OGH 9Ob59/09f

OGH9Ob59/09f26.8.2009

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Vizepräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Rohrer als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofs Dr. Spenling, Dr. Hradil und Dr. Hopf sowie die Hofrätin des Obersten Gerichtshofs Dr. Glawischnig als weitere Richter in der Pflegschaftssache der mj Sofia G*****, geboren am 5. April 2004, derzeit aufhältig bei der Mutter Mag. Helen K***** R*****, vertreten durch Dr. Helene Klaar Mag. Norbert Marschall Rechtsanwälte OEG, Wien, über den Revisionsrekurs des Vaters Gregorio G*****, vertreten durch Dr. Alexander Lindner, Rechtsanwalt in Wien, gegen den Beschluss des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Wien als Rekursgericht vom 24. März 2009, GZ 42 R 29/09i-33, womit der Beschluss des Bezirksgerichts Innere Stadt Wien vom 26. November 2008, GZ 4 P 129/08p-21, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den Beschluss

gefasst:

 

Spruch:

Der Revisionsrekurs wird zurückgewiesen.

Text

Begründung

Die Eltern der am 5. April 2004 in den USA geborenen mj Sofia, die amerikanische Staatsangehörige ist, schlossen am 19. 9. 2003 in San Diego, Kalifornien, die Ehe. Die Mutter ist Staatsangehörige der USA, der Vater ist mexikanischer Staatsbürger. Beide Eltern sind für die Minderjährige obsorgeberechtigt.

Sie sind ausgebildete Opern- und Musicalsänger und lebten - mit Ausnahme einer kurzen Unterbrechung durch einen Aufenthalt in Osnabrück - in den USA. Sie hatten einen gewöhnlichen Aufenthalt in Los Angeles, Kalifornien, wo der Vater für ca drei Jahre lang ein Engagement hatte. In San Diego hielten sie sich lediglich für einige Wochen zum Zwecke eines Verwandtenbesuchs auf. Zuletzt lebte die Familie bei den Großeltern mütterlicherseits in Pennsylvania. Am 14. 9. 2007 übersiedelten die Eltern mit dem Kind, nachdem sie auch die Wohnung in Kalifornien aufgegeben hatten, nach Wien, wo sie zunächst bis Juni 2008 eine Wohnmöglichkeit im dritten Bezirk hatten. Der Grund für die Übersiedlung war vor allem der auch vom Vater respektierte Wunsch der Mutter, in Europa ein fixes Engagement zu bekommen, um so einerseits dem gemeinsamen Kind eine gewisse Stabilität zu bieten und andererseits, weil sie hoffte, so eine Karriere als Opernsängerin mit ihrer Mutterrolle besser vereinbaren zu können. Der Vater war mit dieser Übersiedlung einverstanden. Nicht festgestellt werden kann, dass über die Bedingungen für eine Rückkehr in die USA konkret gesprochen worden wäre. Insbesondere war auch nicht vereinbart, wohin eine Rückkehr erfolgen hätte sollen. Die Einreise nach Österreich erfolgte zunächst aufgrund eines zunächst für nur 90 Tage gültigen und dann verlängerten Touristenvisums. Bereits kurz nach der Ankunft nahm die Mutter eine Arbeit als „Native Speaker" an einer Schule an, wobei sie diese Beschäftigung in der Folge auf 20 bis 25 Wochenstunden ausdehnen konnte. In der Zeit vom Oktober 2007 bis Februar 2008 hatte die Mutter ein einziges Mal einen Vorsingtermin in Deutschland. Ob es ihr möglich gewesen wäre, trotz der teilweise allein erfolgenden Betreuung der gemeinsamen Tochter und ihrer Beschäftigung an der Schule andere Gelegenheiten zum Vorsingen wahrzunehmen und somit ein Fixengagement in Europa zu bekommen, kann nicht festgestellt werden. Der Vater war zunächst vom 3. 11. bis 13. 12. 2007 in den USA, um dort verschiedene Verträge zu erfüllen. Im Dezember 2007 äußerte er den Wunsch, die Familie solle in die USA zurückkehren, weil er in Wien wegen mangelnder Engagements als Opernsänger und der schlechten finanziellen Situation der Familie keine Zukunft sah. Mit der Mutter, die in Wien bleiben wollte, kam es diesbezüglich zu keiner Einigung. Aufgrund der Differenzen trennten sich die Eltern im Februar 2008.

Der Vater hatte einen Vertrag mit dem Theater an der Wien für Auftritte im Juli 2008 abgeschlossen und mit Hilfe des Theaters für die Zeit vom 19. 6. 2008 bis 18. 6. 2009 eine Beschäftigungsbewilligung als Künstler erhalten. Vom 29. 2. bis 2. 6. 2008 hielt er sich wieder durchgehend in den USA auf. Er verfügt seit seiner Rückkehr über eine eigene Mietwohnung im 9. Bezirk. Im Juli 2008 kam der Vater seinen Verpflichtungen als Sänger im Theater an der Wien nach. Im Dezember 2008 war er beruflich für eine Woche in Amsterdam. Von Jänner bis Anfang Mai 2009 hatte er dort auch ein Engagement. Er hat vor, nach Beendigung seines Amsterdamer Engagements künftig weniger zu reisen und beabsichtigt, überwiegend in Kalifornien zu leben, wo er bei seinem Vater eine Wohnmöglichkeit hätte. Er meint, aufgrund seiner Beziehungen dort leichter Beschäftigungen als Sänger (bei Hochzeiten, Begräbnissen etc) zu finden. Auch erwägt er, mit einer Catering-Tätigkeit zu beginnen. Der Vater hofft, dass die Mutter im Fall eines Auftrags zur Rückführung des Kindes ebenfalls wieder in die USA zurückkehren würde. Die Mutter ist nach wie vor als „Native Speaker" tätig und hat eine Arbeitsbewilligung als Schlüsselkraft. Sie hat die Hoffnung auf eine Karriere als Opernsängerin noch nicht aufgegeben und will deshalb weiterhin mit ihrer Tochter in Wien bleiben, zumal sie hier soziale Stabilität gefunden hat. Die mj Sofia besucht seit der Ankunft in Wien auf Wunsch der Mutter eine private Kindergruppe, die für sie und ihre Mutter darüber hinaus auch ein soziales Netz bietet. Nach Ablauf der Wohnmöglichkeit im dritten Bezirk zog die Mutter in eine Mietwohnung im 15. Bezirk, wo sie nach wie vor mit ihrer Tochter lebt.

Der Vater stellte am 9. 9. 2008 den Antrag auf Rückgabe seiner Tochter nach dem Haager Übereinkommen vom 25. 10. 1980 über die zivilrechtlichen Aspekte internationaler Kindesentführung und brachte dazu im Wesentlichen vor, dass der Aufenthalt in Österreich nur als vorübergehend geplant gewesen sei, nämlich für die Dauer der Suche einer Stelle für die Mutter als Sängerin. Nur wenn sie eine solche gefunden hätte, wäre der vorübergehende Aufenthalt zu einem dauernden geworden. Seit 26. 3. 2008 verweigere die Mutter endgültig eine Rückkehr mit der Tochter in die USA, was als widerrechtliches Zurückhalten der gemeinsamen Tochter iSd Art 3 des HKÜ zu werten sei. Die Mutter sprach sich gegen diesen Antrag aus und wendete ein, seinerzeit mit dem Vater beschlossen zu haben, den Lebensmittelpunkt unbefristet nach Wien zu verlegen, um hier einen zentralen und ständigen Wohnsitz zu haben, der gewöhnliche Aufenthalt sei demnach in Wien. Damit liege kein Zurückhalten an einem anderen Ort als dem des gewöhnlichen Aufenthalts vor.

Das Erstgericht wies den Antrag des Vaters ab. Es ging einerseits von einem bereits gewöhnlichen Aufenthalt des Kindes in Österreich aus. Selbst unter der Annahme, dass die Zustimmung des Vaters zum Wohnortswechsel nicht vorbehaltslos erteilt worden sei, liege im langen Zuwarten vom Umzug bis zur Antragstellung eine stillschweigende Zustimmung zum fortgesetzten Aufenthalt. Das Rekursgericht traf nach einer Beweiswiederholung die eingangs wiedergegebenen Feststellungen. Es vertrat die Rechtsauffassung, dass kein widerrechtliches Zurückhalten durch die Mutter vorliege. Selbst wenn die Zustimmung des Vaters von aufschiebenden oder auflösenden Bedingungen abhängig gewesen sei, könne dies nicht von entscheidender Bedeutung sein. Überdies stützte das Rekursgericht die Abweisung des Antrags auf Art 13 lit b HKÜ. Das Rekursgericht sprach aus, dass der Revisionsrekurs zulässig sei, weil keine Judikatur dazu bestehe, ob und inwiefern sich eine bloß bedingte Zustimmung des anderen Elternteils zu einem gewöhnlichen Aufenthalt eines Kindes in einem anderen Land auf die Anwendbarkeit des HKÜ auswirke. Auch fehle es an der Rechtsprechung zur Frage, ob der entführende bzw zurückhaltende Elternteil im Wege des HKÜ indirekt verpflichtet werden könne, mit dem Kind in den Staat des letzten gewöhnlichen Aufenthalts zurückzukehren, um dessen Gefährdung im Sinn des Art 13 lit b HKÜ zu verhindern.

Gegen diese Entscheidung richtet sich der Revisionsrekurs des Vaters mit einer Rechtsrüge (auch wegen sekundärer Verfahrensmängel) und einer Mängelrüge.

Rechtliche Beurteilung

Entgegen dem den Obersten Gerichtshof nicht bindenden Zulässigkeitsausspruch (§ 71 Abs 1 AußStrG) ist der Revisionsrekurs nicht zulässig, da zu den hier entscheidenden Fragen bereits Rechtsprechung besteht.

Ein Verbringen oder Zurückhalten eines Kindes gilt nach Art 3 HKÜ als widerrechtlich wenn a) dadurch das Sorgerecht verletzt wird, das einer Person, Behörde oder sonstigen Stelle allein oder gemeinsam nach dem Recht des Staates zusteht, in dem das Kind unmittelbar vor dem Verbringen oder Zurückhalten seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte und b) dieses Recht im Zeitpunkt des Verbringens oder Zurückhaltens allein oder gemeinsam tatsächlich ausgeübt wurde oder ausgeübt worden wäre, falls das Verbringen oder Zurückhalten nicht stattgefunden hätte. Sind diese Voraussetzungen gegeben, ist sicherzustellen, dass das Kind in den Staat seines bisherigen gewöhnlichen Aufenthalts zurückkehrt (1 Ob 51/02k; 2 Ob 80/03h ua). Hingegen soll durch die Anwendung des HKÜ eine Sorgerechtsentscheidung nicht vorweggenommen werden (Nademleinsky/Neumayr, IFR Rz 09.01). Ein Kind, das sich an seinem gewöhnlichen Aufenthalt befindet, kann weder dorthin verbracht noch dort im Sinn des Art 3 HKÜ zurückgehalten werden. Der Begriff des gewöhnlichen Aufenthalts im Art 3 HKÜ ist gleich auszulegen wie in den diesen Begriff enthaltenden Bestimmungen der JN und des Haager Minderjährigenschutzübereinkommens (1 Ob 220/02p; 2 Ob 80/03h). Demgemäß kommt es für die Ermittlung des gewöhnlichen Aufenthalts darauf an, ob jemand tatsächlich einen Ort zum Mittelpunkt seines Lebens, seiner wirtschaftlichen Existenz und seiner sozialen Beziehung macht. Der Aufenthalt bestimmt sich ausschließlich nach tatsächlichen Umständen. Die Dauer des Aufenthalts ist für sich allein kein ausschlaggebendes Moment, doch ist im Allgemeinen nach einer Aufenthaltsdauer von 6 Monaten anzunehmen, dass „ein gewöhnlicher Aufenthalt" vorliegt. Ob ein gewöhnlicher Aufenthalt vorliegt, kann aber nur aufgrund der Umstände des Einzelfalls beurteilt werden.

Nach den Feststellungen waren wohl die Karriereambitionen der Mutter das Hauptmotiv für die Übersiedlung nach Wien, doch konnte nicht festgestellt werden, dass der Aufenthalt in Wien auf eine bestimmte Zeit begrenzt sein sollte (insoweit unterscheidet sich der vorliegende Fall von dem zu 5 Ob 17/08y entschiedenen). Die diesbezügliche Rüge eines sekundären Verfahrensmangels ist insoweit verfehlt, als das Rekursgericht weitergehende oder andere Feststellungen ausdrücklich mangels Erweislichkeit nicht treffen konnte.

Ein gewöhnlicher Aufenthalt kann auch gegen den Willen eines Sorgeberechtigten begründet werden, weil es auf den tatsächlichen Daseinsmittelpunkt ankommt (1 Ob 220/02p; 2 Ob 80/03h). Wenngleich Kinder ebenfalls durch eigene Lebensführung einen gewöhnlichen Aufenthalt begründen, kommt doch dem Aufenthalt der Eltern speziell bei Kleinkindern Indizfunktion zu (Nademleinsky/Neumayr IFR Rz 01.39). Nach den Feststellungen kann auch kein Zweifel daran bestehen, dass die Mutter, bei der sich das Kind ständig aufgehalten hat, nicht nur einen vorübergehenden Lebensmittelpunkt gewählt hat und ursprünglich auch der Vater hier seinen Aufenthalt nehmen wollte, jedoch später seine Meinung änderte. Weiters steht fest, dass das Kind auch in einer Kindergruppe integriert ist.

Wohl könnte sich der einer Aufenthaltsnahme entgegenstehende Wille des (anderen) Sorgeberechtigten faktisch dahin auswirken, dass der Aufenthalt des Minderjährigen im anderen Staat noch nicht als auf Dauer ausgelegt angesehen werden kann (1 Ob 220/02p); das Bestehen eines gewöhnlichen Aufenthalts darf jedoch nicht mehr verneint werden, wenn der Aufenthalt über einen längeren Zeitraum gewährt hat und das Kind sozial integriert ist (1 Ob 220/02p mwN). Nach dem eigenen Antragsvorbringen des Vaters lag der Zeitpunkt der endgültigen Weigerung der Mutter, mit dem Kind wieder in die USA zurückkehren zu wollen, bereits ca 6 Monate nach der gemeinsam beschlossenen Übersiedlung nach Wien, sodass die Annahme jedenfalls vertretbar ist, dass damals bereits ein neuer gewöhnlicher Aufenthalt des Kindes gegeben war. Auf die Frage, ob und inwieweit bedingte Zustimmungen zu einem Aufenthaltswechsel dem Entstehen eines gewöhnlichen Aufenthalts entgegenstehen können, kommt es daher konkret genausowenig an, wie darauf, dass zweifelhaft sein muss, ob der Vater seinerseits überhaupt schon einen Aufenthalt in den USA hat, wohin das Kind zurückgebracht werden könnte. Ist somit - nach jedenfalls vertretbarer Auffassung - bereits ein gewöhnlicher Aufenthalt des Kindes im Inland gegeben, kann schon begrifflich ein widerrechtliches Zurückhalten im Sinn des Art 3 HKÜ nicht vorliegen. Auf das vom Rekursgericht überdies angenommene Rückführungshindernis nach Art 13 lit b HKÜ kommt es daher ebenfalls nicht an. Die behauptete Mangelhaftigkeit des Verfahrens zweiter Instanz wurde geprüft, sie liegt nicht vor (§ 71 Abs 3 AußStrG).

Mangels Aufzeigens einer erheblichen Rechtsfrage im Sinn des § 62 Abs 1 AußStrG erweist sich der Revisionsrekurs daher als unzulässig.

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