebegehrens. Dem Kläger sei die Einnahme der Mahlzeiten mittlerweile ohne fremde Hilfe möglich; bei Verrichtung der Notdurft sei nur mehr die Reinigung nach dem Stuhlgang erforderlich und beim An- und Auskleiden sei lediglich eine Teilhilfe nötig. Inkontinenz liege nicht mehr vor. Daher sei eine Verbesserung des Gesundheitszustands des Klägers eingetreten. Der monatliche Pflegebedarf betrage nur noch 143 Stunden.
Das Erstgericht verpflichtete die Beklagte, dem Kläger Pflegegeld der Stufe 4 im gesetzlichen Ausmaß unter Anrechnung des Erhöhungsbetrags der Familienbeihilfe für erheblich behinderte Kinder von 60 EUR monatlich in der Höhe von 604,30 EUR monatlich, über den 30. 11. 2009 hinaus, zu bezahlen. Dazu traf es noch folgende weitere Feststellungen zum Gesundheitszustand des Klägers:
Es besteht keine Inkontinenz; die Reinigung nach dem Stuhlgang kann vom Kläger [jedoch] nicht alleine vorgenommen werden. Auch die selbstständige Körperreinigung und das Ankleiden sind ihm unmöglich. Das Auskleiden kann er selbst bewerkstelligen. Er ist nicht in der Lage, die Reinigung von Wohnung und Gebrauchsgegenständen, die Pflege der Leib- und Bettwäsche sowie die Herbeischaffung von Lebensmitteln und Bedarfsgütern des täglichen Lebens und von Medikamenten alleine zu besorgen oder selbstständig Mahlzeiten zuzubereiten.
Die Nahrung kann der Kläger selbstständig einnehmen. Medikamente müssen ihm gereicht werden. Bei der Gabe von Medikamenten ist es erforderlich, dem Kläger ca eine Viertelstunde gut zuzureden, damit er die Bereitschaft hat, die Medikamente zu nehmen. Für das Überreden zur Einnahme der Medikamente ist neben dem Aufwand für die bloße Vorbereitung ein Aufwand von 10 Stunden im Monat erforderlich.
Es ist Mobilitätshilfe im weiteren Sinn erforderlich. Der Kläger ist nicht in der Lage, selbstständig die Wohnung zu verlassen.
„Es besteht Indikation für Motivationsgespräche aufgrund der außerordentlich schweren Verhaltensstörung.“ Ohne Motivation wäre der Kläger nicht in der Lage, seinen Alltag zu bewältigen. Zwar ist er in der Lage, „aufs Klo“ zu gehen. Er muss dazu jedoch aufgefordert werden. Auch das Ausziehen, das er selbstständig bewerkstelligen kann, erfordert eine vorhergehende Motivation.
Es liegen pflegeerschwerende Störungen im Verhalten des Klägers vor. Er setzt - wie beschrieben - der Medikamenteneinnahme Widerstand entgegen. Er neigt dazu, unvermittelt davon zu laufen.
Der Zustand des Klägers hat sich seit der Gewährung im Jahr 2002 dahingehend etwas gebessert, dass nunmehr keine Inkontinenz mehr vorliegt. Beim An- und Auskleiden ist nur mehr teilweise Hilfe erforderlich. Eine zukünftige Besserung ist nicht zu erwarten. Bei optimaler Therapierung könnten Verbesserungen und eine Reduktion des Pflegebedarfs nur im Minimalbereich erzielt werden, beispielsweise dadurch, dass der Motivationsaufwand geringer wird. Beim Kläger ist die Adoleszenz noch nicht abgeschlossen. Im Rahmen der Persönlichkeitsentwicklung könnte sich seine Persönlichkeitsstörung noch adaptieren.
Eigengefährdung besteht nicht; Fremdgefährdung ist bisher nie beobachtet worden.
Rechtlich beurteilte das Erstgericht den festgestellten Sachverhalt zusammengefasst dahin, dass der monatliche Pflegebedarf des Klägers insgesamt 160,5 Stunden betrage, und zwar für:
„Kontrolle der Reinigung nach
Verrichten der großen Notdurft“ 2,5 Std
Körperreinigung 25 Std
An-/Auskleiden 15 Std
Reinigung der Wohnung und
der Gebrauchsgegenstände 10 Std
Herbeischaffung von Lebens-
mitteln, Bedarfsgütern und
Medikamenten 10 Std
Pflege der Leib- und Bettwäsche 10 Std
Zubereitung der Mahlzeiten 30 Std
Einnahme der Medikamente 13 Std
Mobilitätshilfe im weiteren Sinn 10 Std
Motivationsgespräche 10 Std
Erschwerniszuschlag
gemäß § 4 Abs 5 WPGG 25 Std
insgesamt 160,5 Std
Den im Revisionsverfahren allein strittigen Pflegebedarf für die „Kontrolle der Reinigung nach Verrichten der großen Notdurft“ begründete das Erstgericht wie folgt:
Der Kläger sei nicht in der Lage, selbstständig die Reinigung nach dem Stuhlgang vorzunehmen. Bei der Unterstützung nach der Verrichtung der Notdurft handle es sich um eine Betreuungsleistung, die nach der Einstufungsverordnung mit einem Mindestwert von 4 x 15 Minuten pro Tag (das sind 30 Stunden pro Monat) zu veranschlagen sei. Bei erheblichem Unterschreiten des Mindestwerts komme die Anerkennung des pauschalierten Mindestwerts nicht mehr in Betracht. Für die Kontrolle der Reinigung nach Verrichtung der großen Notdurft seien täglich fünf Minuten, also 2,5 Stunden pro Monat angemessen.
Das Berufungsgericht gab der Berufung der Beklagten nicht Folge und sprach aus, dass die ordentliche Revision nicht zulässig sei. Es teilte die Rechtsansicht der Berufungswerberin, dass ein zusätzlicher Pflegebedarf für eine „übergreifende Betreuungsmaßnahme“ im Sinn von allgemeinen Motivationsgesprächen (10 Stunden) nicht vorliege; vertrat jedoch die Auffassung, für die Reinigung nach Verrichtung der großen Notdurft seien nicht die vom Erstgericht veranschlagten 2,5 Stunden, sondern 30 Stunden monatlich als Mindestwert nach § 1 Abs 4 EinstV WPGG zu berücksichtigen. Dazu komme, dass die Hilfe beim An- und Auskleiden richtigerweise mit 20 Stunden (statt mit 15 Stunden) monatlich als Richtwert in Anschlag zu bringen sei. Der Pflegebedarf des Klägers übersteige daher jedenfalls 160 Stunden monatlich.
Gegen das Urteil des Berufungsgerichts richtet sich die außerordentliche Revision der Beklagten wegen unrichtiger rechtlicher Beurteilung mit dem Antrag, die angefochtene Entscheidung dahin abzuändern, dass das Klagebegehren abgewiesen werde; hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.
Der Kläger beantragt in der ihm freigestellten Revisionsbeantwortung, der außerordentlichen Revision nicht Folge zu geben.
Rechtliche Beurteilung
Die Revision ist zulässig, weil das Berufungsgericht im Ergebnis von den in der Rechtsprechung zur „erheblichen Unterschreitung“ normierter Mindestwerte entwickelten Grundsätzen abgewichen ist, und im Sinn der beschlossenen Aufhebung auch berechtigt.
In ihrer Revision lässt die Beklagte einen Pflegebedarf des Klägers von monatlich 155,5 Stunden (davon 2,5 Stunden für die Reinigung nach Verrichten der großen Notdurft) unbekämpft. Sie führt selbst aus, im Revisionsverfahren sei nur noch der Pflegebedarf strittig, der für die Reinigung nach der Verrichtung der großen Notdurft anzusetzen sei. Die diesbezügliche Beurteilung des Berufungsgerichts widerspreche der in RIS-Justiz RS0109875 und 10 ObS 106/01p sowie Greifeneder/Liebhart, Pflegegeld2 Rz 407 und 416 dokumentierten Judikatur des Obersten Gerichtshofs, wonach bei den in § 1 Abs 4 EinstV genannten „verbindlichen Mindestwerten“ zwar eine Unterschreitung ausgeschlossen sei, der jeweilige Mindestwert aber nur dann berücksichtigt werde dürfe, wenn sich der tatsächliche Bedarf nicht bloß auf einen kleinen Teil der dort angeführten Betreuungsmaßnahmen beziehe. Demnach komme bei erheblicher Unterschreitung, etwa dann, wenn der Aufwand „deutlich“ unter der Hälfte des normierten Mindestwerts liege, die Anerkennung des pauschalierten Mindestbedarfs nicht mehr in Betracht.
Nach dieser Entscheidung (10 ObS 106/01p) sei es nicht gerechtfertigt, den Mindestwert in Anschlag zu bringen, wenn der Betroffene die Notdurft selbst und die nachfolgende Reinigung allein verrichten könne, aber bei jedem Gang zum WC aufgefordert werden müsse, die Notdurft zu verrichten und dies (einschließlich der Kontrolle, ob die Notdurft tatsächlich verrichtet wurde) einen Zeitaufwand von monatlich 5 Stunden erfordere (so auch: Greifeneder/Liebhart aaO Rz 416 erstes Beispiel). Im vorliegenden Fall benötige der Kläger für das Aufsuchen der Toilette und die bestimmungsgemäße Benutzung derselben „keine Hilfe“ und die Hilfe bei der anschließenden Reinigung beschränke sich auf die große Notdurft. Es liege daher auf der Hand, dass der Mindestwert im relevanten Umfang unterschritten werde, weil sich der tatsächliche Bedarf nur auf einen kleinen Teil der Betreuungsmaßnahmen beziehe. Für die Reinigung nach Verrichtung der großen Notdurft erscheine ein Zeitwert von 5 Minuten pro Tag, also 2,5 Stunden pro Monat angemessen (Greifeneder/Liebhart aaO Rz 416 letztes Beispiel für „typische Teilverrichtungen“).
Diesem Standpunkt kommt (zunächst) insoweit Berechtigung zu, als der vom Erstgericht mit 2,5 Stunden monatlich festgestellte Betreuungsaufwand für die angesprochene Verrichtung jedenfalls deutlich unter der Hälfte des normierten Mindestwerts von 30 Stunden monatlich liegt. Letzterer hätte daher - wie bereits das Erstgericht erkannte - nicht veranschlagt werden dürfen, weil nur der tatsächliche Zeitaufwand für die erforderlichen Betreuungsleistungen maßgeblich wäre (vgl 10 ObS 148/09a mwN).
Demgegenüber weist die Revisionsbeantwortung jedoch darauf hin, dass nach dem festgestellten Sachverhalt jedenfalls nicht nur eine „Reinigung“ durchzuführen sei, weil es auch einer ständigen Anleitung und Aufsicht bedürfe, um den Kläger überhaupt zur selbstständigen Durchführung der Toilettengänge zu motivieren. Diese betreffe sowohl die kleine als auch die große Notdurft und sei für den Kläger bei der kleinen Notdurft erforderlich, um die Kleidung selbst vorher und nachher zu „richten“, die Toilette selbst zu benützen und sich danach die Hände zu waschen. Bei der großen Notdurft müsse außerdem eine Betreuungsperson den Kläger säubern und die Toilette reinigen. Vor diesem Hintergrund weiche die Rechtsansicht des Berufungsgerichts, wonach der volle Mindestwert von 30 Stunden monatlich anzusetzen sei, nicht von der ständigen Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs ab, weil sich der Aufwand nicht bloß auf einen kleinen Teil der angeführten Betreuungsleistungen („Kontrolle der Reinigung nach der großen Notdurft“), sondern auf einen Pflegeaufwand von zumindest 15 Stunden pro Monat beziehe. Denn Motivation und Anleitung seien gemäß „§ 1 Abs 4“ (gemeint § 4 Abs 1) EinstV (zum WPGG) der tatsächlichen Durchführung der Verrichtung gleichzuhalten.
Dazu wurde erwogen:
1. Die Unterstützung bei der Verrichtung der Notdurft ist eine Betreuungsleistung nach § 1 Abs 2 EinstV, für die nach § 1 Abs 4 EinstV ein Mindestwert von 4 x 15 Minuten pro Tag (30 Stunden pro Monat) zu veranschlagen ist. Der vorgesehene Mindestwert umfasst das Aufsuchen der Toilette, die bestimmungsgemäße Benützung derselben und die anschließende Reinigung (Greifeneder/Liebhart, Pflegegeld², Rz 406 f).
1.1. Die Hilfe beim damit in Zusammenhang stehenden An- und Auskleiden stellt einen Teilaspekt der Verrichtung der Notdurft dar und ist daher - unabhängig von der Unterstützung beim An- und Auskleiden nach § 1 Abs 3 EinstV - zusätzlich bei der Prüfung eines Betreuungsbedarfs bei der Notdurftverrichtung zu berücksichtigen.
1.2. Alleine aus der allgemeinen Unfähigkeit zum selbstständigen An- und Auskleiden kann jedoch nicht geschlossen werden, dass automatisch auch das im Zusammenhang mit der Verrichtung der Notdurft notwendige Aus- und Ankleiden unmöglich und damit die Unterstützung bei der Verrichtung der Notdurft erforderlich ist, weil dabei nur Teilverrichtungen des An- und Auskleidens (wie das Hinauf- und Hinunterziehen einer Hose und der Unterbekleidung) erforderlich sind (10 ObS 354/00g). Dies ist daher im Einzelfall gesondert zu prüfen und festzustellen (Greifeneder/Liebhart, Pflegegeld², Rz 410).
2. Nach § 4 Abs 1 EinstV ist die Anleitung sowie die Beaufsichtigung von Menschen mit geistiger oder psychischer Behinderung bei der Durchführung der in §§ 1 und 2 EinstV angeführten Verrichtungen der Betreuung und Hilfe gleichzusetzen. Nach Abs 2 dieser Bestimmung ist dann, wenn mit geistig oder psychisch behinderten Menschen zur selbstständigen Durchführung von in den §§ 1 und 2 EinstV angeführten Verrichtungen Motivationsgespräche zu führen sind, für diese Betreuungsmaßnahme von einem - auf einen Monat bezogenen - zeitlichen Richtwert von insgesamt zehn Stunden auszugehen.
2.1. Die „Anleitung“ gemäß § 4 Abs 1 EinstV hat zum Ziel, die Erledigung der Verrichtung in einem sinnvollen Ablauf sicherzustellen, wobei die vorhandenen motorischen Fähigkeiten bei eingeschränkter geistiger oder psychischer Leistungsfähigkeit durch den Zuspruch der Pflegeperson eingesetzt werden. Der zeitliche Aufwand dafür kann sehr unterschiedlich sein, zumal die Anleitung das Erklären bis hin zum Vorzeigen der konkreten Handlung in ihren sämtlichen einzelnen Teilschritten erfordern kann. Auch die Anleitung kann motivierende Komponenten besitzen, erfolgt jedoch im Gegensatz zur Motivation (vgl dazu die Motivationsgespräche iSd § 4 Abs 2 EinstV) ausschließlich während der tatsächlichen Verrichtung. Die „Beaufsichtigung“ gemäß § 4 Abs 1 EinstV wiederum dient einerseits dem Schutz des Pflegebedürftigen vor Eigengefährdung bei der Vornahme der Verrichtung (zB unkontrollierte Attacken mit Essbesteck) und andererseits zur Kontrolle, ob die Verrichtung auch tatsächlich durchgeführt wird (10 ObS 257/00t = SSV-NF 14/116; 10 ObS 21/03s = SSV-NF 17/29 mwN).
2.2. Die Bestimmung des § 4 EinstV hat Fälle im Auge, in denen die Anwesenheit der Betreuungsperson während der Verrichtung erforderlich ist. Die betroffene Person ist hier zwar rein physisch in der Lage, die in Frage kommenden Verrichtungen zu besorgen, kann dies aber wegen einer im psychischen Bereich liegenden Behinderung nur unter Anleitung und unter Aufsicht einer Betreuungsperson besorgen. Nur in diesem Fall erklärt sich die Regelung der Verordnung, dass die Anleitung und Beaufsichtigung mit dem für die Verrichtungen in den §§ 1 und 2 EinstV bestimmten Zeitwert gleichzusetzen ist (RIS-Justiz RS0065213). Das bedeutet die Berücksichtigung desselben Zeitwerts bei der Ermittlung des Pflegebedarfs wie bei der vollständigen Übernahme der Verrichtung durch eine Pflegeperson (Greifeneder/Liebhart aaO Rz 497 f).
2.3. Dass eine Unterschreitung des Mindestwerts für die Betreuung und Hilfe bei der Verrichtung der Notdurft nicht gerechtfertigt erscheint, wenn diese Voraussetzungen erfüllt sind und der Sachverhalt daher von dem in der in Entscheidung 10 ObS 106/01p = SSV-NF 15/60 (auf die sich die Beklagte beruft) behandelten Fall erheblich abweicht, hat der Senat bereits in der Entscheidung 10 ObS 144/01a = SSV-NF 15/72 mit folgender Begründung ausgesprochen:
„Anders als im dortigen Fall bedarf die Klägerin hier nicht nur der Aufforderung zum Gang zum WC oder der Kontrolle, ob sie tatsächlich die Notdurft verrichtet hat; es steht vielmehr fest, dass ihr eine selbständige Verrichtung der Notdurft inklusive entsprechender Reinigung nur mit der Einschränkung möglich ist, dass ihr dabei gezeigt werden muss, wo sich WC-Papier und Handtuch befinden. Damit ist aber schon nach der Lebenserfahrung eine diesbezügliche Anleitung und Beaufsichtigung während des gesamten Zeitraumes der Verrichtung der Notdurft erforderlich, weshalb - entgegen der Auffassung des Berufungsgerichtes - nicht von einem Zeitaufwand von nur 6 Minuten täglich (= 3 Stunden monatlich) ausgegangen werden kann; hält doch das Berufungsgericht selbst - zutreffend - fest, dass eine derartige Anleitung und Beaufsichtigung von Menschen mit geistiger oder psychischer Behinderung bei der Durchführung der in §§ 1 und 2 EinstV angeführten Verrichtungen der Betreuung und Hilfe gleichzusetzen ist.
Da eine Unterschreitung des Mindestwertes für die Betreuung bei der Verrichtung der Notdurft somit nicht gerechtfertigt erscheint, ...“
2.3. Keine Gleichsetzung erfolgt hingegen, wenn bloß eine Erinnerung oder ein Anstoß zu einer Verrichtung nach §§ 1 und 2 EinstV gegeben werden muss, worauf der Betroffene die Verrichtung selbstständig ohne Anwesenheit einer Betreuungsperson durchführen kann. Dann ist der dafür erforderliche Pflegebedarf konkret zu ermitteln und zu berücksichtigen (10 ObS 21/03s = SSV-NF 17/29; (Greifeneder/Liebhart aaO Rz 499).
3. Im vorliegenden Fall bedarf der Kläger jedenfalls nicht nur der Aufforderung zum Gang zum WC oder der Kontrolle, ob er tatsächlich die Notdurft verrichtet hat; es ist vielmehr davon auszugehen, dass ihm eine selbstständige Verrichtung der Notdurft inklusive entsprechender Reinigung jedenfalls nur unter Inanspruchnahme weiterer Betreuungsleistungen möglich ist; allenfalls wird - wie in der eben zitierten Entscheidung - eine Anleitung und Beaufsichtigung sogar während des gesamten Zeitraums der Verrichtung der Notdurft erforderlich sein.
3.1. Bisher steht dazu allerdings nur fest, dass der Kläger zwar in der Lage ist „aufs Klo zu gehen“, dass er „dazu“ jedoch aufgefordert werden muss (kleine und große Notdurft?), wobei auch das (jeweils notwendige) Ausziehen, das er selbstständig bewerkstelligen kann, eine vorhergehende Motivation erfordert, während dem Kläger das Anziehen und die selbstständige Körperreinigung überhaupt unmöglich sind.
3.2. Maßgebend ist daher, ob die behauptete (umfassende) diesbezügliche Anleitung und Beaufsichtigung tatsächlich während des gesamten Zeitraums der Verrichtung der Notdurft erforderlich ist oder ob hier keine Gleichsetzung (iSd § 4 Abs 1 EinstV) zu erfolgen hat, weil bloß eine Erinnerung oder ein Anstoß zu dieser Verrichtung gegeben werden muss, worauf sie der Betroffene selbstständig ohne Anwesenheit einer Betreuungsperson durchführen kann. Im ersten Fall könnte nicht von einem Zeitaufwand von nur 5 Minuten täglich (= 2,5 Stunden monatlich) ausgegangen werden und eine Unterschreitung des Mindestwerts für die Betreuung bei der Verrichtung der Notdurft wäre daher nicht gerechtfertigt; während im zweiten Fall der für die genannte Verrichtung insgesamt erforderliche Pflegebedarf konkret zu ermitteln und zu berücksichtigen wäre.
4. Davon abgesehen blieb im vorliegenden Verfahren aber auch unberücksichtigt, dass zu der für einen Entzug oder die Neubemessung (hier: Herabsetzung) des Pflegegeldanspruchs erforderlichen „wesentlichen Änderung“ der objektiven Grundlagen für die seinerzeitige Leistungszuerkennung (§ 9 Abs 4 BPGG bzw hier: § 7 Abs 4 WPGG [Greifeneder/Liebhart, Pflegegeld2 Rz 224 ff mwN; 10 ObS 150/07t = SSV-NF 21/88]), bisher nur die Feststellungen getroffen wurden, dass
- beim Kläger zwar im Vergleich zum Jahr 2002 „Besserungen im Gesundheitszustand“ eingetreten sind, weil keine Inkontinenz mehr besteht und er sich selbständig ausziehen kann;
- aber insoweit nach wie vor Motivation erforderlich ist, wobei der Kläger in diesem Zusammenhang (immer noch) folgender Unterstützung bedarf:
- ihm weiterhin die selbstständige Körperreinigung und das Ankleiden unmöglich ist
- er auch die Reinigung nach dem Stuhlgang nach wie vor nicht allein vornehmen kann
- er zwar in der Lage ist, „aufs Klo“ zu gehen, hiezu jedoch aufgefordert werden muss
- auch das Ausziehen, das er selbstständig bewältigen kann, eine vorhergehende Motivation erfordert.
4.1. Es steht in diesem Zusammenhang also nur fest, dass beim Kläger „im Vergleich zum Jahr 2002“ bestimmte - im Einzelnen angeführte - „Besserungen im Gesundheitszustand“ eingetreten sind; es wurden aber (noch) keine Feststellungen dazu getroffen, dass nach der Weitergewährung des Pflegegelds der Stufe 4 (mit Bescheid vom 26. 8. 2004) eine „wesentliche“ Veränderung des Zustandsbilds des Pflegebedürftigen und in dessen Folge eine Änderung im Umfang des Pflegebedarfs, der für das Ausmaß der Pflegegeldstufe maßgeblich ist, eingetreten wäre.
5. Die Frage, ob ein rechtskräftig zuerkanntes Pflegegeld neu zu bemessen ist, richtet sich aber nach § 9 Abs 4 BPGG (bzw im vorliegenden Fall nach § 7 Abs 4 WPGG [vgl 10 ObS 150/07t = SSV-NF 21/88), wonach eine Entziehung oder Neubemessung (Erhöhung oder Herabsetzung) des Pflegegeldanspruchs eine wesentliche Veränderung des Zustandsbilds des Pflegebedürftigen und in der Folge eine Änderung im Umfang des Pflegebedarfs voraussetzt, die die Gewährung einer anderen Pflegegeldstufe erforderlich macht.
5.1. Nach den dazu festgestellten Tatsachen ist zu prüfen, ob sich die objektiven Grundlagen für die seinerzeitige Leistungszuerkennung so wesentlich geändert haben, dass sich eine Veränderung mit Anspruch auf eine andere Pflegegeldstufe ergeben hat. Es genügt dabei nicht, nur den körperlichen Zustand zum Zeitpunkt der Gewährung zu jenem im Zeitpunkt der Neubemessung des Pflegegelds in Beziehung zu setzen. Es sind auch die Änderungen im Pflegebedarf, der für das Ausmaß der Pflegegeldstufe maßgeblich ist, zueinander in Beziehung zu setzen, um daraus ableiten zu können, ob eine wesentliche Änderung eingetreten ist (RIS-Justiz RS0123144; jüngst: 10 ObS 32/10v, 10 ObS 81/10z).
5.2. Auf dieser Basis ist dann zu beurteilen, ob sich die objektiven Grundlagen für die seinerzeitige Leistungszuerkennung so wesentlich geändert haben, dass nun - im Hinblick auf eben diese wesentliche Änderung - Anspruch auf eine andere Pflegegeldstufe besteht (10 ObS 32/10v, 10 ObS 81/10z jeweils mwN). Wie dem eingangs wiedergegebenen Sachverhalt zu entnehmen ist, fehlt es beim Kläger schon an der Feststellung einer solchen wesentlichen Änderung gegenüber der letzten rechtskräftigen Pflegegeldbemessung im Jahr 2004.
5.3. Nur wenn eine solche vorliegt wird aber die weitere Frage zu beantworten sein, ob der unstrittige Pflegebedarf zusammen mit dem strittigen Aufwand (Unterstützung bei Verrichtung der Notdurft) insgesamt einen 160 Stunden übersteigenden Pflegeaufwand rechtfertigt. Dann wird das Erstgericht erforderlichenfalls auch Beweise zu den Fragen aufzunehmen und die fehlenden Feststellungen darüber zu treffen haben, ob und in welchem Ausmaß der Kläger bei Verrichtung der kleinen und großen Notdurft Betreuung und Hilfe benötigt.
Der Kostenvorbehalt beruht auf § 52 Abs 1 ZPO.
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